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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

mit ihnen zusammen gewesen war. Wenn ich von dem Schneiderhnuschen da hinauf
ging, so war es mir, als träte ich aus einem Stübchen in einen Saal und aus
einem engen Tälchen auf eine lichte Höhe. Außer dem Kummer um die unglückliche
Tochter war hier von keiner andern Sorge etwas zu spüren, und das Leben floß
frei und fröhlich dahin. Was mich aber besonders anzog, das war der vornehme
Sinn, das freie und reine Gefühl und die köstliche Ruhe, die ich bei ihnen fand.
Das Tagewerk war ans dem Weidhof wie überall, ja es wurde da wohl am meisten
und am mühsamsten geschafft, und jeder mußte zugreifen. Der Weidhofer war selber
sein bester Knecht, auch Maria mußte mit den angenommenen Leuten in Reih und
Glied arbeiten, und nur die Mutter, die mit einer treuen Magd die häuslichen Dinge
besorgte, durfte sich schonen. Aber wie verstand man es auch, nach der heißen Tages-
arbeit zu ruhen und den Abendfrieden zu genießen. Es hat gewiß zu der festlichen
Stimmung, in der ich jedesmal war, wenn ich auf dem Weidhvfe war, nicht wenig
beigetragen, daß ich immer erst zu thuen hinauf kam, wenn eine goldne Abend-
dämmerung über dem Tale lag, und der Feierabend eingeläutet worden war.

Mit dem Weidhofer selbst kam ich bald zurecht; er war eben ein Mann, und
zwar ein schlichter, gutherziger Man, der wenig sprach, noch weniger fragte, den
man aber nie vergeblich und ohne Nutzen um Rat ansprach. Anders erging es
mir mit der Frau. Sie zeigte mir die Freundlichkeit, die die Familie gegen mich
hegte, Wohl am deutlichsten, und sie war mild und sanft, aber ihre Augen schauten
mich fast zu klar und fragend an, sie wollten mehr wissen, als ich sie wissen lassen
durfte. Sie fragte mich nach meinem frühern Leben und zwang mich also vor ihr
zu lügen. Ich mußte meine Eltern totsagen, von meinem Aufenthalt im Waisen¬
haus erzählen und wurde dabei, währeud ich diesen Trug vorbrachte, gewiß rot,
wie ich deun wenigstens im Herzen darüber Scham empfand. Sie sah wohl meine
Verlegenheit, und auch die Hitze, die mir ins Gesicht kam, konnte ihren Augen
nicht entgangen sein, aber gewiß verfiel sie nicht mit einem Gedanken darauf, daß
ich sie aninger könne und eine schlimme Sache mit vorsichtigen Worten zu ver¬
decken habe, sondern da sie erkannte, wie es mich bedrückte, voll diesen Dingen zu
erzählen, errötete sie nun selber und rührte nie wieder an diese Fragen. Seitdem war
ich vor ihr ängstlich auf der Hut, obwohl ich wußte, daß sie nur aus Zartgefühl
schwieg, und gleichwohl gab es keinen Menschen, dem ich so gern mein Herz ausge¬
schüttet hätte, und dessen Vertrauen zu erringen mir so wertvoll gewesen wäre, als
sie, in der ich alles verehrte, was man an einer Mutter schön und lieblich findet.
Und noch eine gab es, ihr im Glänze der Jugend schimmerndes Ebenbild, Maria.
Daß ich auch vor der lügen mußte, das war das schwerste und schmerzlichste.

Wenn wir so im Abendschatten unter den Bäumen saßen, dann rückte Veronika
noch immer ihr Schemelchen an meine Seite. Sie hatte sich jedoch schon nach
kurzer Zeit an mich als eine alltägliche Erscheinung gewöhnt, die also auf ihren
dunkeln Geist keine Wirkung mehr ausübte; vielmehr saß sie meist teilnahmlos
und vergrämt unter uns und wählte ihren Platz wohl mir noch nach einer einmal
angenommenen Gewohnheit und ohne sich etwas dabei zu denken. Ihr Töchterche",
ein pausbäckiges, schwarzäugiges Kind, das eine seltsame tiefe Stimme hatte und
von einer drolligen Ernsthaftigkeit war, spielte dann, ohne daß die Mutter dafür
einen Blick hatte, neben ihr auf der Erde oder spazierte gravitätisch und in lautem
Selbstgespräch mit einem roten Sonnenschirmchen durch die grüne Wiese.

So dazusitzen, von den gewöhnlichen Dingen, die um uns her geschahen, zu
reden, das Vorübergehn und Versinken des Abends lind das Aufblitzen der Himmels¬
lichter über den hohen Bergen zu erleben, uns das Wehen der Abendluft und das
Murmeln des Wassers zu lauschen und dazwischen den Ton der süßen und lieben
Stimme zu vernehmen, die einen so fremden Klang hatte und doch traut war wie
die Sprache einer gemeinsamen Heimat, das war meine Frende und all mein Glück
geworden, und ich glaubte, dieses goldne Abendländer würde mir erhalten bleiben. Erst
als ich merkte, daß ich schon zu sehr mit dem Herzen auf die Stimme hörte, und als
mich Marias Augen schon bis in meine Träume verfolgten, fing ich ein zu fürchten,


Zwei Seelen

mit ihnen zusammen gewesen war. Wenn ich von dem Schneiderhnuschen da hinauf
ging, so war es mir, als träte ich aus einem Stübchen in einen Saal und aus
einem engen Tälchen auf eine lichte Höhe. Außer dem Kummer um die unglückliche
Tochter war hier von keiner andern Sorge etwas zu spüren, und das Leben floß
frei und fröhlich dahin. Was mich aber besonders anzog, das war der vornehme
Sinn, das freie und reine Gefühl und die köstliche Ruhe, die ich bei ihnen fand.
Das Tagewerk war ans dem Weidhof wie überall, ja es wurde da wohl am meisten
und am mühsamsten geschafft, und jeder mußte zugreifen. Der Weidhofer war selber
sein bester Knecht, auch Maria mußte mit den angenommenen Leuten in Reih und
Glied arbeiten, und nur die Mutter, die mit einer treuen Magd die häuslichen Dinge
besorgte, durfte sich schonen. Aber wie verstand man es auch, nach der heißen Tages-
arbeit zu ruhen und den Abendfrieden zu genießen. Es hat gewiß zu der festlichen
Stimmung, in der ich jedesmal war, wenn ich auf dem Weidhvfe war, nicht wenig
beigetragen, daß ich immer erst zu thuen hinauf kam, wenn eine goldne Abend-
dämmerung über dem Tale lag, und der Feierabend eingeläutet worden war.

Mit dem Weidhofer selbst kam ich bald zurecht; er war eben ein Mann, und
zwar ein schlichter, gutherziger Man, der wenig sprach, noch weniger fragte, den
man aber nie vergeblich und ohne Nutzen um Rat ansprach. Anders erging es
mir mit der Frau. Sie zeigte mir die Freundlichkeit, die die Familie gegen mich
hegte, Wohl am deutlichsten, und sie war mild und sanft, aber ihre Augen schauten
mich fast zu klar und fragend an, sie wollten mehr wissen, als ich sie wissen lassen
durfte. Sie fragte mich nach meinem frühern Leben und zwang mich also vor ihr
zu lügen. Ich mußte meine Eltern totsagen, von meinem Aufenthalt im Waisen¬
haus erzählen und wurde dabei, währeud ich diesen Trug vorbrachte, gewiß rot,
wie ich deun wenigstens im Herzen darüber Scham empfand. Sie sah wohl meine
Verlegenheit, und auch die Hitze, die mir ins Gesicht kam, konnte ihren Augen
nicht entgangen sein, aber gewiß verfiel sie nicht mit einem Gedanken darauf, daß
ich sie aninger könne und eine schlimme Sache mit vorsichtigen Worten zu ver¬
decken habe, sondern da sie erkannte, wie es mich bedrückte, voll diesen Dingen zu
erzählen, errötete sie nun selber und rührte nie wieder an diese Fragen. Seitdem war
ich vor ihr ängstlich auf der Hut, obwohl ich wußte, daß sie nur aus Zartgefühl
schwieg, und gleichwohl gab es keinen Menschen, dem ich so gern mein Herz ausge¬
schüttet hätte, und dessen Vertrauen zu erringen mir so wertvoll gewesen wäre, als
sie, in der ich alles verehrte, was man an einer Mutter schön und lieblich findet.
Und noch eine gab es, ihr im Glänze der Jugend schimmerndes Ebenbild, Maria.
Daß ich auch vor der lügen mußte, das war das schwerste und schmerzlichste.

Wenn wir so im Abendschatten unter den Bäumen saßen, dann rückte Veronika
noch immer ihr Schemelchen an meine Seite. Sie hatte sich jedoch schon nach
kurzer Zeit an mich als eine alltägliche Erscheinung gewöhnt, die also auf ihren
dunkeln Geist keine Wirkung mehr ausübte; vielmehr saß sie meist teilnahmlos
und vergrämt unter uns und wählte ihren Platz wohl mir noch nach einer einmal
angenommenen Gewohnheit und ohne sich etwas dabei zu denken. Ihr Töchterche»,
ein pausbäckiges, schwarzäugiges Kind, das eine seltsame tiefe Stimme hatte und
von einer drolligen Ernsthaftigkeit war, spielte dann, ohne daß die Mutter dafür
einen Blick hatte, neben ihr auf der Erde oder spazierte gravitätisch und in lautem
Selbstgespräch mit einem roten Sonnenschirmchen durch die grüne Wiese.

So dazusitzen, von den gewöhnlichen Dingen, die um uns her geschahen, zu
reden, das Vorübergehn und Versinken des Abends lind das Aufblitzen der Himmels¬
lichter über den hohen Bergen zu erleben, uns das Wehen der Abendluft und das
Murmeln des Wassers zu lauschen und dazwischen den Ton der süßen und lieben
Stimme zu vernehmen, die einen so fremden Klang hatte und doch traut war wie
die Sprache einer gemeinsamen Heimat, das war meine Frende und all mein Glück
geworden, und ich glaubte, dieses goldne Abendländer würde mir erhalten bleiben. Erst
als ich merkte, daß ich schon zu sehr mit dem Herzen auf die Stimme hörte, und als
mich Marias Augen schon bis in meine Träume verfolgten, fing ich ein zu fürchten,


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[0740] Zwei Seelen mit ihnen zusammen gewesen war. Wenn ich von dem Schneiderhnuschen da hinauf ging, so war es mir, als träte ich aus einem Stübchen in einen Saal und aus einem engen Tälchen auf eine lichte Höhe. Außer dem Kummer um die unglückliche Tochter war hier von keiner andern Sorge etwas zu spüren, und das Leben floß frei und fröhlich dahin. Was mich aber besonders anzog, das war der vornehme Sinn, das freie und reine Gefühl und die köstliche Ruhe, die ich bei ihnen fand. Das Tagewerk war ans dem Weidhof wie überall, ja es wurde da wohl am meisten und am mühsamsten geschafft, und jeder mußte zugreifen. Der Weidhofer war selber sein bester Knecht, auch Maria mußte mit den angenommenen Leuten in Reih und Glied arbeiten, und nur die Mutter, die mit einer treuen Magd die häuslichen Dinge besorgte, durfte sich schonen. Aber wie verstand man es auch, nach der heißen Tages- arbeit zu ruhen und den Abendfrieden zu genießen. Es hat gewiß zu der festlichen Stimmung, in der ich jedesmal war, wenn ich auf dem Weidhvfe war, nicht wenig beigetragen, daß ich immer erst zu thuen hinauf kam, wenn eine goldne Abend- dämmerung über dem Tale lag, und der Feierabend eingeläutet worden war. Mit dem Weidhofer selbst kam ich bald zurecht; er war eben ein Mann, und zwar ein schlichter, gutherziger Man, der wenig sprach, noch weniger fragte, den man aber nie vergeblich und ohne Nutzen um Rat ansprach. Anders erging es mir mit der Frau. Sie zeigte mir die Freundlichkeit, die die Familie gegen mich hegte, Wohl am deutlichsten, und sie war mild und sanft, aber ihre Augen schauten mich fast zu klar und fragend an, sie wollten mehr wissen, als ich sie wissen lassen durfte. Sie fragte mich nach meinem frühern Leben und zwang mich also vor ihr zu lügen. Ich mußte meine Eltern totsagen, von meinem Aufenthalt im Waisen¬ haus erzählen und wurde dabei, währeud ich diesen Trug vorbrachte, gewiß rot, wie ich deun wenigstens im Herzen darüber Scham empfand. Sie sah wohl meine Verlegenheit, und auch die Hitze, die mir ins Gesicht kam, konnte ihren Augen nicht entgangen sein, aber gewiß verfiel sie nicht mit einem Gedanken darauf, daß ich sie aninger könne und eine schlimme Sache mit vorsichtigen Worten zu ver¬ decken habe, sondern da sie erkannte, wie es mich bedrückte, voll diesen Dingen zu erzählen, errötete sie nun selber und rührte nie wieder an diese Fragen. Seitdem war ich vor ihr ängstlich auf der Hut, obwohl ich wußte, daß sie nur aus Zartgefühl schwieg, und gleichwohl gab es keinen Menschen, dem ich so gern mein Herz ausge¬ schüttet hätte, und dessen Vertrauen zu erringen mir so wertvoll gewesen wäre, als sie, in der ich alles verehrte, was man an einer Mutter schön und lieblich findet. Und noch eine gab es, ihr im Glänze der Jugend schimmerndes Ebenbild, Maria. Daß ich auch vor der lügen mußte, das war das schwerste und schmerzlichste. Wenn wir so im Abendschatten unter den Bäumen saßen, dann rückte Veronika noch immer ihr Schemelchen an meine Seite. Sie hatte sich jedoch schon nach kurzer Zeit an mich als eine alltägliche Erscheinung gewöhnt, die also auf ihren dunkeln Geist keine Wirkung mehr ausübte; vielmehr saß sie meist teilnahmlos und vergrämt unter uns und wählte ihren Platz wohl mir noch nach einer einmal angenommenen Gewohnheit und ohne sich etwas dabei zu denken. Ihr Töchterche», ein pausbäckiges, schwarzäugiges Kind, das eine seltsame tiefe Stimme hatte und von einer drolligen Ernsthaftigkeit war, spielte dann, ohne daß die Mutter dafür einen Blick hatte, neben ihr auf der Erde oder spazierte gravitätisch und in lautem Selbstgespräch mit einem roten Sonnenschirmchen durch die grüne Wiese. So dazusitzen, von den gewöhnlichen Dingen, die um uns her geschahen, zu reden, das Vorübergehn und Versinken des Abends lind das Aufblitzen der Himmels¬ lichter über den hohen Bergen zu erleben, uns das Wehen der Abendluft und das Murmeln des Wassers zu lauschen und dazwischen den Ton der süßen und lieben Stimme zu vernehmen, die einen so fremden Klang hatte und doch traut war wie die Sprache einer gemeinsamen Heimat, das war meine Frende und all mein Glück geworden, und ich glaubte, dieses goldne Abendländer würde mir erhalten bleiben. Erst als ich merkte, daß ich schon zu sehr mit dem Herzen auf die Stimme hörte, und als mich Marias Augen schon bis in meine Träume verfolgten, fing ich ein zu fürchten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/740>, abgerufen am 22.07.2024.