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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Leute Berlins wohnen. Irgendwo müssen diese Leute doch ihr Domizil aufschlagen,
und bei einem Wahlrecht, dem der Steuerertrag zugrunde liegt, werden selbstver¬
ständlich hohe Beamte nicht ans der Stufe reicher Bankiers stehn können. Aber
was hier Zufall ist, ist bei dem allgemeinen Stimmrecht Zweck und Plan. Der
bis zum Überdruß wiederholte Hinweis auf die bekannte Äußerung des Fürsten
Bismarck aus dem Jahre 1867 über das preußische Wahlrecht will gar nichts
sagen. Bismarck hatte in den Jahren 1862 bis 1866 mit diesem preußischen
Wahlrecht die schlimmsten Erfahrungen gemacht; es hatte den Staat an den Rand
des Abgrunds geführt. Damals waren die Massen noch gut monarchisch gesinnt
-- ein Sozialdemokrat war noch eine Sehenswürdigkeit --, da konnte Bismarck
sehr wohl einen solchen Ausspruch zugunsten des allgemeinen Wahlrechts tun, dus
er sich obendrein keineswegs als ein geheimes dachte. Zum "geheimen" haben
es später leider die Nationalliberalen gemacht, eine ihrer größten Versündigungen
am Reich.

Durch das allgemeine Stimmrecht wollte Bismarck den Partikularismus brechen,
Deutschland für den nationalen Gedanken erobern; der Preis war ihm eines solchen
Einsatzes wert. Zudem war bekanntlich das allgemeine Stimmrecht in dem Bericht des
preußischen Staatsministeriums vom 16. September 1863 an den König unmittelbar
nach dem Frankfurter Fürstentage als Gegengewicht gegen diesen und gegen die öster¬
reichische Hegemonie proklamiert worden: was man 1863 vor dem Siege ver¬
sprochen hatte, mußte man 1867 nach dem Siege halten. Ferner hätte sich das
preußische, auf den preußischen Steuern beruhende Wahlrecht gar nicht auf die
andern Staaten des Norddeutschen Bundes mit ihrer wesentlich anders gearteten
Steuergesetzgebung übertragen lassen, noch Nieniger wäre das 1876 dem Süden
gegenüber möglich gewesen. Vor allem andern aber war die 1863 öffentlich
gegebne Zusage bindend, die ein Fundament der deutschen Politik der preußischen
Regierung darstellte. Nach seinem Ausspruch von 1867 über das preußische
Wahlrecht ist Bismarck noch 23 Jahre lang Minister gewesen, aber er hat nie
auch nur deu geringsten Versuch gemacht, dieses Wahlrecht zu ändern.
Damit ist der Ausspruch von 1867 als das bezeichnet, was er war: eine Gelegen¬
heitswaffe in einer Phase hochgehenden Kampfes, in der Bismarck bekanntlich auch
nach Petersburg telegraphierte: "Wenn Revolution sein soll, wollen wir sie lieber
machen als erleiden," und mit der Proklamierung der Reichsverfassung von 1849
drohte, falls Preußen von Rußland weitere Schwierigkeiten gemacht werden sollten.
Aber zu eiuer Änderung des preußischen Wahlrechts hat Bismarck tatsächlich nie
die Hand geboten; schwachen Anläufen, die zu der Zeit des Ministers Herrfurth
gemacht worden zu sein scheinen, hat er die Hand sogar versagt. Es ist auch be¬
kannt, daß Bismarck bei verschiednen Anlässen, als der Reichstag zu versagen drohte,
einen Appell an den preußischen Landtag in Aussicht nahm. Hieraus geht gleich-
falls hervor, daß er diesen Landtag als ein Politisches roluZium ansah, von dessen
Zerstörung oder Umgestaltung er innerlich weit entfernt war. Er hat in dem
letzten Teil seiner Amtszeit wie in den letzten Jahren seines Lebens den wachsenden
Erfolgen der Sozialdemokratie mit großer Besorgnis zugesehen, und wenn er ein
Wahlrecht hätte geändert wissen wollen, so wäre es nicht das preußische,
sondern das Reichswahlrecht gewesen. Dieses war ja einer gewissen Modi¬
fikation unterworfen, so lange dus Sozialistcngesetz in Kraft bestand. Mit dessen
Aufhebung war der Sozialdemokratin die Bahn freigegeben, und sie hat nicht ge¬
säumt, sich des Neichswahlrechts mit wachsendem Erfolge zu bemächtigen. Das
Schlagwort "der Reichskanzler und sein Kutscher" ist von Berliner liberalen
Blättern in Kurs gesetzt worden, daß es auf den Reichskanzler Eindruck machen
soll. Für so impressiouabel halten wir den Grafen Bülow nicht. Wohl aber ist
er Humorist genug, sich die seltsame Komik nicht entgehn zu lassen, die darin liegt,
daß 1867 die damalige "Fortschrittspartei" gegen das allgemeine Stimmrecht war,
weil sie davon eine Herabdrückung des preußischen Abgeordnetenhauses zugunsten
des Reichstags befürchtete.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Leute Berlins wohnen. Irgendwo müssen diese Leute doch ihr Domizil aufschlagen,
und bei einem Wahlrecht, dem der Steuerertrag zugrunde liegt, werden selbstver¬
ständlich hohe Beamte nicht ans der Stufe reicher Bankiers stehn können. Aber
was hier Zufall ist, ist bei dem allgemeinen Stimmrecht Zweck und Plan. Der
bis zum Überdruß wiederholte Hinweis auf die bekannte Äußerung des Fürsten
Bismarck aus dem Jahre 1867 über das preußische Wahlrecht will gar nichts
sagen. Bismarck hatte in den Jahren 1862 bis 1866 mit diesem preußischen
Wahlrecht die schlimmsten Erfahrungen gemacht; es hatte den Staat an den Rand
des Abgrunds geführt. Damals waren die Massen noch gut monarchisch gesinnt
— ein Sozialdemokrat war noch eine Sehenswürdigkeit —, da konnte Bismarck
sehr wohl einen solchen Ausspruch zugunsten des allgemeinen Wahlrechts tun, dus
er sich obendrein keineswegs als ein geheimes dachte. Zum „geheimen" haben
es später leider die Nationalliberalen gemacht, eine ihrer größten Versündigungen
am Reich.

Durch das allgemeine Stimmrecht wollte Bismarck den Partikularismus brechen,
Deutschland für den nationalen Gedanken erobern; der Preis war ihm eines solchen
Einsatzes wert. Zudem war bekanntlich das allgemeine Stimmrecht in dem Bericht des
preußischen Staatsministeriums vom 16. September 1863 an den König unmittelbar
nach dem Frankfurter Fürstentage als Gegengewicht gegen diesen und gegen die öster¬
reichische Hegemonie proklamiert worden: was man 1863 vor dem Siege ver¬
sprochen hatte, mußte man 1867 nach dem Siege halten. Ferner hätte sich das
preußische, auf den preußischen Steuern beruhende Wahlrecht gar nicht auf die
andern Staaten des Norddeutschen Bundes mit ihrer wesentlich anders gearteten
Steuergesetzgebung übertragen lassen, noch Nieniger wäre das 1876 dem Süden
gegenüber möglich gewesen. Vor allem andern aber war die 1863 öffentlich
gegebne Zusage bindend, die ein Fundament der deutschen Politik der preußischen
Regierung darstellte. Nach seinem Ausspruch von 1867 über das preußische
Wahlrecht ist Bismarck noch 23 Jahre lang Minister gewesen, aber er hat nie
auch nur deu geringsten Versuch gemacht, dieses Wahlrecht zu ändern.
Damit ist der Ausspruch von 1867 als das bezeichnet, was er war: eine Gelegen¬
heitswaffe in einer Phase hochgehenden Kampfes, in der Bismarck bekanntlich auch
nach Petersburg telegraphierte: „Wenn Revolution sein soll, wollen wir sie lieber
machen als erleiden," und mit der Proklamierung der Reichsverfassung von 1849
drohte, falls Preußen von Rußland weitere Schwierigkeiten gemacht werden sollten.
Aber zu eiuer Änderung des preußischen Wahlrechts hat Bismarck tatsächlich nie
die Hand geboten; schwachen Anläufen, die zu der Zeit des Ministers Herrfurth
gemacht worden zu sein scheinen, hat er die Hand sogar versagt. Es ist auch be¬
kannt, daß Bismarck bei verschiednen Anlässen, als der Reichstag zu versagen drohte,
einen Appell an den preußischen Landtag in Aussicht nahm. Hieraus geht gleich-
falls hervor, daß er diesen Landtag als ein Politisches roluZium ansah, von dessen
Zerstörung oder Umgestaltung er innerlich weit entfernt war. Er hat in dem
letzten Teil seiner Amtszeit wie in den letzten Jahren seines Lebens den wachsenden
Erfolgen der Sozialdemokratie mit großer Besorgnis zugesehen, und wenn er ein
Wahlrecht hätte geändert wissen wollen, so wäre es nicht das preußische,
sondern das Reichswahlrecht gewesen. Dieses war ja einer gewissen Modi¬
fikation unterworfen, so lange dus Sozialistcngesetz in Kraft bestand. Mit dessen
Aufhebung war der Sozialdemokratin die Bahn freigegeben, und sie hat nicht ge¬
säumt, sich des Neichswahlrechts mit wachsendem Erfolge zu bemächtigen. Das
Schlagwort „der Reichskanzler und sein Kutscher" ist von Berliner liberalen
Blättern in Kurs gesetzt worden, daß es auf den Reichskanzler Eindruck machen
soll. Für so impressiouabel halten wir den Grafen Bülow nicht. Wohl aber ist
er Humorist genug, sich die seltsame Komik nicht entgehn zu lassen, die darin liegt,
daß 1867 die damalige „Fortschrittspartei" gegen das allgemeine Stimmrecht war,
weil sie davon eine Herabdrückung des preußischen Abgeordnetenhauses zugunsten
des Reichstags befürchtete.


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[0406] Maßgebliches und Unmaßgebliches Leute Berlins wohnen. Irgendwo müssen diese Leute doch ihr Domizil aufschlagen, und bei einem Wahlrecht, dem der Steuerertrag zugrunde liegt, werden selbstver¬ ständlich hohe Beamte nicht ans der Stufe reicher Bankiers stehn können. Aber was hier Zufall ist, ist bei dem allgemeinen Stimmrecht Zweck und Plan. Der bis zum Überdruß wiederholte Hinweis auf die bekannte Äußerung des Fürsten Bismarck aus dem Jahre 1867 über das preußische Wahlrecht will gar nichts sagen. Bismarck hatte in den Jahren 1862 bis 1866 mit diesem preußischen Wahlrecht die schlimmsten Erfahrungen gemacht; es hatte den Staat an den Rand des Abgrunds geführt. Damals waren die Massen noch gut monarchisch gesinnt — ein Sozialdemokrat war noch eine Sehenswürdigkeit —, da konnte Bismarck sehr wohl einen solchen Ausspruch zugunsten des allgemeinen Wahlrechts tun, dus er sich obendrein keineswegs als ein geheimes dachte. Zum „geheimen" haben es später leider die Nationalliberalen gemacht, eine ihrer größten Versündigungen am Reich. Durch das allgemeine Stimmrecht wollte Bismarck den Partikularismus brechen, Deutschland für den nationalen Gedanken erobern; der Preis war ihm eines solchen Einsatzes wert. Zudem war bekanntlich das allgemeine Stimmrecht in dem Bericht des preußischen Staatsministeriums vom 16. September 1863 an den König unmittelbar nach dem Frankfurter Fürstentage als Gegengewicht gegen diesen und gegen die öster¬ reichische Hegemonie proklamiert worden: was man 1863 vor dem Siege ver¬ sprochen hatte, mußte man 1867 nach dem Siege halten. Ferner hätte sich das preußische, auf den preußischen Steuern beruhende Wahlrecht gar nicht auf die andern Staaten des Norddeutschen Bundes mit ihrer wesentlich anders gearteten Steuergesetzgebung übertragen lassen, noch Nieniger wäre das 1876 dem Süden gegenüber möglich gewesen. Vor allem andern aber war die 1863 öffentlich gegebne Zusage bindend, die ein Fundament der deutschen Politik der preußischen Regierung darstellte. Nach seinem Ausspruch von 1867 über das preußische Wahlrecht ist Bismarck noch 23 Jahre lang Minister gewesen, aber er hat nie auch nur deu geringsten Versuch gemacht, dieses Wahlrecht zu ändern. Damit ist der Ausspruch von 1867 als das bezeichnet, was er war: eine Gelegen¬ heitswaffe in einer Phase hochgehenden Kampfes, in der Bismarck bekanntlich auch nach Petersburg telegraphierte: „Wenn Revolution sein soll, wollen wir sie lieber machen als erleiden," und mit der Proklamierung der Reichsverfassung von 1849 drohte, falls Preußen von Rußland weitere Schwierigkeiten gemacht werden sollten. Aber zu eiuer Änderung des preußischen Wahlrechts hat Bismarck tatsächlich nie die Hand geboten; schwachen Anläufen, die zu der Zeit des Ministers Herrfurth gemacht worden zu sein scheinen, hat er die Hand sogar versagt. Es ist auch be¬ kannt, daß Bismarck bei verschiednen Anlässen, als der Reichstag zu versagen drohte, einen Appell an den preußischen Landtag in Aussicht nahm. Hieraus geht gleich- falls hervor, daß er diesen Landtag als ein Politisches roluZium ansah, von dessen Zerstörung oder Umgestaltung er innerlich weit entfernt war. Er hat in dem letzten Teil seiner Amtszeit wie in den letzten Jahren seines Lebens den wachsenden Erfolgen der Sozialdemokratie mit großer Besorgnis zugesehen, und wenn er ein Wahlrecht hätte geändert wissen wollen, so wäre es nicht das preußische, sondern das Reichswahlrecht gewesen. Dieses war ja einer gewissen Modi¬ fikation unterworfen, so lange dus Sozialistcngesetz in Kraft bestand. Mit dessen Aufhebung war der Sozialdemokratin die Bahn freigegeben, und sie hat nicht ge¬ säumt, sich des Neichswahlrechts mit wachsendem Erfolge zu bemächtigen. Das Schlagwort „der Reichskanzler und sein Kutscher" ist von Berliner liberalen Blättern in Kurs gesetzt worden, daß es auf den Reichskanzler Eindruck machen soll. Für so impressiouabel halten wir den Grafen Bülow nicht. Wohl aber ist er Humorist genug, sich die seltsame Komik nicht entgehn zu lassen, die darin liegt, daß 1867 die damalige „Fortschrittspartei" gegen das allgemeine Stimmrecht war, weil sie davon eine Herabdrückung des preußischen Abgeordnetenhauses zugunsten des Reichstags befürchtete.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/406>, abgerufen am 03.07.2024.