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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

während die Ankunft in Friedrichsruh erst am Abend des 1. Oktobers erfolgte.
Hiernach mußte Crispi unterwegs Aufenthalt genommen haben. Graf Herbert
Bismarck war dem Gaste seines Vaters bis Buchen entgegengefahren.

Die erste Ungenauigkeit in der deutschen Wiedergabe besteht darin, daß die
Hauptunterrcdung auf den ersten Abend nach dem bald nach der Ankunft begonnenen
Diner verlegt wird. Bei der Anwesenheit der Fürstin, sowie der Begleiter Crispis
im Salon war das ohnehin ausgeschlossen. Sie geschah am nächsten Morgen,
am 2. Oktober, im Arbeitszimmer Vismarcks unter vier Augen. Die hierbei ge¬
äußerten Wünsche Crispis lassen sich in folgendem zusammenfassen: keine Eroberungen
Rußlands auf der Balkanhalbinsel, sondern im Falle der Auflösung des Türkischen
Reiches Errichtung von kleinern Stciatcngebilden nach der Art Serbiens und
Bulgariens. Hierfür hatte Crispi Österreich-Ungarns prinzipielles Einverständnis.
Graf Kalnoky war vierzehn Tage vorher Gast in Friedrichsruh gewesen; auch dieser
Umstand war Wohl für Crispis Reise bestimmend, vielleicht ebenso die Tatsache, daß
Kaiser Alexander der Dritte im Laufe des Herbstes auf der Rückreise von Kopenhagen
in Berlin erwartet wurde. In den Mitteilungen über diesen Teil der Unterredung
finden sich die größten Lücken. Fürst Bismarck hatte im Beginn des Gesprächs
geäußert, ihm liege wenig daran, ob die Russen nach Konstantinopel gingen; mit
dieser Eroberung werde Rußland sich schwächen. Die bulgarische Frage sei ihm
ebenfalls gleichgiltig. Sollte ein Krieg darüber ausbrechen, so werde Deutschland
so lange nicht daran teilnehmen, als Frankreich sich ruhig verhielte. Nur die
Haltung Frankreichs könne Deutschland bestimmen, zu den Waffen zu greifen.
Crispi erwiderte darauf: "Wir können uns nicht als an der Oricntfrage desinteressiert
erklären. Wir können nicht gestatten, daß Rußland nach Konstantinopel geht. In
Konstantinopel würde Rußland Herr des Mittelmeeres sein, es würde ihm leicht sein,
das zu werden mit Hilfe der Seeleute, die Griechenland bietet, mit dem es sich
durch religiöse Bande leicht ins Einvernehmen setzen könnte. Ich glaube nicht, daß
sich Rußland durch die Behebung von Konstantinopel schwächen würde. Indem das
große Reich seine Herrschaft in Europa ausdehnt, könnte es daraus seine Basis
machen und seine Herrschaft Asien wie Europa auferlegen. Um das zu verhindern,
befolgt Italien seine traditionelle Politik. Im Jahre 1854 nahm Cavour am
Krimkriege teil, indem er sich gerade deswegen mit Frankreich und England ver¬
band, und heute könnte sich Italien nicht anders Verhalten." Crispi schloß, daß
nichts andres übrig bleibe, als sich zu einer Reorganisation der Türkei zu ver¬
binden, um sie bei Gelegenheit zu verteidigen, in Summa: ihren Sturz zu ver¬
hindern, oder die Grundlagen für eine oder mehrere Regierungen vorzubereiten,
die an die Stelle des türkischen Gouvernements zu treten hätten.

Bei dieser zweiten Hypothese gäbe es nichts besseres, als die Autonomie der
verschiednen Staaten zu respektieren: Macedonien, Albanien, Alt-Serbien usw., und
sie ebenso wie die andern Balkanstaaten zu konstituieren. Der Gedanke der Auto¬
nomie sei in Wien angenommen worden, Graf Kalnoky habe sich für die lokalen
Autonomien auf der Balkanhalbinsel ausgesprochen. Er, Crispi, wisse nicht, wie sich
Kalnoky die Verwirklichung des Gedankens denke, ihm genüge für den Augenblick,
die prinzipielle Übereinstimmung festzustellen. Bismarck betonte in seiner Erwiderung,
daß er die Gruppierung der Mächte gern sehe und nur wünsche, daß sie kompakt
wäre und ihre Autorität zur Geltung brächte. In Bulgarien habe er nichts zu
suchen. "Es wäre besser gewesen, wenn der Fürst Alexander geblieben wäre. Er
war unvorsichtig und hat sein Ende dadurch beschleunigt, daß er den Berliner
Vertrag verletzte. Er tat noch schlimmeres: er verletzte die Empfindlichkeiten Englands
dnrch seine Heiratsprojekte. Rußland besteht auf seinen Jnterventionsabsichten in
die bulgarischen Angelegenheiten, er -- Bismarck -- werde sie unterstützen, auch
wenn es sich um die Türkei handele." (Genau dasselbe, nur noch ausführlicher,
erklärte Fürst Bismarck fünf Monate später öffentlich in seiner berühmten Reichs¬
tagsrede vom 6. Februar 1888.) Er fuhr dann fort: "Die italienische Negierung
hat volle Freiheit, ihre eigne Politik im Orient zu verfolge". Deutschland wird


Maßgebliches und Unmaßgebliches

während die Ankunft in Friedrichsruh erst am Abend des 1. Oktobers erfolgte.
Hiernach mußte Crispi unterwegs Aufenthalt genommen haben. Graf Herbert
Bismarck war dem Gaste seines Vaters bis Buchen entgegengefahren.

Die erste Ungenauigkeit in der deutschen Wiedergabe besteht darin, daß die
Hauptunterrcdung auf den ersten Abend nach dem bald nach der Ankunft begonnenen
Diner verlegt wird. Bei der Anwesenheit der Fürstin, sowie der Begleiter Crispis
im Salon war das ohnehin ausgeschlossen. Sie geschah am nächsten Morgen,
am 2. Oktober, im Arbeitszimmer Vismarcks unter vier Augen. Die hierbei ge¬
äußerten Wünsche Crispis lassen sich in folgendem zusammenfassen: keine Eroberungen
Rußlands auf der Balkanhalbinsel, sondern im Falle der Auflösung des Türkischen
Reiches Errichtung von kleinern Stciatcngebilden nach der Art Serbiens und
Bulgariens. Hierfür hatte Crispi Österreich-Ungarns prinzipielles Einverständnis.
Graf Kalnoky war vierzehn Tage vorher Gast in Friedrichsruh gewesen; auch dieser
Umstand war Wohl für Crispis Reise bestimmend, vielleicht ebenso die Tatsache, daß
Kaiser Alexander der Dritte im Laufe des Herbstes auf der Rückreise von Kopenhagen
in Berlin erwartet wurde. In den Mitteilungen über diesen Teil der Unterredung
finden sich die größten Lücken. Fürst Bismarck hatte im Beginn des Gesprächs
geäußert, ihm liege wenig daran, ob die Russen nach Konstantinopel gingen; mit
dieser Eroberung werde Rußland sich schwächen. Die bulgarische Frage sei ihm
ebenfalls gleichgiltig. Sollte ein Krieg darüber ausbrechen, so werde Deutschland
so lange nicht daran teilnehmen, als Frankreich sich ruhig verhielte. Nur die
Haltung Frankreichs könne Deutschland bestimmen, zu den Waffen zu greifen.
Crispi erwiderte darauf: „Wir können uns nicht als an der Oricntfrage desinteressiert
erklären. Wir können nicht gestatten, daß Rußland nach Konstantinopel geht. In
Konstantinopel würde Rußland Herr des Mittelmeeres sein, es würde ihm leicht sein,
das zu werden mit Hilfe der Seeleute, die Griechenland bietet, mit dem es sich
durch religiöse Bande leicht ins Einvernehmen setzen könnte. Ich glaube nicht, daß
sich Rußland durch die Behebung von Konstantinopel schwächen würde. Indem das
große Reich seine Herrschaft in Europa ausdehnt, könnte es daraus seine Basis
machen und seine Herrschaft Asien wie Europa auferlegen. Um das zu verhindern,
befolgt Italien seine traditionelle Politik. Im Jahre 1854 nahm Cavour am
Krimkriege teil, indem er sich gerade deswegen mit Frankreich und England ver¬
band, und heute könnte sich Italien nicht anders Verhalten." Crispi schloß, daß
nichts andres übrig bleibe, als sich zu einer Reorganisation der Türkei zu ver¬
binden, um sie bei Gelegenheit zu verteidigen, in Summa: ihren Sturz zu ver¬
hindern, oder die Grundlagen für eine oder mehrere Regierungen vorzubereiten,
die an die Stelle des türkischen Gouvernements zu treten hätten.

Bei dieser zweiten Hypothese gäbe es nichts besseres, als die Autonomie der
verschiednen Staaten zu respektieren: Macedonien, Albanien, Alt-Serbien usw., und
sie ebenso wie die andern Balkanstaaten zu konstituieren. Der Gedanke der Auto¬
nomie sei in Wien angenommen worden, Graf Kalnoky habe sich für die lokalen
Autonomien auf der Balkanhalbinsel ausgesprochen. Er, Crispi, wisse nicht, wie sich
Kalnoky die Verwirklichung des Gedankens denke, ihm genüge für den Augenblick,
die prinzipielle Übereinstimmung festzustellen. Bismarck betonte in seiner Erwiderung,
daß er die Gruppierung der Mächte gern sehe und nur wünsche, daß sie kompakt
wäre und ihre Autorität zur Geltung brächte. In Bulgarien habe er nichts zu
suchen. „Es wäre besser gewesen, wenn der Fürst Alexander geblieben wäre. Er
war unvorsichtig und hat sein Ende dadurch beschleunigt, daß er den Berliner
Vertrag verletzte. Er tat noch schlimmeres: er verletzte die Empfindlichkeiten Englands
dnrch seine Heiratsprojekte. Rußland besteht auf seinen Jnterventionsabsichten in
die bulgarischen Angelegenheiten, er — Bismarck — werde sie unterstützen, auch
wenn es sich um die Türkei handele." (Genau dasselbe, nur noch ausführlicher,
erklärte Fürst Bismarck fünf Monate später öffentlich in seiner berühmten Reichs¬
tagsrede vom 6. Februar 1888.) Er fuhr dann fort: „Die italienische Negierung
hat volle Freiheit, ihre eigne Politik im Orient zu verfolge». Deutschland wird


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[0270] Maßgebliches und Unmaßgebliches während die Ankunft in Friedrichsruh erst am Abend des 1. Oktobers erfolgte. Hiernach mußte Crispi unterwegs Aufenthalt genommen haben. Graf Herbert Bismarck war dem Gaste seines Vaters bis Buchen entgegengefahren. Die erste Ungenauigkeit in der deutschen Wiedergabe besteht darin, daß die Hauptunterrcdung auf den ersten Abend nach dem bald nach der Ankunft begonnenen Diner verlegt wird. Bei der Anwesenheit der Fürstin, sowie der Begleiter Crispis im Salon war das ohnehin ausgeschlossen. Sie geschah am nächsten Morgen, am 2. Oktober, im Arbeitszimmer Vismarcks unter vier Augen. Die hierbei ge¬ äußerten Wünsche Crispis lassen sich in folgendem zusammenfassen: keine Eroberungen Rußlands auf der Balkanhalbinsel, sondern im Falle der Auflösung des Türkischen Reiches Errichtung von kleinern Stciatcngebilden nach der Art Serbiens und Bulgariens. Hierfür hatte Crispi Österreich-Ungarns prinzipielles Einverständnis. Graf Kalnoky war vierzehn Tage vorher Gast in Friedrichsruh gewesen; auch dieser Umstand war Wohl für Crispis Reise bestimmend, vielleicht ebenso die Tatsache, daß Kaiser Alexander der Dritte im Laufe des Herbstes auf der Rückreise von Kopenhagen in Berlin erwartet wurde. In den Mitteilungen über diesen Teil der Unterredung finden sich die größten Lücken. Fürst Bismarck hatte im Beginn des Gesprächs geäußert, ihm liege wenig daran, ob die Russen nach Konstantinopel gingen; mit dieser Eroberung werde Rußland sich schwächen. Die bulgarische Frage sei ihm ebenfalls gleichgiltig. Sollte ein Krieg darüber ausbrechen, so werde Deutschland so lange nicht daran teilnehmen, als Frankreich sich ruhig verhielte. Nur die Haltung Frankreichs könne Deutschland bestimmen, zu den Waffen zu greifen. Crispi erwiderte darauf: „Wir können uns nicht als an der Oricntfrage desinteressiert erklären. Wir können nicht gestatten, daß Rußland nach Konstantinopel geht. In Konstantinopel würde Rußland Herr des Mittelmeeres sein, es würde ihm leicht sein, das zu werden mit Hilfe der Seeleute, die Griechenland bietet, mit dem es sich durch religiöse Bande leicht ins Einvernehmen setzen könnte. Ich glaube nicht, daß sich Rußland durch die Behebung von Konstantinopel schwächen würde. Indem das große Reich seine Herrschaft in Europa ausdehnt, könnte es daraus seine Basis machen und seine Herrschaft Asien wie Europa auferlegen. Um das zu verhindern, befolgt Italien seine traditionelle Politik. Im Jahre 1854 nahm Cavour am Krimkriege teil, indem er sich gerade deswegen mit Frankreich und England ver¬ band, und heute könnte sich Italien nicht anders Verhalten." Crispi schloß, daß nichts andres übrig bleibe, als sich zu einer Reorganisation der Türkei zu ver¬ binden, um sie bei Gelegenheit zu verteidigen, in Summa: ihren Sturz zu ver¬ hindern, oder die Grundlagen für eine oder mehrere Regierungen vorzubereiten, die an die Stelle des türkischen Gouvernements zu treten hätten. Bei dieser zweiten Hypothese gäbe es nichts besseres, als die Autonomie der verschiednen Staaten zu respektieren: Macedonien, Albanien, Alt-Serbien usw., und sie ebenso wie die andern Balkanstaaten zu konstituieren. Der Gedanke der Auto¬ nomie sei in Wien angenommen worden, Graf Kalnoky habe sich für die lokalen Autonomien auf der Balkanhalbinsel ausgesprochen. Er, Crispi, wisse nicht, wie sich Kalnoky die Verwirklichung des Gedankens denke, ihm genüge für den Augenblick, die prinzipielle Übereinstimmung festzustellen. Bismarck betonte in seiner Erwiderung, daß er die Gruppierung der Mächte gern sehe und nur wünsche, daß sie kompakt wäre und ihre Autorität zur Geltung brächte. In Bulgarien habe er nichts zu suchen. „Es wäre besser gewesen, wenn der Fürst Alexander geblieben wäre. Er war unvorsichtig und hat sein Ende dadurch beschleunigt, daß er den Berliner Vertrag verletzte. Er tat noch schlimmeres: er verletzte die Empfindlichkeiten Englands dnrch seine Heiratsprojekte. Rußland besteht auf seinen Jnterventionsabsichten in die bulgarischen Angelegenheiten, er — Bismarck — werde sie unterstützen, auch wenn es sich um die Türkei handele." (Genau dasselbe, nur noch ausführlicher, erklärte Fürst Bismarck fünf Monate später öffentlich in seiner berühmten Reichs¬ tagsrede vom 6. Februar 1888.) Er fuhr dann fort: „Die italienische Negierung hat volle Freiheit, ihre eigne Politik im Orient zu verfolge». Deutschland wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/270>, abgerufen am 22.07.2024.