ihrer Lage an der Grenze, teils wegen ihrer Entfernung von der Zentrale der Notwendigkeit einer Verstärkung der Machtbefugnisse der Ortsgewalten Rechnung getragen. Es gibt außer dem von Moskau neun Generalgouvernements, nämlich Finnland, Königreich Polen, Südwest- und Nordwestland (Kijeff und Wilna), Kaukasien, Irkutsk, Amur, Turkestan und Steppenland. Das Generalgouvernement ist die Zwischeninstanz zwischen den Ortsbehörden und der Zentralverwaltung, die einen großen Teil ihrer Aufgaben und Rechte gegenüber den ersten an die Hauptverwaltung des Generalgouvernements abgegeben hat. Die General¬ gouverneure vereinigen meistens mit der Zivilgewalt die militärische als Ober¬ befehlshaber der in ihrem Bezirk stehenden Truppen. Abgesehen von Finnland, wo bis zur Ära Bobrikosf eine sehr entwickelte Selbstverwaltung blühte, und die Aufgabe des Generalgouverueurs nur beschränkt, mehr aufsichtführend war, sind namentlich in den neuerworbnen Gebieten die Machtbefugnisse außerordentlich ausgedehnt, fast so selbstherrlich, wie in den Satrapien des alten Perserreiches. In Mittel- und Ostasien, wo die Bevölkerung an die Despotie orientalischer Regierungsformen gewöhnt ist, hat die Verwaltung noch rein militärischen Charakter. Der neugegründeten Statthalterschaft in Ostasien, der die -- offiziell allerdings ungeschriebne -- Aufgabe zuteil geworden sein wird, die Mandschurei endgiltig für Rußland in Besitz zu nehmen, ist sogar die Führung gewisser diplomatischer Verhandlungen mit den Nachbarländern zugeteilt worden. Und im Südwesten erfreut sich der mit dem rötesten Panslawismus liebäugelnde Wauwau Dragomlroff eines offiziellen und inoffiziellen Ansehens, auf das auch der selbstherrschende Zar trotz wahrscheinlich vorhandner innerlicher Anti¬ pathie Rücksicht nehmen muß.
Die Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland ist wesentlich anders als in Westeuropa vor sich gegangen. Hier, wo die Bevölkerung fest mit dem Boden verwuchs, erstrebten alle Stände kämpfend die Wahrung persön¬ licher Rechte und sicherten sie sich durch Ertrotzung und Festhaltung von Ge¬ nossenschaftsprivilegien. Solche Erscheinungen sind dem Zarentum Moskau fremd geblieben. Da forderte das Land zunächst volle Anspannung aller Kräfte des Gesamtvolkes, um das Joch der Tatarenherrschaft abzuschütteln, selbständig zu werden und an die natürlichen Grenzen, d. h. an die Küsten zu gelangen, deren der Handel notwendig bedürfte. Und die Großfürsten und Zaren von Moskau haben es wirklich verstanden, sich alle Kräfte zu diesen Zwecken dienstbar zu machen und Sonderbestrebungen niederzuhalten. Iwans des Vierten über Leichen schreitende Politik unterdrückte die letzten Spuren der Ansprüche des alten Bojarentums und der Geistlichkeit und machte alle Russen vor der Person des Herrschers gleich. Erst daraufhin wurde die Bevölkerung an die Scholle gefesselt, und es wurden zwischen ihren einzelnen Teilen die Standesunterschiede mit ihren Pflichten und Rechten festgelegt. Zugleich suchte man dem unter der Tatarenherrschaft in seiner Entwicklung zurückgebliebnen Lande möglichst schnell die Segnungen der westeuropäischen Kultur zuzuführen und durch Ge¬ währung vorteilhafter Bedingungen Fremde als Staatsdiener und Untertanen heranzuziehen. Bei dieser gewaltsamen Aufnötigung der Fortschritte fremder Kultur konnten Mißgriffe und Übereilungen nicht ausbleiben; Treibhausgewächse gedeihen draußen auf dem Acker uicht recht. Unfertig wie er war, stieß nun der
Verwaltung, Behörden und Stände in Rußland
ihrer Lage an der Grenze, teils wegen ihrer Entfernung von der Zentrale der Notwendigkeit einer Verstärkung der Machtbefugnisse der Ortsgewalten Rechnung getragen. Es gibt außer dem von Moskau neun Generalgouvernements, nämlich Finnland, Königreich Polen, Südwest- und Nordwestland (Kijeff und Wilna), Kaukasien, Irkutsk, Amur, Turkestan und Steppenland. Das Generalgouvernement ist die Zwischeninstanz zwischen den Ortsbehörden und der Zentralverwaltung, die einen großen Teil ihrer Aufgaben und Rechte gegenüber den ersten an die Hauptverwaltung des Generalgouvernements abgegeben hat. Die General¬ gouverneure vereinigen meistens mit der Zivilgewalt die militärische als Ober¬ befehlshaber der in ihrem Bezirk stehenden Truppen. Abgesehen von Finnland, wo bis zur Ära Bobrikosf eine sehr entwickelte Selbstverwaltung blühte, und die Aufgabe des Generalgouverueurs nur beschränkt, mehr aufsichtführend war, sind namentlich in den neuerworbnen Gebieten die Machtbefugnisse außerordentlich ausgedehnt, fast so selbstherrlich, wie in den Satrapien des alten Perserreiches. In Mittel- und Ostasien, wo die Bevölkerung an die Despotie orientalischer Regierungsformen gewöhnt ist, hat die Verwaltung noch rein militärischen Charakter. Der neugegründeten Statthalterschaft in Ostasien, der die — offiziell allerdings ungeschriebne — Aufgabe zuteil geworden sein wird, die Mandschurei endgiltig für Rußland in Besitz zu nehmen, ist sogar die Führung gewisser diplomatischer Verhandlungen mit den Nachbarländern zugeteilt worden. Und im Südwesten erfreut sich der mit dem rötesten Panslawismus liebäugelnde Wauwau Dragomlroff eines offiziellen und inoffiziellen Ansehens, auf das auch der selbstherrschende Zar trotz wahrscheinlich vorhandner innerlicher Anti¬ pathie Rücksicht nehmen muß.
Die Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland ist wesentlich anders als in Westeuropa vor sich gegangen. Hier, wo die Bevölkerung fest mit dem Boden verwuchs, erstrebten alle Stände kämpfend die Wahrung persön¬ licher Rechte und sicherten sie sich durch Ertrotzung und Festhaltung von Ge¬ nossenschaftsprivilegien. Solche Erscheinungen sind dem Zarentum Moskau fremd geblieben. Da forderte das Land zunächst volle Anspannung aller Kräfte des Gesamtvolkes, um das Joch der Tatarenherrschaft abzuschütteln, selbständig zu werden und an die natürlichen Grenzen, d. h. an die Küsten zu gelangen, deren der Handel notwendig bedürfte. Und die Großfürsten und Zaren von Moskau haben es wirklich verstanden, sich alle Kräfte zu diesen Zwecken dienstbar zu machen und Sonderbestrebungen niederzuhalten. Iwans des Vierten über Leichen schreitende Politik unterdrückte die letzten Spuren der Ansprüche des alten Bojarentums und der Geistlichkeit und machte alle Russen vor der Person des Herrschers gleich. Erst daraufhin wurde die Bevölkerung an die Scholle gefesselt, und es wurden zwischen ihren einzelnen Teilen die Standesunterschiede mit ihren Pflichten und Rechten festgelegt. Zugleich suchte man dem unter der Tatarenherrschaft in seiner Entwicklung zurückgebliebnen Lande möglichst schnell die Segnungen der westeuropäischen Kultur zuzuführen und durch Ge¬ währung vorteilhafter Bedingungen Fremde als Staatsdiener und Untertanen heranzuziehen. Bei dieser gewaltsamen Aufnötigung der Fortschritte fremder Kultur konnten Mißgriffe und Übereilungen nicht ausbleiben; Treibhausgewächse gedeihen draußen auf dem Acker uicht recht. Unfertig wie er war, stieß nun der
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[0498]
Verwaltung, Behörden und Stände in Rußland
ihrer Lage an der Grenze, teils wegen ihrer Entfernung von der Zentrale der
Notwendigkeit einer Verstärkung der Machtbefugnisse der Ortsgewalten Rechnung
getragen. Es gibt außer dem von Moskau neun Generalgouvernements, nämlich
Finnland, Königreich Polen, Südwest- und Nordwestland (Kijeff und Wilna),
Kaukasien, Irkutsk, Amur, Turkestan und Steppenland. Das Generalgouvernement
ist die Zwischeninstanz zwischen den Ortsbehörden und der Zentralverwaltung,
die einen großen Teil ihrer Aufgaben und Rechte gegenüber den ersten an die
Hauptverwaltung des Generalgouvernements abgegeben hat. Die General¬
gouverneure vereinigen meistens mit der Zivilgewalt die militärische als Ober¬
befehlshaber der in ihrem Bezirk stehenden Truppen. Abgesehen von Finnland,
wo bis zur Ära Bobrikosf eine sehr entwickelte Selbstverwaltung blühte, und
die Aufgabe des Generalgouverueurs nur beschränkt, mehr aufsichtführend war,
sind namentlich in den neuerworbnen Gebieten die Machtbefugnisse außerordentlich
ausgedehnt, fast so selbstherrlich, wie in den Satrapien des alten Perserreiches.
In Mittel- und Ostasien, wo die Bevölkerung an die Despotie orientalischer
Regierungsformen gewöhnt ist, hat die Verwaltung noch rein militärischen
Charakter. Der neugegründeten Statthalterschaft in Ostasien, der die — offiziell
allerdings ungeschriebne — Aufgabe zuteil geworden sein wird, die Mandschurei
endgiltig für Rußland in Besitz zu nehmen, ist sogar die Führung gewisser
diplomatischer Verhandlungen mit den Nachbarländern zugeteilt worden. Und
im Südwesten erfreut sich der mit dem rötesten Panslawismus liebäugelnde
Wauwau Dragomlroff eines offiziellen und inoffiziellen Ansehens, auf das
auch der selbstherrschende Zar trotz wahrscheinlich vorhandner innerlicher Anti¬
pathie Rücksicht nehmen muß.
Die Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland ist wesentlich
anders als in Westeuropa vor sich gegangen. Hier, wo die Bevölkerung fest
mit dem Boden verwuchs, erstrebten alle Stände kämpfend die Wahrung persön¬
licher Rechte und sicherten sie sich durch Ertrotzung und Festhaltung von Ge¬
nossenschaftsprivilegien. Solche Erscheinungen sind dem Zarentum Moskau
fremd geblieben. Da forderte das Land zunächst volle Anspannung aller Kräfte
des Gesamtvolkes, um das Joch der Tatarenherrschaft abzuschütteln, selbständig
zu werden und an die natürlichen Grenzen, d. h. an die Küsten zu gelangen,
deren der Handel notwendig bedürfte. Und die Großfürsten und Zaren von
Moskau haben es wirklich verstanden, sich alle Kräfte zu diesen Zwecken dienstbar
zu machen und Sonderbestrebungen niederzuhalten. Iwans des Vierten über
Leichen schreitende Politik unterdrückte die letzten Spuren der Ansprüche des
alten Bojarentums und der Geistlichkeit und machte alle Russen vor der Person
des Herrschers gleich. Erst daraufhin wurde die Bevölkerung an die Scholle
gefesselt, und es wurden zwischen ihren einzelnen Teilen die Standesunterschiede
mit ihren Pflichten und Rechten festgelegt. Zugleich suchte man dem unter
der Tatarenherrschaft in seiner Entwicklung zurückgebliebnen Lande möglichst
schnell die Segnungen der westeuropäischen Kultur zuzuführen und durch Ge¬
währung vorteilhafter Bedingungen Fremde als Staatsdiener und Untertanen
heranzuziehen. Bei dieser gewaltsamen Aufnötigung der Fortschritte fremder
Kultur konnten Mißgriffe und Übereilungen nicht ausbleiben; Treibhausgewächse
gedeihen draußen auf dem Acker uicht recht. Unfertig wie er war, stieß nun der
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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/498>, abgerufen am 22.07.2024.
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