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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Der Held von Graudenz
von Wilhelm Berg

in 14. Oktober 1806 waren die beiden preußischen Feldarmeen
von Napoleon geschlagen worden, und mit dem fridericianischen
Staate war es zu Ende. Die schmachvolle Übergabe der Festungen,
die Auflösung des Heeres, die klägliche Ohnmacht des Beamten¬
tums, der Stumpfsinn des Volks, die Verzweiflung der Besser¬
denkenden, der ehr- und schamlose Hohn und Abfall des hohen und des niedern
Pöbels, der vor dem empörenden Übermute des Siegers kroch -- das waren
die bittern Eindrücke, die mit fürchterlicher Schnelligkeit aufeinander folgten.
Aber so gewaltige Erschütterungen waren notwendig, den faulen Stoff aus dem
Lebensorganismns des Staatskörpers auszutreiben und für neue, gesunde Säfte
Platz zu schaffen. Freilich war der Tag von Jena und Auerstädt nicht das
Ende der Demütigung, sondern vielmehr ihr Anfang; aber er brachte doch auch
das Gute mit sich, daß die Lüge der erträumten Macht in ihrer Nichtigkeit
offen dalag, daß man erkannte, es sei vorbei mit der prahlerischer Selbst¬
täuschung der Vergangenheit, und daß die Leichtfertigkeit und Liederlichkeit der
Gesinnung am Boden lag oder dem Feinde zugetrieben wurde. Mitten in der
beispiellosen Verwirrung und Auflösung der alten Zustände erwachte die Trieb¬
kraft zum Bessern. Daß der Staat des großen Friedrichs an der Saale zerbarst,
war für Preußen und Deutschland die herbste Prüfung. War die Nation noch
einer Fortdauer wert, so mußte sie es jetzt zeigen. Und sie zeigte es.

Ans den beiden Flügeln der großen Armee, in Pommern, in Westpreußen
und in Schlesien, wurde der Festungskrieg fortgesetzt. Zwar lieferten auch hier
Kopflosigkeit, Verzweiflung, Feigheit und Leichtsinn manche Festungen dem
Feind aus, aber nicht einmal das Elend dieser Zeit der Enttäuschung hat es ver¬
mocht, die Erinnerung an Taten der Aufopferungsfreudigkeit und der Hingebung
an König und Vaterland zu verwischen. Derselbe Glanz, der die Namen
Gneisenau, Schill, Graf Götzen n. a. umleuchtet, wirst auch seinen verklärenden
Schimmer ans den des alten Helden von Graudenz, dessen Lebensbild in den
folgenden Abschnitten gezeichnet werden soll.

Guillaume Neue de l'Homme, Seigneur de Courbiere, stammte aus einer
in der Dauphine, bei Grenoble, einstmals begüterten Adelsfamilie, deren Glieder
größtenteils wegen ihres reformierten Glaubensbekenntnisses infolge der Auf¬
hebung des Edikts von Nantes uach den Niederlanden ausgewandert waren.
Sein Vater, Alexois de l'Homme, starb als Major in niederländischen Diensten.
In Maastricht erblickte der spätere Verteidiger von Graudenz am 23. Februar 1733
das Licht der Welt. Schon im Alter von vierzehn Jahren trat er in dasselbe
Regiment, worin sein Vater stand, in das Regiment von Leyden (früher von


Grenzboten I 1904 55


Der Held von Graudenz
von Wilhelm Berg

in 14. Oktober 1806 waren die beiden preußischen Feldarmeen
von Napoleon geschlagen worden, und mit dem fridericianischen
Staate war es zu Ende. Die schmachvolle Übergabe der Festungen,
die Auflösung des Heeres, die klägliche Ohnmacht des Beamten¬
tums, der Stumpfsinn des Volks, die Verzweiflung der Besser¬
denkenden, der ehr- und schamlose Hohn und Abfall des hohen und des niedern
Pöbels, der vor dem empörenden Übermute des Siegers kroch — das waren
die bittern Eindrücke, die mit fürchterlicher Schnelligkeit aufeinander folgten.
Aber so gewaltige Erschütterungen waren notwendig, den faulen Stoff aus dem
Lebensorganismns des Staatskörpers auszutreiben und für neue, gesunde Säfte
Platz zu schaffen. Freilich war der Tag von Jena und Auerstädt nicht das
Ende der Demütigung, sondern vielmehr ihr Anfang; aber er brachte doch auch
das Gute mit sich, daß die Lüge der erträumten Macht in ihrer Nichtigkeit
offen dalag, daß man erkannte, es sei vorbei mit der prahlerischer Selbst¬
täuschung der Vergangenheit, und daß die Leichtfertigkeit und Liederlichkeit der
Gesinnung am Boden lag oder dem Feinde zugetrieben wurde. Mitten in der
beispiellosen Verwirrung und Auflösung der alten Zustände erwachte die Trieb¬
kraft zum Bessern. Daß der Staat des großen Friedrichs an der Saale zerbarst,
war für Preußen und Deutschland die herbste Prüfung. War die Nation noch
einer Fortdauer wert, so mußte sie es jetzt zeigen. Und sie zeigte es.

Ans den beiden Flügeln der großen Armee, in Pommern, in Westpreußen
und in Schlesien, wurde der Festungskrieg fortgesetzt. Zwar lieferten auch hier
Kopflosigkeit, Verzweiflung, Feigheit und Leichtsinn manche Festungen dem
Feind aus, aber nicht einmal das Elend dieser Zeit der Enttäuschung hat es ver¬
mocht, die Erinnerung an Taten der Aufopferungsfreudigkeit und der Hingebung
an König und Vaterland zu verwischen. Derselbe Glanz, der die Namen
Gneisenau, Schill, Graf Götzen n. a. umleuchtet, wirst auch seinen verklärenden
Schimmer ans den des alten Helden von Graudenz, dessen Lebensbild in den
folgenden Abschnitten gezeichnet werden soll.

Guillaume Neue de l'Homme, Seigneur de Courbiere, stammte aus einer
in der Dauphine, bei Grenoble, einstmals begüterten Adelsfamilie, deren Glieder
größtenteils wegen ihres reformierten Glaubensbekenntnisses infolge der Auf¬
hebung des Edikts von Nantes uach den Niederlanden ausgewandert waren.
Sein Vater, Alexois de l'Homme, starb als Major in niederländischen Diensten.
In Maastricht erblickte der spätere Verteidiger von Graudenz am 23. Februar 1733
das Licht der Welt. Schon im Alter von vierzehn Jahren trat er in dasselbe
Regiment, worin sein Vater stand, in das Regiment von Leyden (früher von


Grenzboten I 1904 55
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[0277] [Abbildung] Der Held von Graudenz von Wilhelm Berg in 14. Oktober 1806 waren die beiden preußischen Feldarmeen von Napoleon geschlagen worden, und mit dem fridericianischen Staate war es zu Ende. Die schmachvolle Übergabe der Festungen, die Auflösung des Heeres, die klägliche Ohnmacht des Beamten¬ tums, der Stumpfsinn des Volks, die Verzweiflung der Besser¬ denkenden, der ehr- und schamlose Hohn und Abfall des hohen und des niedern Pöbels, der vor dem empörenden Übermute des Siegers kroch — das waren die bittern Eindrücke, die mit fürchterlicher Schnelligkeit aufeinander folgten. Aber so gewaltige Erschütterungen waren notwendig, den faulen Stoff aus dem Lebensorganismns des Staatskörpers auszutreiben und für neue, gesunde Säfte Platz zu schaffen. Freilich war der Tag von Jena und Auerstädt nicht das Ende der Demütigung, sondern vielmehr ihr Anfang; aber er brachte doch auch das Gute mit sich, daß die Lüge der erträumten Macht in ihrer Nichtigkeit offen dalag, daß man erkannte, es sei vorbei mit der prahlerischer Selbst¬ täuschung der Vergangenheit, und daß die Leichtfertigkeit und Liederlichkeit der Gesinnung am Boden lag oder dem Feinde zugetrieben wurde. Mitten in der beispiellosen Verwirrung und Auflösung der alten Zustände erwachte die Trieb¬ kraft zum Bessern. Daß der Staat des großen Friedrichs an der Saale zerbarst, war für Preußen und Deutschland die herbste Prüfung. War die Nation noch einer Fortdauer wert, so mußte sie es jetzt zeigen. Und sie zeigte es. Ans den beiden Flügeln der großen Armee, in Pommern, in Westpreußen und in Schlesien, wurde der Festungskrieg fortgesetzt. Zwar lieferten auch hier Kopflosigkeit, Verzweiflung, Feigheit und Leichtsinn manche Festungen dem Feind aus, aber nicht einmal das Elend dieser Zeit der Enttäuschung hat es ver¬ mocht, die Erinnerung an Taten der Aufopferungsfreudigkeit und der Hingebung an König und Vaterland zu verwischen. Derselbe Glanz, der die Namen Gneisenau, Schill, Graf Götzen n. a. umleuchtet, wirst auch seinen verklärenden Schimmer ans den des alten Helden von Graudenz, dessen Lebensbild in den folgenden Abschnitten gezeichnet werden soll. Guillaume Neue de l'Homme, Seigneur de Courbiere, stammte aus einer in der Dauphine, bei Grenoble, einstmals begüterten Adelsfamilie, deren Glieder größtenteils wegen ihres reformierten Glaubensbekenntnisses infolge der Auf¬ hebung des Edikts von Nantes uach den Niederlanden ausgewandert waren. Sein Vater, Alexois de l'Homme, starb als Major in niederländischen Diensten. In Maastricht erblickte der spätere Verteidiger von Graudenz am 23. Februar 1733 das Licht der Welt. Schon im Alter von vierzehn Jahren trat er in dasselbe Regiment, worin sein Vater stand, in das Regiment von Leyden (früher von Grenzboten I 1904 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/277>, abgerufen am 22.07.2024.