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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Aus einer französischen Zeitschrift

Privilegien und Monopole sollen abgeschafft werden, das Eigentum an der
Frucht der eignen Arbeit aber soll heilig sein. Die Organe der Kollektivisten
aber gewähren diesen Zurückgebliebnen Nachsicht; das Volk könne sich eben aus
den Windeln veralteter Anschauungen nicht so rasch herauswickeln, schreibt Herr
Jaures. Im Juli gingen die Kammern in die Ferien, ohne die beiden wich¬
tigsten der Reformen vorzunehmen, die den Wählern 1898 versprochen worden
waren: die progressive Einkommensteuer und die Altersversorgung der Arbeiter.
"Was werden die Abgeordneten zu ihrer Rechtfertigung bei der Neuwahl 1902
sagen?" Nun, auf diese Frage haben mittlerweile die Ereignisse geantwortet.
Die Klosteraufhcbung hat so viel Lärm gemacht, daß man gar nicht dazu
gekommen ist, über soziale und Steuerreformen zu sprechen; man sieht also, wie
dringend notwendig sie gewesen ist -- für das neue Kabinett und die neue
Kammer. Daß das auch für Waldeck-Rousseau der Hanptbeweggrund zur Ein¬
bringung des Gesetzes gewesen sei, wiederholt Charmes. Der Minister wußte,
daß jedes Neformgcsetz seine Mehrheit zertrümmern würde, so blieb ihm nichts
übrig, als den Stier durch Vorhaltung des roten oder vielmehr schwarzen
Tuchs abzulenken. Das Volk aber, dem man statt des Brotes Jesuiten zu
verspeisen gibt, wird sich damit nicht abspeisen lassen, und dann wird guter
Rat teuer sein, denn die Altersversicherung ist ans finanziellen Gründen undurch¬
führbar. Für diesesmal ist es der Geschicklichkeit des Finanzministers gelungen,
die Durchberatung des gefährlichen Gesetzes zu verhindern, aber es gibt doch
einige ehrliche Radikale und überzeugte Sozialisten, die ansaugen, mißtrauisch
zu werden. Angesichts der unheilbaren Finanzlage, heißt es in der zweiten
Oktoberchronik, mußten alle die schönen Dinge, die man den Augen der Arbeiter
vorgegaukelt, und mit denen man die überschwenglichsten Hoffnungen erregt
habe, geradezu Chimären genannt werden. Die schrecklichste aller Ausgaben,
die dem ohnehin an unheilbarem Defizit leidenden Budget drohen, wird gegen
Jahresschluß die Altersversicherung genannt, bei Erwähnung der scharfen Kritik,
die Ribot an der Finanzpolitik der Regierung geübt hatte. Alle Welt weiß, daß
die Franzosen keine Selbstverwaltung haben. Mögen sie sie unter der Herrschaft
der Bureaukratie verlernt, oder mag ihre angeborne Unfähigkeit den Bureau¬
kratismus erzeugt haben, jedenfalls verstärken jetzt die beiden vorhnnduen Übel
einander. Die Regierung läßt alles durch Beamte besorgen, entzieht dadurch
die Tätigkeit der Behörden den indiskreten Blicken der Regierten und befreit
sich so von jeder unbequemen Kontrolle. Dadurch werden aber zugleich die
besten Gesetze unwirksam gemacht, und eine Unmasse Kräfte, die dem Gemein¬
wohl nützen konnten, dazu verurteilt, brach zu liegen. Das fuhrt Georges
Pieve ans in einer "Verlorne Kräfte" überschricbnen Abhandlung. Diese
Faulheit der Bürger mache deu Staat allmächtig. Die Regierung ernte bei
den Wahlen ihre Kandidaten wie reife Früchte, und da die Bürger das Denken
und das Handeln verlernt hätten, so dächten und handelten für sie ein paar
Jakobiner. (Schluß folgt)




Grenzboten IV 1903
Aus einer französischen Zeitschrift

Privilegien und Monopole sollen abgeschafft werden, das Eigentum an der
Frucht der eignen Arbeit aber soll heilig sein. Die Organe der Kollektivisten
aber gewähren diesen Zurückgebliebnen Nachsicht; das Volk könne sich eben aus
den Windeln veralteter Anschauungen nicht so rasch herauswickeln, schreibt Herr
Jaures. Im Juli gingen die Kammern in die Ferien, ohne die beiden wich¬
tigsten der Reformen vorzunehmen, die den Wählern 1898 versprochen worden
waren: die progressive Einkommensteuer und die Altersversorgung der Arbeiter.
„Was werden die Abgeordneten zu ihrer Rechtfertigung bei der Neuwahl 1902
sagen?" Nun, auf diese Frage haben mittlerweile die Ereignisse geantwortet.
Die Klosteraufhcbung hat so viel Lärm gemacht, daß man gar nicht dazu
gekommen ist, über soziale und Steuerreformen zu sprechen; man sieht also, wie
dringend notwendig sie gewesen ist — für das neue Kabinett und die neue
Kammer. Daß das auch für Waldeck-Rousseau der Hanptbeweggrund zur Ein¬
bringung des Gesetzes gewesen sei, wiederholt Charmes. Der Minister wußte,
daß jedes Neformgcsetz seine Mehrheit zertrümmern würde, so blieb ihm nichts
übrig, als den Stier durch Vorhaltung des roten oder vielmehr schwarzen
Tuchs abzulenken. Das Volk aber, dem man statt des Brotes Jesuiten zu
verspeisen gibt, wird sich damit nicht abspeisen lassen, und dann wird guter
Rat teuer sein, denn die Altersversicherung ist ans finanziellen Gründen undurch¬
führbar. Für diesesmal ist es der Geschicklichkeit des Finanzministers gelungen,
die Durchberatung des gefährlichen Gesetzes zu verhindern, aber es gibt doch
einige ehrliche Radikale und überzeugte Sozialisten, die ansaugen, mißtrauisch
zu werden. Angesichts der unheilbaren Finanzlage, heißt es in der zweiten
Oktoberchronik, mußten alle die schönen Dinge, die man den Augen der Arbeiter
vorgegaukelt, und mit denen man die überschwenglichsten Hoffnungen erregt
habe, geradezu Chimären genannt werden. Die schrecklichste aller Ausgaben,
die dem ohnehin an unheilbarem Defizit leidenden Budget drohen, wird gegen
Jahresschluß die Altersversicherung genannt, bei Erwähnung der scharfen Kritik,
die Ribot an der Finanzpolitik der Regierung geübt hatte. Alle Welt weiß, daß
die Franzosen keine Selbstverwaltung haben. Mögen sie sie unter der Herrschaft
der Bureaukratie verlernt, oder mag ihre angeborne Unfähigkeit den Bureau¬
kratismus erzeugt haben, jedenfalls verstärken jetzt die beiden vorhnnduen Übel
einander. Die Regierung läßt alles durch Beamte besorgen, entzieht dadurch
die Tätigkeit der Behörden den indiskreten Blicken der Regierten und befreit
sich so von jeder unbequemen Kontrolle. Dadurch werden aber zugleich die
besten Gesetze unwirksam gemacht, und eine Unmasse Kräfte, die dem Gemein¬
wohl nützen konnten, dazu verurteilt, brach zu liegen. Das fuhrt Georges
Pieve ans in einer „Verlorne Kräfte" überschricbnen Abhandlung. Diese
Faulheit der Bürger mache deu Staat allmächtig. Die Regierung ernte bei
den Wahlen ihre Kandidaten wie reife Früchte, und da die Bürger das Denken
und das Handeln verlernt hätten, so dächten und handelten für sie ein paar
Jakobiner. (Schluß folgt)




Grenzboten IV 1903
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[0043] Aus einer französischen Zeitschrift Privilegien und Monopole sollen abgeschafft werden, das Eigentum an der Frucht der eignen Arbeit aber soll heilig sein. Die Organe der Kollektivisten aber gewähren diesen Zurückgebliebnen Nachsicht; das Volk könne sich eben aus den Windeln veralteter Anschauungen nicht so rasch herauswickeln, schreibt Herr Jaures. Im Juli gingen die Kammern in die Ferien, ohne die beiden wich¬ tigsten der Reformen vorzunehmen, die den Wählern 1898 versprochen worden waren: die progressive Einkommensteuer und die Altersversorgung der Arbeiter. „Was werden die Abgeordneten zu ihrer Rechtfertigung bei der Neuwahl 1902 sagen?" Nun, auf diese Frage haben mittlerweile die Ereignisse geantwortet. Die Klosteraufhcbung hat so viel Lärm gemacht, daß man gar nicht dazu gekommen ist, über soziale und Steuerreformen zu sprechen; man sieht also, wie dringend notwendig sie gewesen ist — für das neue Kabinett und die neue Kammer. Daß das auch für Waldeck-Rousseau der Hanptbeweggrund zur Ein¬ bringung des Gesetzes gewesen sei, wiederholt Charmes. Der Minister wußte, daß jedes Neformgcsetz seine Mehrheit zertrümmern würde, so blieb ihm nichts übrig, als den Stier durch Vorhaltung des roten oder vielmehr schwarzen Tuchs abzulenken. Das Volk aber, dem man statt des Brotes Jesuiten zu verspeisen gibt, wird sich damit nicht abspeisen lassen, und dann wird guter Rat teuer sein, denn die Altersversicherung ist ans finanziellen Gründen undurch¬ führbar. Für diesesmal ist es der Geschicklichkeit des Finanzministers gelungen, die Durchberatung des gefährlichen Gesetzes zu verhindern, aber es gibt doch einige ehrliche Radikale und überzeugte Sozialisten, die ansaugen, mißtrauisch zu werden. Angesichts der unheilbaren Finanzlage, heißt es in der zweiten Oktoberchronik, mußten alle die schönen Dinge, die man den Augen der Arbeiter vorgegaukelt, und mit denen man die überschwenglichsten Hoffnungen erregt habe, geradezu Chimären genannt werden. Die schrecklichste aller Ausgaben, die dem ohnehin an unheilbarem Defizit leidenden Budget drohen, wird gegen Jahresschluß die Altersversicherung genannt, bei Erwähnung der scharfen Kritik, die Ribot an der Finanzpolitik der Regierung geübt hatte. Alle Welt weiß, daß die Franzosen keine Selbstverwaltung haben. Mögen sie sie unter der Herrschaft der Bureaukratie verlernt, oder mag ihre angeborne Unfähigkeit den Bureau¬ kratismus erzeugt haben, jedenfalls verstärken jetzt die beiden vorhnnduen Übel einander. Die Regierung läßt alles durch Beamte besorgen, entzieht dadurch die Tätigkeit der Behörden den indiskreten Blicken der Regierten und befreit sich so von jeder unbequemen Kontrolle. Dadurch werden aber zugleich die besten Gesetze unwirksam gemacht, und eine Unmasse Kräfte, die dem Gemein¬ wohl nützen konnten, dazu verurteilt, brach zu liegen. Das fuhrt Georges Pieve ans in einer „Verlorne Kräfte" überschricbnen Abhandlung. Diese Faulheit der Bürger mache deu Staat allmächtig. Die Regierung ernte bei den Wahlen ihre Kandidaten wie reife Früchte, und da die Bürger das Denken und das Handeln verlernt hätten, so dächten und handelten für sie ein paar Jakobiner. (Schluß folgt) Grenzboten IV 1903

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/43>, abgerufen am 01.07.2024.