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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

zusammen, und also wünsche ich euch Glück. Nun aber hinunter zum Vater, ich
bin neugierig, was er angeben wird.

Der Weidhofer war nicht so überrascht, als ich glaubte. Ich habe es längst
kommen sehen, sagte er, und es ist mir anfangs nicht recht gewesen. Nachher habe
ich gesagt: Gegen die Liebe kann man nichts tu", sie läßt sich nicht kaufen und
uicht zwingen. Und heute sage ich: Es ist mir recht, denn wir haben dich seither
lieb gewonnen.

Darauf gab er mir die Hand, und wir waren als Brautleute anerkannt.

In dem frohen Getümmel, das nun unter den Dienstleuten entstand, fand ich
Zeit, mich aufzuraffen und Fassung zu gewinnen. Wir setzten uns zum Frühmahl
nieder, das die Magd bereitet hatte. Der Doktor nahm jedoch nicht daran teil,
sondern erklärte, er müsse nach dem verpfuschten Sonnenaufgang noch ein Stündlein
oder zwei schlummern und werde dann in aller Gemächlichkeit zu Tale wandern.
So saß ich mit Maria und ihrem Vater noch eine kurze Weile zusammen und
hatte die Kraft, mein Weh vor ihnen zu verbergen und das Klirren in meiner
Brust nicht hören zu lassen. Darauf erhob ich mich und erklärte, ich müsse nun
gehn, die Arbeit warte meiner.

Das ist brav, sagte der Weidhofer. Ich muß es loben, wenn einer mitten
in der Freude an seine Pflicht denkt. Auch wir wollen an unser Werk gehn.

Noch einmal trat Maria an mich heran und sah mir liebreich in die Augen:
Heute Abend, Reinhold.

Heute Abend, liebe Maria. Behüte dich Gott, du geliebtes Herz.

Wir schieden. Langsam ging ich den Grashang hinunter. Vor dem Walde
blieb ich noch einmal stehn und schaute zurück. Maria stand noch auf derselben
Stelle und jauchzte nun, da ich mich umwandte, hell auf. Ich wollte ihr ant¬
worten, aber die Stimme versagte. So wehte ich mit dem Hute nach ihr hinüber
und schwenkte ihn, so lauge ich sie noch sah, und bis mir der Schleier, der sich
mir vor die Augen legte, die geliebte Gestalt verhüllte.

Im Walde warf ich mich nieder und war mit meinem Gott allein.

Als ich dann weiter ging, war ich ruhig geworden und wußte, wie ich mich
verhalten wollte. Der Meisterin teilte ich sogleich nach meiner Heimkehr mit, daß
ich mit Maria verlobt wäre, bat sie aber, darüber vorläufig nichts verlauten z"
lassen. Daß sie es erfuhr, gehörte zu dem Plane, den ich mir zurechtgelegt hatte.
Dann setzte ich mich an die Arbeit, und wenn ich die Frau in der Nähe wußte,
pfiff ich mir wohl ein Liedchen, sie durfte nicht merken, daß es mir im Herzen
zum Sterben schwer und müde war. Einmal kam mir der Gedanke: daß ich nicht
bleiben dürfe, sei freilich ausgemacht, aber vielleicht könne ich anderswo von neuem
beginnen und den abgerissenen Faden nochmals anknüpfen. Der Gedanke erlosch
jedoch sogleich in einer Flut vou Abscheu, die sich über meine Seele ergoß, und
um ihm jede Wiederkehr unmöglich zu machen, holte ich die Schriften, die der
Ausweis über meine Person waren, hervor, zerriß sie in Stücke und verbrannte
sie im Herdfeuer. So war die Lüge meines Lebens vernichtet, und ich selbst nur
noch ein Schatten in dieser Welt. Wie hatte das doch geschehn können? Stürmen
und brausen sollte es um mich her, so hatte ich es gewünscht, und ich hatte gelobt,
was auch über mich käme, wenn nur die Lüge, an der mein Leben hing, erhalten
bliebe, mit geduldigen Herzen zu ertragen. Der Sturm war uicht gekommen,
ruhig und sanft hatte sich mein Leben gestaltet, aber in diesem sanften reinen Lichte,
in das ich hineingestellt worden war, und unter dem Scheinen so vieler treuer
Augen, in der Güte und Schönheit und Herzenswärme, von der ich umgeben ge¬
wesen war, mußte ja wohl die Lüge wie ein Eisgebilde im Sonnenlicht schwinden
und allmählich vergehend zu einem Hauch werden, den eine Morgenröte auslöschen
konnte. Da gedachte ich: Der Herr ging vorüber an dem Propheten. Er kam
im Sturm, im Feuer, im Erdbeben, aber Elias erkannte ihn nicht. Aber als er
nun in einem sanften Wesen vorüberging, verhüllte der Prophet sein Haupt.

Um die vierte Nachmittagstunde war ich fertig und kleidete mich auf meinem


Zwei Seelen

zusammen, und also wünsche ich euch Glück. Nun aber hinunter zum Vater, ich
bin neugierig, was er angeben wird.

Der Weidhofer war nicht so überrascht, als ich glaubte. Ich habe es längst
kommen sehen, sagte er, und es ist mir anfangs nicht recht gewesen. Nachher habe
ich gesagt: Gegen die Liebe kann man nichts tu«, sie läßt sich nicht kaufen und
uicht zwingen. Und heute sage ich: Es ist mir recht, denn wir haben dich seither
lieb gewonnen.

Darauf gab er mir die Hand, und wir waren als Brautleute anerkannt.

In dem frohen Getümmel, das nun unter den Dienstleuten entstand, fand ich
Zeit, mich aufzuraffen und Fassung zu gewinnen. Wir setzten uns zum Frühmahl
nieder, das die Magd bereitet hatte. Der Doktor nahm jedoch nicht daran teil,
sondern erklärte, er müsse nach dem verpfuschten Sonnenaufgang noch ein Stündlein
oder zwei schlummern und werde dann in aller Gemächlichkeit zu Tale wandern.
So saß ich mit Maria und ihrem Vater noch eine kurze Weile zusammen und
hatte die Kraft, mein Weh vor ihnen zu verbergen und das Klirren in meiner
Brust nicht hören zu lassen. Darauf erhob ich mich und erklärte, ich müsse nun
gehn, die Arbeit warte meiner.

Das ist brav, sagte der Weidhofer. Ich muß es loben, wenn einer mitten
in der Freude an seine Pflicht denkt. Auch wir wollen an unser Werk gehn.

Noch einmal trat Maria an mich heran und sah mir liebreich in die Augen:
Heute Abend, Reinhold.

Heute Abend, liebe Maria. Behüte dich Gott, du geliebtes Herz.

Wir schieden. Langsam ging ich den Grashang hinunter. Vor dem Walde
blieb ich noch einmal stehn und schaute zurück. Maria stand noch auf derselben
Stelle und jauchzte nun, da ich mich umwandte, hell auf. Ich wollte ihr ant¬
worten, aber die Stimme versagte. So wehte ich mit dem Hute nach ihr hinüber
und schwenkte ihn, so lauge ich sie noch sah, und bis mir der Schleier, der sich
mir vor die Augen legte, die geliebte Gestalt verhüllte.

Im Walde warf ich mich nieder und war mit meinem Gott allein.

Als ich dann weiter ging, war ich ruhig geworden und wußte, wie ich mich
verhalten wollte. Der Meisterin teilte ich sogleich nach meiner Heimkehr mit, daß
ich mit Maria verlobt wäre, bat sie aber, darüber vorläufig nichts verlauten z»
lassen. Daß sie es erfuhr, gehörte zu dem Plane, den ich mir zurechtgelegt hatte.
Dann setzte ich mich an die Arbeit, und wenn ich die Frau in der Nähe wußte,
pfiff ich mir wohl ein Liedchen, sie durfte nicht merken, daß es mir im Herzen
zum Sterben schwer und müde war. Einmal kam mir der Gedanke: daß ich nicht
bleiben dürfe, sei freilich ausgemacht, aber vielleicht könne ich anderswo von neuem
beginnen und den abgerissenen Faden nochmals anknüpfen. Der Gedanke erlosch
jedoch sogleich in einer Flut vou Abscheu, die sich über meine Seele ergoß, und
um ihm jede Wiederkehr unmöglich zu machen, holte ich die Schriften, die der
Ausweis über meine Person waren, hervor, zerriß sie in Stücke und verbrannte
sie im Herdfeuer. So war die Lüge meines Lebens vernichtet, und ich selbst nur
noch ein Schatten in dieser Welt. Wie hatte das doch geschehn können? Stürmen
und brausen sollte es um mich her, so hatte ich es gewünscht, und ich hatte gelobt,
was auch über mich käme, wenn nur die Lüge, an der mein Leben hing, erhalten
bliebe, mit geduldigen Herzen zu ertragen. Der Sturm war uicht gekommen,
ruhig und sanft hatte sich mein Leben gestaltet, aber in diesem sanften reinen Lichte,
in das ich hineingestellt worden war, und unter dem Scheinen so vieler treuer
Augen, in der Güte und Schönheit und Herzenswärme, von der ich umgeben ge¬
wesen war, mußte ja wohl die Lüge wie ein Eisgebilde im Sonnenlicht schwinden
und allmählich vergehend zu einem Hauch werden, den eine Morgenröte auslöschen
konnte. Da gedachte ich: Der Herr ging vorüber an dem Propheten. Er kam
im Sturm, im Feuer, im Erdbeben, aber Elias erkannte ihn nicht. Aber als er
nun in einem sanften Wesen vorüberging, verhüllte der Prophet sein Haupt.

Um die vierte Nachmittagstunde war ich fertig und kleidete mich auf meinem


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[0876] Zwei Seelen zusammen, und also wünsche ich euch Glück. Nun aber hinunter zum Vater, ich bin neugierig, was er angeben wird. Der Weidhofer war nicht so überrascht, als ich glaubte. Ich habe es längst kommen sehen, sagte er, und es ist mir anfangs nicht recht gewesen. Nachher habe ich gesagt: Gegen die Liebe kann man nichts tu«, sie läßt sich nicht kaufen und uicht zwingen. Und heute sage ich: Es ist mir recht, denn wir haben dich seither lieb gewonnen. Darauf gab er mir die Hand, und wir waren als Brautleute anerkannt. In dem frohen Getümmel, das nun unter den Dienstleuten entstand, fand ich Zeit, mich aufzuraffen und Fassung zu gewinnen. Wir setzten uns zum Frühmahl nieder, das die Magd bereitet hatte. Der Doktor nahm jedoch nicht daran teil, sondern erklärte, er müsse nach dem verpfuschten Sonnenaufgang noch ein Stündlein oder zwei schlummern und werde dann in aller Gemächlichkeit zu Tale wandern. So saß ich mit Maria und ihrem Vater noch eine kurze Weile zusammen und hatte die Kraft, mein Weh vor ihnen zu verbergen und das Klirren in meiner Brust nicht hören zu lassen. Darauf erhob ich mich und erklärte, ich müsse nun gehn, die Arbeit warte meiner. Das ist brav, sagte der Weidhofer. Ich muß es loben, wenn einer mitten in der Freude an seine Pflicht denkt. Auch wir wollen an unser Werk gehn. Noch einmal trat Maria an mich heran und sah mir liebreich in die Augen: Heute Abend, Reinhold. Heute Abend, liebe Maria. Behüte dich Gott, du geliebtes Herz. Wir schieden. Langsam ging ich den Grashang hinunter. Vor dem Walde blieb ich noch einmal stehn und schaute zurück. Maria stand noch auf derselben Stelle und jauchzte nun, da ich mich umwandte, hell auf. Ich wollte ihr ant¬ worten, aber die Stimme versagte. So wehte ich mit dem Hute nach ihr hinüber und schwenkte ihn, so lauge ich sie noch sah, und bis mir der Schleier, der sich mir vor die Augen legte, die geliebte Gestalt verhüllte. Im Walde warf ich mich nieder und war mit meinem Gott allein. Als ich dann weiter ging, war ich ruhig geworden und wußte, wie ich mich verhalten wollte. Der Meisterin teilte ich sogleich nach meiner Heimkehr mit, daß ich mit Maria verlobt wäre, bat sie aber, darüber vorläufig nichts verlauten z» lassen. Daß sie es erfuhr, gehörte zu dem Plane, den ich mir zurechtgelegt hatte. Dann setzte ich mich an die Arbeit, und wenn ich die Frau in der Nähe wußte, pfiff ich mir wohl ein Liedchen, sie durfte nicht merken, daß es mir im Herzen zum Sterben schwer und müde war. Einmal kam mir der Gedanke: daß ich nicht bleiben dürfe, sei freilich ausgemacht, aber vielleicht könne ich anderswo von neuem beginnen und den abgerissenen Faden nochmals anknüpfen. Der Gedanke erlosch jedoch sogleich in einer Flut vou Abscheu, die sich über meine Seele ergoß, und um ihm jede Wiederkehr unmöglich zu machen, holte ich die Schriften, die der Ausweis über meine Person waren, hervor, zerriß sie in Stücke und verbrannte sie im Herdfeuer. So war die Lüge meines Lebens vernichtet, und ich selbst nur noch ein Schatten in dieser Welt. Wie hatte das doch geschehn können? Stürmen und brausen sollte es um mich her, so hatte ich es gewünscht, und ich hatte gelobt, was auch über mich käme, wenn nur die Lüge, an der mein Leben hing, erhalten bliebe, mit geduldigen Herzen zu ertragen. Der Sturm war uicht gekommen, ruhig und sanft hatte sich mein Leben gestaltet, aber in diesem sanften reinen Lichte, in das ich hineingestellt worden war, und unter dem Scheinen so vieler treuer Augen, in der Güte und Schönheit und Herzenswärme, von der ich umgeben ge¬ wesen war, mußte ja wohl die Lüge wie ein Eisgebilde im Sonnenlicht schwinden und allmählich vergehend zu einem Hauch werden, den eine Morgenröte auslöschen konnte. Da gedachte ich: Der Herr ging vorüber an dem Propheten. Er kam im Sturm, im Feuer, im Erdbeben, aber Elias erkannte ihn nicht. Aber als er nun in einem sanften Wesen vorüberging, verhüllte der Prophet sein Haupt. Um die vierte Nachmittagstunde war ich fertig und kleidete mich auf meinem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/876>, abgerufen am 22.07.2024.