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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

armen Damen früh, ohne sich vorher im Spiegel betrachtet zu haben, in solchem
Fastnachtaufputz in der Kapelle erschienen, war natürlich die allseitige Entrüstung
groß, und Frau von Genlis hatte ihre Absicht erreicht.

Die auf dem Gute ihrer Schwiegereltern versammelten Gäste hatten sie als
"Pariserin" aufgezogen, weil sie, um im Park spazieren zu gehn, gestickte weiße
Atlasschuhe angezogen hatte. Um ihnen zu beweisen, daß sie uuverfeinert sei wie
ein Hurone, holte sie aus dem Bassin, vor dein man gerade stand, mit der Hand
einen Goldfisch heraus und verschluckte ihn lebendig. Das hätte jedem wilden Mann
in einer Tierbude Ehre gemacht.

Über Rom, wohin sie im Gefolge der Herzogin von Orleans, der Mutter des
später" Königs Louis Philippe, gereist war, enthalten ihre Niederschriften nur
folgende Zeilen: Ich badete sehr häufig in Rom, und stets gegen Abend. Sowie
ich im Bade war, ließ ich den Kardinal Bernis verständigen, der gleich mit seinem
Neffen kam und drei Viertelstunden mit mir plauderte. Man weiß nicht, ob man mehr
die Unverfrorenheit des Kardinals oder die der Prinzenerzieherin bewundern soll.

Die Verfasserin des Galanten Jahrhunderts teilt uns ferner mit, daß Barbey
dÄurövilly Frau von Genlis wie folgt charakterisiert habe: In der Jugend läppisch,
im Alter eine Klatschbase. Die beiden Goncourts haben ihr mit Rücksicht auf ihre
moralischen Abhandlungen den Beinamen der "Fee der Pedanterie" gegeben, und
Lamartine, dem in seiner Geschichte der Girondisten die Ernennung der Genlis
zur Erzieherin der orleansscheu Prinzen als Heuchelei des Herzogs verdächtig er¬
scheint, sagt, es habe nie eine Frau besser verstanden, Sittenstrenges?) mit Intri¬
gantentum zu vereinen. _______

Anmerkung zu dem Artikel: Luther vor dem Ina.uisitor trÄgrstivÄe
pravIis-tiL. In der Kreuzzeitung (Ur. 569 bis 573) liefert R. Seeberg eine
sehr gute, wirklich unparteiische Kritik von Denifles Buch. Er Prüft auch einige
der Lntherzitate des Dominikaners und weist nach, daß dieser den Reformator das
Gegenteil von dem sagen läßt, was er hat sagen wollen. Seeberg beschuldigt aber
Denifle nicht, wie dieser in jedem ähnlichen Falle mit Luther tut, der Fälschung,
sondern nennt das nur allzu temperamentvolle Polemik. Daß es eine unglaubliche
Torheit ist, sich einen Manu von der weltgeschichtlichen Größe Luthers als Lumpen
vorzustellen, hebt auch Seeberg gebührend hervor.




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig -- Druck von Karl Marquart in Leipzig


Maßgebliches und Unmaßgebliches

armen Damen früh, ohne sich vorher im Spiegel betrachtet zu haben, in solchem
Fastnachtaufputz in der Kapelle erschienen, war natürlich die allseitige Entrüstung
groß, und Frau von Genlis hatte ihre Absicht erreicht.

Die auf dem Gute ihrer Schwiegereltern versammelten Gäste hatten sie als
„Pariserin" aufgezogen, weil sie, um im Park spazieren zu gehn, gestickte weiße
Atlasschuhe angezogen hatte. Um ihnen zu beweisen, daß sie uuverfeinert sei wie
ein Hurone, holte sie aus dem Bassin, vor dein man gerade stand, mit der Hand
einen Goldfisch heraus und verschluckte ihn lebendig. Das hätte jedem wilden Mann
in einer Tierbude Ehre gemacht.

Über Rom, wohin sie im Gefolge der Herzogin von Orleans, der Mutter des
später» Königs Louis Philippe, gereist war, enthalten ihre Niederschriften nur
folgende Zeilen: Ich badete sehr häufig in Rom, und stets gegen Abend. Sowie
ich im Bade war, ließ ich den Kardinal Bernis verständigen, der gleich mit seinem
Neffen kam und drei Viertelstunden mit mir plauderte. Man weiß nicht, ob man mehr
die Unverfrorenheit des Kardinals oder die der Prinzenerzieherin bewundern soll.

Die Verfasserin des Galanten Jahrhunderts teilt uns ferner mit, daß Barbey
dÄurövilly Frau von Genlis wie folgt charakterisiert habe: In der Jugend läppisch,
im Alter eine Klatschbase. Die beiden Goncourts haben ihr mit Rücksicht auf ihre
moralischen Abhandlungen den Beinamen der „Fee der Pedanterie" gegeben, und
Lamartine, dem in seiner Geschichte der Girondisten die Ernennung der Genlis
zur Erzieherin der orleansscheu Prinzen als Heuchelei des Herzogs verdächtig er¬
scheint, sagt, es habe nie eine Frau besser verstanden, Sittenstrenges?) mit Intri¬
gantentum zu vereinen. _______

Anmerkung zu dem Artikel: Luther vor dem Ina.uisitor trÄgrstivÄe
pravIis-tiL. In der Kreuzzeitung (Ur. 569 bis 573) liefert R. Seeberg eine
sehr gute, wirklich unparteiische Kritik von Denifles Buch. Er Prüft auch einige
der Lntherzitate des Dominikaners und weist nach, daß dieser den Reformator das
Gegenteil von dem sagen läßt, was er hat sagen wollen. Seeberg beschuldigt aber
Denifle nicht, wie dieser in jedem ähnlichen Falle mit Luther tut, der Fälschung,
sondern nennt das nur allzu temperamentvolle Polemik. Daß es eine unglaubliche
Torheit ist, sich einen Manu von der weltgeschichtlichen Größe Luthers als Lumpen
vorzustellen, hebt auch Seeberg gebührend hervor.




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig


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[0828] Maßgebliches und Unmaßgebliches armen Damen früh, ohne sich vorher im Spiegel betrachtet zu haben, in solchem Fastnachtaufputz in der Kapelle erschienen, war natürlich die allseitige Entrüstung groß, und Frau von Genlis hatte ihre Absicht erreicht. Die auf dem Gute ihrer Schwiegereltern versammelten Gäste hatten sie als „Pariserin" aufgezogen, weil sie, um im Park spazieren zu gehn, gestickte weiße Atlasschuhe angezogen hatte. Um ihnen zu beweisen, daß sie uuverfeinert sei wie ein Hurone, holte sie aus dem Bassin, vor dein man gerade stand, mit der Hand einen Goldfisch heraus und verschluckte ihn lebendig. Das hätte jedem wilden Mann in einer Tierbude Ehre gemacht. Über Rom, wohin sie im Gefolge der Herzogin von Orleans, der Mutter des später» Königs Louis Philippe, gereist war, enthalten ihre Niederschriften nur folgende Zeilen: Ich badete sehr häufig in Rom, und stets gegen Abend. Sowie ich im Bade war, ließ ich den Kardinal Bernis verständigen, der gleich mit seinem Neffen kam und drei Viertelstunden mit mir plauderte. Man weiß nicht, ob man mehr die Unverfrorenheit des Kardinals oder die der Prinzenerzieherin bewundern soll. Die Verfasserin des Galanten Jahrhunderts teilt uns ferner mit, daß Barbey dÄurövilly Frau von Genlis wie folgt charakterisiert habe: In der Jugend läppisch, im Alter eine Klatschbase. Die beiden Goncourts haben ihr mit Rücksicht auf ihre moralischen Abhandlungen den Beinamen der „Fee der Pedanterie" gegeben, und Lamartine, dem in seiner Geschichte der Girondisten die Ernennung der Genlis zur Erzieherin der orleansscheu Prinzen als Heuchelei des Herzogs verdächtig er¬ scheint, sagt, es habe nie eine Frau besser verstanden, Sittenstrenges?) mit Intri¬ gantentum zu vereinen. _______ Anmerkung zu dem Artikel: Luther vor dem Ina.uisitor trÄgrstivÄe pravIis-tiL. In der Kreuzzeitung (Ur. 569 bis 573) liefert R. Seeberg eine sehr gute, wirklich unparteiische Kritik von Denifles Buch. Er Prüft auch einige der Lntherzitate des Dominikaners und weist nach, daß dieser den Reformator das Gegenteil von dem sagen läßt, was er hat sagen wollen. Seeberg beschuldigt aber Denifle nicht, wie dieser in jedem ähnlichen Falle mit Luther tut, der Fälschung, sondern nennt das nur allzu temperamentvolle Polemik. Daß es eine unglaubliche Torheit ist, sich einen Manu von der weltgeschichtlichen Größe Luthers als Lumpen vorzustellen, hebt auch Seeberg gebührend hervor. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/828>, abgerufen am 22.07.2024.