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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Bismarcks zwischen dem Kaiser und seinem Volke stehe, und daß der Mvncirch in¬
folge dessen im Auslande viel mehr Anerkennung finde und gerechter beurteilt
werde als in Deutschland. Heute, fünf Jahre nach Bismarcks Tode, trifft das
nicht mehr zu. Der große Kanzler gehört den vornehmsten Ruhmesblättern unsrer
Geschichte, nicht mehr den innern Gegensätzen seiner Nachwelt an. Was "zwischen
dem Kaiser und seinem Volke steht," wenn diese Formel überhaupt zutreffend an¬
wendbar ist, ist teils eine natürliche Folge seines starken persönlichen Hervortretens
auf so vielen Gebieten des öffentlichen Lebens, teils eine unvermeidliche Folge des
Unbehagens gegenüber einer unser ganzes politisches und wirtschaftliches Leben um¬
fassenden und tief berührenden Übergangszeit. Zu allen Zeiten der Geschichte und
bei allen gesitteten Völkern haben Monarchen, die mit ihrer ganzen Persönlichkeit
stark in den Vordergrund getreten siud, auch starken persönlichen Widerspruch er¬
fahren, der sich eben nur gegen sie selbst richten konnte. Je stärker und je häufiger
dieses Hervortreten, desto stärker auch der Widerspruch, und desto näher liegend
auch die Wahrscheinlichkeit, daß er sich zu Unmut verdichtet, zumal die Öffent¬
lichkeit immer nur die Wirkungen, seltener die Ursachen und die Zusammenhänge
sieht. Geselle" sich dazu tiefgreifende wirtschaftliche Gegensätze, wie dies seit dem
Regierungsantritt des Kaisers infolge der jetzt zum zweitenmal wiederkehrenden
Zolltarifs- und Handelsvertragsfragen, verbunden mit der Kanalfrage und andern
Dingen, fast ohne Unterbrechung der Fall gewesen ist, gesellen sich dazu Ver¬
stimmungen aller Art, die durch die sozialpolitische Gesetzgebung und ihre Über¬
treibungen hervorgerufen worden sind -- so liegen hierin Erklärungen genug für
das Vorhandensein und die Beschaffenheit einer Wolke, die gleich dem Mittags¬
gewölk eines schwülen Sommertages an nnserm Horizonte steht, bis ein frischer
Abendwind sie verweht. Diesem langen Sommertag und den von ihm gezeitigten
Ausdünstungen ist die mehr als dreißigjährige Friedeusperiode vergleichbar, die wie
vielem andern Luxus auch dem des Parteihaders, der Kritik, der verflachenden
Äußerlichkeit und der wachsenden politischen Indifferenz nur zu förderlich ist. Kaiser
Wilhelm der Erste hatte zu der Zeit des Tiefstandes seiner Popularität die libe¬
ralen Elemente gegen sich, die konservativen für sich, bis die liberalen nach den
großen Erfolgen von 1866 begriffen, daß sie unmöglich noch länger abseits stehn
konnten, und der Kaiser und Bismarck ihnen goldne Brücken schlugen. Kaiser
Wilhelm dem Zweiten gegenüber bestand oder besteht Verstimmung bei den Konser¬
vativen und dem Teil der Liberalen, zumal der Großindustrie, die eine energische
Bekämpfung der Sozialdemokratie als Hauptaufgabe der Regierung ansehen und
sich dem erobernden Vordringen der "Genossen" gegenüber schutzlos fühlen. Das
alles Hot mit "dem Schatten Bismarcks" höchstens insofern zu tun, als Bismarck
der Sozialdemokratie gegenüber eine wesentlich andre Politik befolgt hatte. Aber
die Konservativen, durch deren Mitschuld das Sozialistcngesetz 1890 gegen Bismarcks
Wunsch und Willen gefallen ist, haben keinen Grund, sich ans ihn zu berufen. Und
gesetzt, er wäre heute, dreizehn Jahre nach 1890, noch im Amte, wer vermag da
mit voller Sicherheit anzugeben, wie heute seine Politik sein würde? Lag nicht
gerade seine Größe und seine Stärke darin, daß er -- soweit nicht Monarchie
und Heer in Betracht kamen -- niemals Priuzipieureiter war, sondern seine Politik
den Bedürfnissen des Landes und der Zeit so wunderbar anzupassen verstand? Dazu
kommt, daß einer alten und durch so großartige Erfolge getragnen Negierung, wie
die Kaiser Wilhelms des Ersten war, andre Wege und Entschlüsse zu Gebote
standen, weil größeres Ansehen, größere Autorität und Erfahrung, als einer jungen
Regierung, für die die Verantwortlichkeit viel schwerer ist, und die auch der Nation
und dem Parlament gegenüber die sachliche Autorität erst erwerben muß, die der
alte Kaiser und Bismarck für sich in Anspruch nehmen konnten. Es gab und gibt
eben in unsrer Politik viele Dinge, die mir Bismarck machen konnte, viele Wege,
die nur er gehn konnte.

Jede Zeit hat andre Aufgaben und andre Methoden für deren Behandlung,
über die Richtigkeit entscheidet schließlich der Erfolg. Die agrarischen Torheiten
hätte Bismarck um allerwenigsten mitgemacht, ihm hätte man nicht einmal die


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Bismarcks zwischen dem Kaiser und seinem Volke stehe, und daß der Mvncirch in¬
folge dessen im Auslande viel mehr Anerkennung finde und gerechter beurteilt
werde als in Deutschland. Heute, fünf Jahre nach Bismarcks Tode, trifft das
nicht mehr zu. Der große Kanzler gehört den vornehmsten Ruhmesblättern unsrer
Geschichte, nicht mehr den innern Gegensätzen seiner Nachwelt an. Was „zwischen
dem Kaiser und seinem Volke steht," wenn diese Formel überhaupt zutreffend an¬
wendbar ist, ist teils eine natürliche Folge seines starken persönlichen Hervortretens
auf so vielen Gebieten des öffentlichen Lebens, teils eine unvermeidliche Folge des
Unbehagens gegenüber einer unser ganzes politisches und wirtschaftliches Leben um¬
fassenden und tief berührenden Übergangszeit. Zu allen Zeiten der Geschichte und
bei allen gesitteten Völkern haben Monarchen, die mit ihrer ganzen Persönlichkeit
stark in den Vordergrund getreten siud, auch starken persönlichen Widerspruch er¬
fahren, der sich eben nur gegen sie selbst richten konnte. Je stärker und je häufiger
dieses Hervortreten, desto stärker auch der Widerspruch, und desto näher liegend
auch die Wahrscheinlichkeit, daß er sich zu Unmut verdichtet, zumal die Öffent¬
lichkeit immer nur die Wirkungen, seltener die Ursachen und die Zusammenhänge
sieht. Geselle» sich dazu tiefgreifende wirtschaftliche Gegensätze, wie dies seit dem
Regierungsantritt des Kaisers infolge der jetzt zum zweitenmal wiederkehrenden
Zolltarifs- und Handelsvertragsfragen, verbunden mit der Kanalfrage und andern
Dingen, fast ohne Unterbrechung der Fall gewesen ist, gesellen sich dazu Ver¬
stimmungen aller Art, die durch die sozialpolitische Gesetzgebung und ihre Über¬
treibungen hervorgerufen worden sind — so liegen hierin Erklärungen genug für
das Vorhandensein und die Beschaffenheit einer Wolke, die gleich dem Mittags¬
gewölk eines schwülen Sommertages an nnserm Horizonte steht, bis ein frischer
Abendwind sie verweht. Diesem langen Sommertag und den von ihm gezeitigten
Ausdünstungen ist die mehr als dreißigjährige Friedeusperiode vergleichbar, die wie
vielem andern Luxus auch dem des Parteihaders, der Kritik, der verflachenden
Äußerlichkeit und der wachsenden politischen Indifferenz nur zu förderlich ist. Kaiser
Wilhelm der Erste hatte zu der Zeit des Tiefstandes seiner Popularität die libe¬
ralen Elemente gegen sich, die konservativen für sich, bis die liberalen nach den
großen Erfolgen von 1866 begriffen, daß sie unmöglich noch länger abseits stehn
konnten, und der Kaiser und Bismarck ihnen goldne Brücken schlugen. Kaiser
Wilhelm dem Zweiten gegenüber bestand oder besteht Verstimmung bei den Konser¬
vativen und dem Teil der Liberalen, zumal der Großindustrie, die eine energische
Bekämpfung der Sozialdemokratie als Hauptaufgabe der Regierung ansehen und
sich dem erobernden Vordringen der „Genossen" gegenüber schutzlos fühlen. Das
alles Hot mit „dem Schatten Bismarcks" höchstens insofern zu tun, als Bismarck
der Sozialdemokratie gegenüber eine wesentlich andre Politik befolgt hatte. Aber
die Konservativen, durch deren Mitschuld das Sozialistcngesetz 1890 gegen Bismarcks
Wunsch und Willen gefallen ist, haben keinen Grund, sich ans ihn zu berufen. Und
gesetzt, er wäre heute, dreizehn Jahre nach 1890, noch im Amte, wer vermag da
mit voller Sicherheit anzugeben, wie heute seine Politik sein würde? Lag nicht
gerade seine Größe und seine Stärke darin, daß er — soweit nicht Monarchie
und Heer in Betracht kamen — niemals Priuzipieureiter war, sondern seine Politik
den Bedürfnissen des Landes und der Zeit so wunderbar anzupassen verstand? Dazu
kommt, daß einer alten und durch so großartige Erfolge getragnen Negierung, wie
die Kaiser Wilhelms des Ersten war, andre Wege und Entschlüsse zu Gebote
standen, weil größeres Ansehen, größere Autorität und Erfahrung, als einer jungen
Regierung, für die die Verantwortlichkeit viel schwerer ist, und die auch der Nation
und dem Parlament gegenüber die sachliche Autorität erst erwerben muß, die der
alte Kaiser und Bismarck für sich in Anspruch nehmen konnten. Es gab und gibt
eben in unsrer Politik viele Dinge, die mir Bismarck machen konnte, viele Wege,
die nur er gehn konnte.

Jede Zeit hat andre Aufgaben und andre Methoden für deren Behandlung,
über die Richtigkeit entscheidet schließlich der Erfolg. Die agrarischen Torheiten
hätte Bismarck um allerwenigsten mitgemacht, ihm hätte man nicht einmal die


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[0538] Maßgebliches und Unmaßgebliches Bismarcks zwischen dem Kaiser und seinem Volke stehe, und daß der Mvncirch in¬ folge dessen im Auslande viel mehr Anerkennung finde und gerechter beurteilt werde als in Deutschland. Heute, fünf Jahre nach Bismarcks Tode, trifft das nicht mehr zu. Der große Kanzler gehört den vornehmsten Ruhmesblättern unsrer Geschichte, nicht mehr den innern Gegensätzen seiner Nachwelt an. Was „zwischen dem Kaiser und seinem Volke steht," wenn diese Formel überhaupt zutreffend an¬ wendbar ist, ist teils eine natürliche Folge seines starken persönlichen Hervortretens auf so vielen Gebieten des öffentlichen Lebens, teils eine unvermeidliche Folge des Unbehagens gegenüber einer unser ganzes politisches und wirtschaftliches Leben um¬ fassenden und tief berührenden Übergangszeit. Zu allen Zeiten der Geschichte und bei allen gesitteten Völkern haben Monarchen, die mit ihrer ganzen Persönlichkeit stark in den Vordergrund getreten siud, auch starken persönlichen Widerspruch er¬ fahren, der sich eben nur gegen sie selbst richten konnte. Je stärker und je häufiger dieses Hervortreten, desto stärker auch der Widerspruch, und desto näher liegend auch die Wahrscheinlichkeit, daß er sich zu Unmut verdichtet, zumal die Öffent¬ lichkeit immer nur die Wirkungen, seltener die Ursachen und die Zusammenhänge sieht. Geselle» sich dazu tiefgreifende wirtschaftliche Gegensätze, wie dies seit dem Regierungsantritt des Kaisers infolge der jetzt zum zweitenmal wiederkehrenden Zolltarifs- und Handelsvertragsfragen, verbunden mit der Kanalfrage und andern Dingen, fast ohne Unterbrechung der Fall gewesen ist, gesellen sich dazu Ver¬ stimmungen aller Art, die durch die sozialpolitische Gesetzgebung und ihre Über¬ treibungen hervorgerufen worden sind — so liegen hierin Erklärungen genug für das Vorhandensein und die Beschaffenheit einer Wolke, die gleich dem Mittags¬ gewölk eines schwülen Sommertages an nnserm Horizonte steht, bis ein frischer Abendwind sie verweht. Diesem langen Sommertag und den von ihm gezeitigten Ausdünstungen ist die mehr als dreißigjährige Friedeusperiode vergleichbar, die wie vielem andern Luxus auch dem des Parteihaders, der Kritik, der verflachenden Äußerlichkeit und der wachsenden politischen Indifferenz nur zu förderlich ist. Kaiser Wilhelm der Erste hatte zu der Zeit des Tiefstandes seiner Popularität die libe¬ ralen Elemente gegen sich, die konservativen für sich, bis die liberalen nach den großen Erfolgen von 1866 begriffen, daß sie unmöglich noch länger abseits stehn konnten, und der Kaiser und Bismarck ihnen goldne Brücken schlugen. Kaiser Wilhelm dem Zweiten gegenüber bestand oder besteht Verstimmung bei den Konser¬ vativen und dem Teil der Liberalen, zumal der Großindustrie, die eine energische Bekämpfung der Sozialdemokratie als Hauptaufgabe der Regierung ansehen und sich dem erobernden Vordringen der „Genossen" gegenüber schutzlos fühlen. Das alles Hot mit „dem Schatten Bismarcks" höchstens insofern zu tun, als Bismarck der Sozialdemokratie gegenüber eine wesentlich andre Politik befolgt hatte. Aber die Konservativen, durch deren Mitschuld das Sozialistcngesetz 1890 gegen Bismarcks Wunsch und Willen gefallen ist, haben keinen Grund, sich ans ihn zu berufen. Und gesetzt, er wäre heute, dreizehn Jahre nach 1890, noch im Amte, wer vermag da mit voller Sicherheit anzugeben, wie heute seine Politik sein würde? Lag nicht gerade seine Größe und seine Stärke darin, daß er — soweit nicht Monarchie und Heer in Betracht kamen — niemals Priuzipieureiter war, sondern seine Politik den Bedürfnissen des Landes und der Zeit so wunderbar anzupassen verstand? Dazu kommt, daß einer alten und durch so großartige Erfolge getragnen Negierung, wie die Kaiser Wilhelms des Ersten war, andre Wege und Entschlüsse zu Gebote standen, weil größeres Ansehen, größere Autorität und Erfahrung, als einer jungen Regierung, für die die Verantwortlichkeit viel schwerer ist, und die auch der Nation und dem Parlament gegenüber die sachliche Autorität erst erwerben muß, die der alte Kaiser und Bismarck für sich in Anspruch nehmen konnten. Es gab und gibt eben in unsrer Politik viele Dinge, die mir Bismarck machen konnte, viele Wege, die nur er gehn konnte. Jede Zeit hat andre Aufgaben und andre Methoden für deren Behandlung, über die Richtigkeit entscheidet schließlich der Erfolg. Die agrarischen Torheiten hätte Bismarck um allerwenigsten mitgemacht, ihm hätte man nicht einmal die

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/538>, abgerufen am 01.07.2024.