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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Kronprinz Friedrich und Ernst (Lurtius
Gelo Aaemmel von

in den merkwürdigsten Zügen der deutschen Geschichte gehört es
doch, daß sich die geistige und die politisch-militärische Ent¬
wicklung so oft auf ganz verschiednen Schauplätzen vollzogen,
ganz verschiedne Brennpunkte gehabt hat. In früher und starker
! zentralisierten Völkern fallen diese zusammen. Paris war von
jeher das politische wie das geistige Zentrum erst Nordfrankreichs, dann ganz
Frankreichs, und in England gilt für London dasselbe; ein Dichter wie
Shakespeare wäre nirgends sonst in England denkbar. Auch Nom ist dem
Ansehen nach immer die Hauptstadt Italiens und oft genug ein geistiges
Zentrum gewesen. Wenn es in Deutschland ganz anders ist, wenn sich hier
lange weder ein großer politischer Mittelpunkt gebildet hat noch ein festes
ständiges Zentrum für die geistige Kultur, so ist das ebensogut das Ergebnis
des unsteten Ganges unsrer Geschichte und unsrer späten politischen Einigung,
wie ein Grund für diese Verzögerung. Vor den erst spät erworbnen Kolonial¬
ländern im Osten behauptete der altdeutsche Westen bis ins sechzehnte Jahr¬
hundert hinein in jeder Beziehung den Vorrang. Das Rheinland im weitesten
Sinne des Worts, Schwaben, Franken und Lothringen, ist mit Niedersachsen und
Thüringen zusammen das mittelalterliche Kaiserland, der Schauplatz der großen
politischen Machtbildungcn und zugleich der reichsten Kulturentwicklung. Von den
Koloniallanden steht ihm nur das schöne Österreich ebenbürtig zur Seite, weil
es schon seit dem neunten und dem zehnten Jahrhundert deutsch geworden war.
Der Nordosten kam nur in der bildenden Kunst dem Westen einigermaßen nahe;
die mittelalterliche Dichtung trieb dort nur spärliche und späte Blüten -- dem
wanderfrohsten der süddeutschen Sänger, Walter von der Vogelweide, erschien
das niedcrlausitzische Kloster Dobrilugk als eine ultima. I^uls, an die er nur
mit Schaudern dachte --, und auch später haben weder die Hansa noch der
deutsche Ordensstaat in Preußen eine ihrer Bedeutung würdige Geschichts¬
schreibung hervorgebracht; dafür hatten diese harten Geschäftsleute und Krieger
weder Zeit, noch Geschick, noch Bedürfnis. Aber in den spätern Jahrhunderten
des Mittelalters zerfiel Westdeutschland politisch, die großen Territorialmächte
entstanden alle im kolonialen Osten, Kultur, Fortschritt und staatliche Ent-


Grcnzboten 1903 IV 1


Kronprinz Friedrich und Ernst (Lurtius
Gelo Aaemmel von

in den merkwürdigsten Zügen der deutschen Geschichte gehört es
doch, daß sich die geistige und die politisch-militärische Ent¬
wicklung so oft auf ganz verschiednen Schauplätzen vollzogen,
ganz verschiedne Brennpunkte gehabt hat. In früher und starker
! zentralisierten Völkern fallen diese zusammen. Paris war von
jeher das politische wie das geistige Zentrum erst Nordfrankreichs, dann ganz
Frankreichs, und in England gilt für London dasselbe; ein Dichter wie
Shakespeare wäre nirgends sonst in England denkbar. Auch Nom ist dem
Ansehen nach immer die Hauptstadt Italiens und oft genug ein geistiges
Zentrum gewesen. Wenn es in Deutschland ganz anders ist, wenn sich hier
lange weder ein großer politischer Mittelpunkt gebildet hat noch ein festes
ständiges Zentrum für die geistige Kultur, so ist das ebensogut das Ergebnis
des unsteten Ganges unsrer Geschichte und unsrer späten politischen Einigung,
wie ein Grund für diese Verzögerung. Vor den erst spät erworbnen Kolonial¬
ländern im Osten behauptete der altdeutsche Westen bis ins sechzehnte Jahr¬
hundert hinein in jeder Beziehung den Vorrang. Das Rheinland im weitesten
Sinne des Worts, Schwaben, Franken und Lothringen, ist mit Niedersachsen und
Thüringen zusammen das mittelalterliche Kaiserland, der Schauplatz der großen
politischen Machtbildungcn und zugleich der reichsten Kulturentwicklung. Von den
Koloniallanden steht ihm nur das schöne Österreich ebenbürtig zur Seite, weil
es schon seit dem neunten und dem zehnten Jahrhundert deutsch geworden war.
Der Nordosten kam nur in der bildenden Kunst dem Westen einigermaßen nahe;
die mittelalterliche Dichtung trieb dort nur spärliche und späte Blüten — dem
wanderfrohsten der süddeutschen Sänger, Walter von der Vogelweide, erschien
das niedcrlausitzische Kloster Dobrilugk als eine ultima. I^uls, an die er nur
mit Schaudern dachte —, und auch später haben weder die Hansa noch der
deutsche Ordensstaat in Preußen eine ihrer Bedeutung würdige Geschichts¬
schreibung hervorgebracht; dafür hatten diese harten Geschäftsleute und Krieger
weder Zeit, noch Geschick, noch Bedürfnis. Aber in den spätern Jahrhunderten
des Mittelalters zerfiel Westdeutschland politisch, die großen Territorialmächte
entstanden alle im kolonialen Osten, Kultur, Fortschritt und staatliche Ent-


Grcnzboten 1903 IV 1
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[0009] [Abbildung] Kronprinz Friedrich und Ernst (Lurtius Gelo Aaemmel von in den merkwürdigsten Zügen der deutschen Geschichte gehört es doch, daß sich die geistige und die politisch-militärische Ent¬ wicklung so oft auf ganz verschiednen Schauplätzen vollzogen, ganz verschiedne Brennpunkte gehabt hat. In früher und starker ! zentralisierten Völkern fallen diese zusammen. Paris war von jeher das politische wie das geistige Zentrum erst Nordfrankreichs, dann ganz Frankreichs, und in England gilt für London dasselbe; ein Dichter wie Shakespeare wäre nirgends sonst in England denkbar. Auch Nom ist dem Ansehen nach immer die Hauptstadt Italiens und oft genug ein geistiges Zentrum gewesen. Wenn es in Deutschland ganz anders ist, wenn sich hier lange weder ein großer politischer Mittelpunkt gebildet hat noch ein festes ständiges Zentrum für die geistige Kultur, so ist das ebensogut das Ergebnis des unsteten Ganges unsrer Geschichte und unsrer späten politischen Einigung, wie ein Grund für diese Verzögerung. Vor den erst spät erworbnen Kolonial¬ ländern im Osten behauptete der altdeutsche Westen bis ins sechzehnte Jahr¬ hundert hinein in jeder Beziehung den Vorrang. Das Rheinland im weitesten Sinne des Worts, Schwaben, Franken und Lothringen, ist mit Niedersachsen und Thüringen zusammen das mittelalterliche Kaiserland, der Schauplatz der großen politischen Machtbildungcn und zugleich der reichsten Kulturentwicklung. Von den Koloniallanden steht ihm nur das schöne Österreich ebenbürtig zur Seite, weil es schon seit dem neunten und dem zehnten Jahrhundert deutsch geworden war. Der Nordosten kam nur in der bildenden Kunst dem Westen einigermaßen nahe; die mittelalterliche Dichtung trieb dort nur spärliche und späte Blüten — dem wanderfrohsten der süddeutschen Sänger, Walter von der Vogelweide, erschien das niedcrlausitzische Kloster Dobrilugk als eine ultima. I^uls, an die er nur mit Schaudern dachte —, und auch später haben weder die Hansa noch der deutsche Ordensstaat in Preußen eine ihrer Bedeutung würdige Geschichts¬ schreibung hervorgebracht; dafür hatten diese harten Geschäftsleute und Krieger weder Zeit, noch Geschick, noch Bedürfnis. Aber in den spätern Jahrhunderten des Mittelalters zerfiel Westdeutschland politisch, die großen Territorialmächte entstanden alle im kolonialen Osten, Kultur, Fortschritt und staatliche Ent- Grcnzboten 1903 IV 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/9>, abgerufen am 01.07.2024.