Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.Wesen und Wirkung der gesetzlichen Freiheitsentziehung "juristisch" denkenden Richter gleichgiltig zu sein pflegt, dem Menschenfreunde Wie ich schon bemerkt habe, bewirkt die Einsamkeit der Haft sehr bald, Und nun zum Schluß uoch ein Wort über die Dauer der Untersuchungs¬ Wesen und Wirkung der gesetzlichen Freiheitsentziehung „juristisch" denkenden Richter gleichgiltig zu sein pflegt, dem Menschenfreunde Wie ich schon bemerkt habe, bewirkt die Einsamkeit der Haft sehr bald, Und nun zum Schluß uoch ein Wort über die Dauer der Untersuchungs¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0304" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/242372"/> <fw type="header" place="top"> Wesen und Wirkung der gesetzlichen Freiheitsentziehung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1051" prev="#ID_1050"> „juristisch" denkenden Richter gleichgiltig zu sein pflegt, dem Menschenfreunde<lb/> aber desto schwerer in die Wagschale fällt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1052"> Wie ich schon bemerkt habe, bewirkt die Einsamkeit der Haft sehr bald,<lb/> daß der Gefangne den Sinn für die Wirklichkeit da draußen verliert und<lb/> damit auch das Maß, nach dem sich die Beziehungen von Mensch zu Mensch<lb/> regeln. Wenn sich nun jemand andauernd damit beschäftigt, sich weißzubrennen,<lb/> oder wenigstens seine Tat zu entschuldigen, sich alle möglichen guten oder edeln<lb/> Beweggründe auszudeuten und allerlei Milderungsgrunde zu ersinnen, so fängt<lb/> er zuletzt selbst an, an seine Unschuld zu glauben oder wenigstens sich ein¬<lb/> zubilden, daß nur eine unglückliche Verkettung widriger Unistände ihn zu seiner<lb/> Tat getrieben habe, daß er nur das unglückliche Opfer unentrinnbarer Ver¬<lb/> wicklungen, Neigungen oder Affekte geworden sei, daß er, abgesehen davon,<lb/> eigentlich ein herzlich guter Kerl sei, der keine Strafe verdient habe, sondern<lb/> nur in bessere, glücklichere Verhältnisse versetzt zu werden brauche, daß er sich<lb/> zu einem wahren Juwel von Herzensgüte und Seelenadel auswachsc. Nichts<lb/> ist geeigneter, die Begriffe Schuld und Sühne zu verwischen, ja sie geradezu<lb/> zu ekelhaften Zerrbildern zu machen, als die Untersuchungshaft. Der Richter<lb/> ist kein guter Menschenkenner, der über das bisweilen anmaßende und phari¬<lb/> säische Gebaren eines offenbar schuldigen Untersuchungsgefangnen erstaunt<lb/> ist; die Lüge und die Selbstberäucherung gedeihen am besten in der Unter-<lb/> suchungszelle.</p><lb/> <p xml:id="ID_1053" next="#ID_1054"> Und nun zum Schluß uoch ein Wort über die Dauer der Untersuchungs¬<lb/> haft! Eine Maximaldaner ist gesetzlich nicht festgelegt; der Paragraph 126 der<lb/> Strafprozeßordnung bestimmt nur, daß im Falle einer ohne richterliche Vor¬<lb/> untersuchung verhängten Untersuchungshaft die öffentliche Klage innerhalb vier<lb/> Wochen nach Vollstreckung des Haftbefehls erhoben werden müsse. Da nun<lb/> die Staatsanwaltschaft außer in den unwichtigen Sachen, die zur Zuständigkeit<lb/> der Schöffengerichte gehören, jederzeit die Voruntersuchung beantragen kann,<lb/> ist eine gesetzliche Zeitgrenze für die Länge der Untersuchungshaft überhaupt<lb/> nicht gegeben. Dazu kommt, daß nach Erhebung der Anklage noch recht lange<lb/> Zeit vergeh» kann, bis eine endgiltige Entscheidung erfolgt. Und mit dieser<lb/> unbegrenzten Ausdehnungsfähigkeit der Untersuchungshaft wird leider ein ent¬<lb/> setzlicher Mißbrauch getrieben. Daß die Beschuldigten bei Prozessen, die so<lb/> verwickelte Gegenstände betreffen, wie die bekannten Bankprozesfe der letzten<lb/> Jahre, bisweilen jahrelang in Untersuchungshaft bleiben müssen, ist, wenn auch<lb/> nicht entschuldbar, so doch immerhin erklärlich. Wenn aber bei verhältnisnmßig<lb/> einfachen Sachen die Untersuchungshaft monatelang andauert, wenn sie dazu<lb/> mißbraucht wird, einen Angeschuldigten „mürbe zu macheu," oder wenn sie ab¬<lb/> sichtlich in die Länge gezogen wird, um jemand, dessen Freisprechung zu er¬<lb/> warten steht, durch die Lauge der Untersuchungshaft zu „strafen" für Taten,<lb/> die nicht gerichtlich verfolgbar sind, oder gar nur wegen seiner politischen Ge¬<lb/> sinnung, wenn die Akten nach Abschluß der Voruntersuchung viele Wochen lang<lb/> bei der Staatsanwaltschaft liegen, weil der Dezernent beurlaubt ist, oder irgend<lb/> ein Referendar sich daran in juristischen Kletter kunststückchen übt, wenn bei<lb/> mehrfachem Gerichtsstand erst eine Entscheidung des Reichsgerichts herbeigeführt</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0304]
Wesen und Wirkung der gesetzlichen Freiheitsentziehung
„juristisch" denkenden Richter gleichgiltig zu sein pflegt, dem Menschenfreunde
aber desto schwerer in die Wagschale fällt.
Wie ich schon bemerkt habe, bewirkt die Einsamkeit der Haft sehr bald,
daß der Gefangne den Sinn für die Wirklichkeit da draußen verliert und
damit auch das Maß, nach dem sich die Beziehungen von Mensch zu Mensch
regeln. Wenn sich nun jemand andauernd damit beschäftigt, sich weißzubrennen,
oder wenigstens seine Tat zu entschuldigen, sich alle möglichen guten oder edeln
Beweggründe auszudeuten und allerlei Milderungsgrunde zu ersinnen, so fängt
er zuletzt selbst an, an seine Unschuld zu glauben oder wenigstens sich ein¬
zubilden, daß nur eine unglückliche Verkettung widriger Unistände ihn zu seiner
Tat getrieben habe, daß er nur das unglückliche Opfer unentrinnbarer Ver¬
wicklungen, Neigungen oder Affekte geworden sei, daß er, abgesehen davon,
eigentlich ein herzlich guter Kerl sei, der keine Strafe verdient habe, sondern
nur in bessere, glücklichere Verhältnisse versetzt zu werden brauche, daß er sich
zu einem wahren Juwel von Herzensgüte und Seelenadel auswachsc. Nichts
ist geeigneter, die Begriffe Schuld und Sühne zu verwischen, ja sie geradezu
zu ekelhaften Zerrbildern zu machen, als die Untersuchungshaft. Der Richter
ist kein guter Menschenkenner, der über das bisweilen anmaßende und phari¬
säische Gebaren eines offenbar schuldigen Untersuchungsgefangnen erstaunt
ist; die Lüge und die Selbstberäucherung gedeihen am besten in der Unter-
suchungszelle.
Und nun zum Schluß uoch ein Wort über die Dauer der Untersuchungs¬
haft! Eine Maximaldaner ist gesetzlich nicht festgelegt; der Paragraph 126 der
Strafprozeßordnung bestimmt nur, daß im Falle einer ohne richterliche Vor¬
untersuchung verhängten Untersuchungshaft die öffentliche Klage innerhalb vier
Wochen nach Vollstreckung des Haftbefehls erhoben werden müsse. Da nun
die Staatsanwaltschaft außer in den unwichtigen Sachen, die zur Zuständigkeit
der Schöffengerichte gehören, jederzeit die Voruntersuchung beantragen kann,
ist eine gesetzliche Zeitgrenze für die Länge der Untersuchungshaft überhaupt
nicht gegeben. Dazu kommt, daß nach Erhebung der Anklage noch recht lange
Zeit vergeh» kann, bis eine endgiltige Entscheidung erfolgt. Und mit dieser
unbegrenzten Ausdehnungsfähigkeit der Untersuchungshaft wird leider ein ent¬
setzlicher Mißbrauch getrieben. Daß die Beschuldigten bei Prozessen, die so
verwickelte Gegenstände betreffen, wie die bekannten Bankprozesfe der letzten
Jahre, bisweilen jahrelang in Untersuchungshaft bleiben müssen, ist, wenn auch
nicht entschuldbar, so doch immerhin erklärlich. Wenn aber bei verhältnisnmßig
einfachen Sachen die Untersuchungshaft monatelang andauert, wenn sie dazu
mißbraucht wird, einen Angeschuldigten „mürbe zu macheu," oder wenn sie ab¬
sichtlich in die Länge gezogen wird, um jemand, dessen Freisprechung zu er¬
warten steht, durch die Lauge der Untersuchungshaft zu „strafen" für Taten,
die nicht gerichtlich verfolgbar sind, oder gar nur wegen seiner politischen Ge¬
sinnung, wenn die Akten nach Abschluß der Voruntersuchung viele Wochen lang
bei der Staatsanwaltschaft liegen, weil der Dezernent beurlaubt ist, oder irgend
ein Referendar sich daran in juristischen Kletter kunststückchen übt, wenn bei
mehrfachem Gerichtsstand erst eine Entscheidung des Reichsgerichts herbeigeführt
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |