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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

pfortci erzogen, ein ausgezeichneter Philolog, und nicht nur ein grundgelehrter, sondern
auch ein grundgescheiter Mann, Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit verfolgte und strafte
er unnachsichtlich. Ich lasse es dahingestellt sein, ob nicht seine Anforderungen an
die Sextaner vielleicht ein wenig zu weit gingen. Es war damals allenfalls zu¬
lässig, die Sexta in einem halben Jahre zu absolvieren. Herr Goßrcm aber ver¬
langte dafür mit eiserner Strenge soviel, daß es unter ihm nur wenig Schülern
gelang. Vielleicht überspannte er seine Anforderungen einigermaßen in der Über¬
zeugung, daß Lücken in den Elementen später niemals völlig ausgefüllt zu werden
pflegen, und daß es für den Schüler besser sei, ein ganzes Jahr in Sexta zu
bleiben und in den Grundlagen ganz fest zu werden. Ich stand auch in Sextn
gut bei ihm angeschrieben. Er führte in seinen Stunden genaue Listen, in denen
er jede gute und jede mangelhafte Leistung der Schüler durch besondre Zeichen
kenntlich machte. Mein einziger Konkurrent in Sexta war ein Bauernsohn aus
dem Dorfe Nieder, David Trolldenier, ein schon etwas älterer, aber begabter und
fleißiger Junge. Wir beiden kämpften immer um den ersten Platz in der Klasse.
Bald war er, bald ich Erster. Immerhin hatte ich darauf gerechnet, daß Troll¬
denier und ich zu Michaelis versetzt werden würden. Da passierte mir kurz vor
dem Ende des Semesters das Unglück, daß ich beim Aussagen der langen Genus¬
regel "Merkt neununddreißig auf ein is, sind maseulim xeneris" ins Stocken kam
und eins der 39 Worte vergaß und ausließ. Ich bekam dafür meinen schwarzen
Strich, lernte aber die Regel demnächst desto sicherer und hatte sie anch noch vor
Schluß des Semesters in der Schule korrekt aufgesagt. Inzwischen war die Ver¬
setzungskonferenz gewesen. Als die Versetzungen beim Schulschluß von dem Direktor
öffentlich verlesen wurden, mußte ich zu meinem Verdruß hören, daß Trolldenier als
einziger von Sexta nach Quinta versetzt worden war. Ich war sitzen geblieben und bin
infolgedessen auch später als er zur Reifeprüfung und zur Universität gekommen.
Es war sicher kein Unglück für mich; eher habe ich in Wirklichkeit Nutzen davon
gehabt. Aber es war der erste empfindliche Schmerz über eine von mir als Un¬
gerechtigkeit empfundne Behandlung. Immerhin war der Schmerz nicht sehr nach¬
haltig. Bei meinem lebhaften Temperament und von Natur leichten Sinn vergaß
ich das Vergangne bald und fand mich frisch mit der Gegenwart ab.

Doch mochte die Enttäuschung, die ich bei der Versetzung erlebt hatte, mit¬
gewirkt haben, den Gedanken an eine ganz besondre, große Ferienerholung in mir
anzuregen, die alles übertreffen sollte, was wir bis dahin an Wärter- und Reise¬
lust erlebt hatten. Ich Plante nämlich gemeinsam mit zwei ebenso leichtsinnigen
Sextanern eine selbständige Fußreise nach Halle zu meiner Großmutter. Meinem
Vater gefiel die Kühnheit, oder wie er sich ausdrückte, die Dreistigkeit der Jungen.
Einer der beiden Jungen hieß Otto Friedrich und war der Sohn eines Zinn-
gicßermeisters. Er hatte mir erzählt, daß er in Aschersleben, Vernburg und Köthen
nahe Verwandte habe, die sich ohne allen Zweifel freuen würden, uus bei sich auf¬
zunehmen. Zuhnnse bei uns war die Rede davon gewesen, daß die an Studenten
vermieteten Wohnungen im Hause meiner Großmutter wtthreud der Ferien leer
stünden, und daß wir dort sehr willkommen sein würden. Mein Vater gab mir
die Erlaubnis zur Reise, verlangte aber von mir, daß ich die elterliche Zustimmung
für die beide" rudern Jungen erwirken müsse. Bei Otto Friedrich machte das
keine große Schwierigkeit. Wohl aber bei dem dritten Jungen, Rudolf Meißner,
dem Sohne des Kreisgerichtsdirektors. Der vielbeschäftigte Vater konnte sich um
solche Minutien eines zehnjährigen Jungen nicht kümmern. Aber die Mutter
steckte begreiflicherweise voll von Bedenken. Ich faßte mir ein Herz, ging zu der
nach meinen Begriffen sehr vornehmen Frau und bat sie inständig, sie möge ihren
Rudolf mitreisen lassen. Alle ihre Einwände widerlegte ich mit dem unverwüst¬
lichen Optimismus eines zehnjährigen rcisedürstendeu Jungen. Endlich bekam ich
sie herum. Junge, sagte sie, du sprichst ja wie ein Buch. Meinetwegen mag
der Rudolf angehn, aber mehr wie einen Taler bekommt er nicht mit. Kommt


Aus der Jugendzeit

pfortci erzogen, ein ausgezeichneter Philolog, und nicht nur ein grundgelehrter, sondern
auch ein grundgescheiter Mann, Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit verfolgte und strafte
er unnachsichtlich. Ich lasse es dahingestellt sein, ob nicht seine Anforderungen an
die Sextaner vielleicht ein wenig zu weit gingen. Es war damals allenfalls zu¬
lässig, die Sexta in einem halben Jahre zu absolvieren. Herr Goßrcm aber ver¬
langte dafür mit eiserner Strenge soviel, daß es unter ihm nur wenig Schülern
gelang. Vielleicht überspannte er seine Anforderungen einigermaßen in der Über¬
zeugung, daß Lücken in den Elementen später niemals völlig ausgefüllt zu werden
pflegen, und daß es für den Schüler besser sei, ein ganzes Jahr in Sexta zu
bleiben und in den Grundlagen ganz fest zu werden. Ich stand auch in Sextn
gut bei ihm angeschrieben. Er führte in seinen Stunden genaue Listen, in denen
er jede gute und jede mangelhafte Leistung der Schüler durch besondre Zeichen
kenntlich machte. Mein einziger Konkurrent in Sexta war ein Bauernsohn aus
dem Dorfe Nieder, David Trolldenier, ein schon etwas älterer, aber begabter und
fleißiger Junge. Wir beiden kämpften immer um den ersten Platz in der Klasse.
Bald war er, bald ich Erster. Immerhin hatte ich darauf gerechnet, daß Troll¬
denier und ich zu Michaelis versetzt werden würden. Da passierte mir kurz vor
dem Ende des Semesters das Unglück, daß ich beim Aussagen der langen Genus¬
regel „Merkt neununddreißig auf ein is, sind maseulim xeneris" ins Stocken kam
und eins der 39 Worte vergaß und ausließ. Ich bekam dafür meinen schwarzen
Strich, lernte aber die Regel demnächst desto sicherer und hatte sie anch noch vor
Schluß des Semesters in der Schule korrekt aufgesagt. Inzwischen war die Ver¬
setzungskonferenz gewesen. Als die Versetzungen beim Schulschluß von dem Direktor
öffentlich verlesen wurden, mußte ich zu meinem Verdruß hören, daß Trolldenier als
einziger von Sexta nach Quinta versetzt worden war. Ich war sitzen geblieben und bin
infolgedessen auch später als er zur Reifeprüfung und zur Universität gekommen.
Es war sicher kein Unglück für mich; eher habe ich in Wirklichkeit Nutzen davon
gehabt. Aber es war der erste empfindliche Schmerz über eine von mir als Un¬
gerechtigkeit empfundne Behandlung. Immerhin war der Schmerz nicht sehr nach¬
haltig. Bei meinem lebhaften Temperament und von Natur leichten Sinn vergaß
ich das Vergangne bald und fand mich frisch mit der Gegenwart ab.

Doch mochte die Enttäuschung, die ich bei der Versetzung erlebt hatte, mit¬
gewirkt haben, den Gedanken an eine ganz besondre, große Ferienerholung in mir
anzuregen, die alles übertreffen sollte, was wir bis dahin an Wärter- und Reise¬
lust erlebt hatten. Ich Plante nämlich gemeinsam mit zwei ebenso leichtsinnigen
Sextanern eine selbständige Fußreise nach Halle zu meiner Großmutter. Meinem
Vater gefiel die Kühnheit, oder wie er sich ausdrückte, die Dreistigkeit der Jungen.
Einer der beiden Jungen hieß Otto Friedrich und war der Sohn eines Zinn-
gicßermeisters. Er hatte mir erzählt, daß er in Aschersleben, Vernburg und Köthen
nahe Verwandte habe, die sich ohne allen Zweifel freuen würden, uus bei sich auf¬
zunehmen. Zuhnnse bei uns war die Rede davon gewesen, daß die an Studenten
vermieteten Wohnungen im Hause meiner Großmutter wtthreud der Ferien leer
stünden, und daß wir dort sehr willkommen sein würden. Mein Vater gab mir
die Erlaubnis zur Reise, verlangte aber von mir, daß ich die elterliche Zustimmung
für die beide» rudern Jungen erwirken müsse. Bei Otto Friedrich machte das
keine große Schwierigkeit. Wohl aber bei dem dritten Jungen, Rudolf Meißner,
dem Sohne des Kreisgerichtsdirektors. Der vielbeschäftigte Vater konnte sich um
solche Minutien eines zehnjährigen Jungen nicht kümmern. Aber die Mutter
steckte begreiflicherweise voll von Bedenken. Ich faßte mir ein Herz, ging zu der
nach meinen Begriffen sehr vornehmen Frau und bat sie inständig, sie möge ihren
Rudolf mitreisen lassen. Alle ihre Einwände widerlegte ich mit dem unverwüst¬
lichen Optimismus eines zehnjährigen rcisedürstendeu Jungen. Endlich bekam ich
sie herum. Junge, sagte sie, du sprichst ja wie ein Buch. Meinetwegen mag
der Rudolf angehn, aber mehr wie einen Taler bekommt er nicht mit. Kommt


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[0253] Aus der Jugendzeit pfortci erzogen, ein ausgezeichneter Philolog, und nicht nur ein grundgelehrter, sondern auch ein grundgescheiter Mann, Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit verfolgte und strafte er unnachsichtlich. Ich lasse es dahingestellt sein, ob nicht seine Anforderungen an die Sextaner vielleicht ein wenig zu weit gingen. Es war damals allenfalls zu¬ lässig, die Sexta in einem halben Jahre zu absolvieren. Herr Goßrcm aber ver¬ langte dafür mit eiserner Strenge soviel, daß es unter ihm nur wenig Schülern gelang. Vielleicht überspannte er seine Anforderungen einigermaßen in der Über¬ zeugung, daß Lücken in den Elementen später niemals völlig ausgefüllt zu werden pflegen, und daß es für den Schüler besser sei, ein ganzes Jahr in Sexta zu bleiben und in den Grundlagen ganz fest zu werden. Ich stand auch in Sextn gut bei ihm angeschrieben. Er führte in seinen Stunden genaue Listen, in denen er jede gute und jede mangelhafte Leistung der Schüler durch besondre Zeichen kenntlich machte. Mein einziger Konkurrent in Sexta war ein Bauernsohn aus dem Dorfe Nieder, David Trolldenier, ein schon etwas älterer, aber begabter und fleißiger Junge. Wir beiden kämpften immer um den ersten Platz in der Klasse. Bald war er, bald ich Erster. Immerhin hatte ich darauf gerechnet, daß Troll¬ denier und ich zu Michaelis versetzt werden würden. Da passierte mir kurz vor dem Ende des Semesters das Unglück, daß ich beim Aussagen der langen Genus¬ regel „Merkt neununddreißig auf ein is, sind maseulim xeneris" ins Stocken kam und eins der 39 Worte vergaß und ausließ. Ich bekam dafür meinen schwarzen Strich, lernte aber die Regel demnächst desto sicherer und hatte sie anch noch vor Schluß des Semesters in der Schule korrekt aufgesagt. Inzwischen war die Ver¬ setzungskonferenz gewesen. Als die Versetzungen beim Schulschluß von dem Direktor öffentlich verlesen wurden, mußte ich zu meinem Verdruß hören, daß Trolldenier als einziger von Sexta nach Quinta versetzt worden war. Ich war sitzen geblieben und bin infolgedessen auch später als er zur Reifeprüfung und zur Universität gekommen. Es war sicher kein Unglück für mich; eher habe ich in Wirklichkeit Nutzen davon gehabt. Aber es war der erste empfindliche Schmerz über eine von mir als Un¬ gerechtigkeit empfundne Behandlung. Immerhin war der Schmerz nicht sehr nach¬ haltig. Bei meinem lebhaften Temperament und von Natur leichten Sinn vergaß ich das Vergangne bald und fand mich frisch mit der Gegenwart ab. Doch mochte die Enttäuschung, die ich bei der Versetzung erlebt hatte, mit¬ gewirkt haben, den Gedanken an eine ganz besondre, große Ferienerholung in mir anzuregen, die alles übertreffen sollte, was wir bis dahin an Wärter- und Reise¬ lust erlebt hatten. Ich Plante nämlich gemeinsam mit zwei ebenso leichtsinnigen Sextanern eine selbständige Fußreise nach Halle zu meiner Großmutter. Meinem Vater gefiel die Kühnheit, oder wie er sich ausdrückte, die Dreistigkeit der Jungen. Einer der beiden Jungen hieß Otto Friedrich und war der Sohn eines Zinn- gicßermeisters. Er hatte mir erzählt, daß er in Aschersleben, Vernburg und Köthen nahe Verwandte habe, die sich ohne allen Zweifel freuen würden, uus bei sich auf¬ zunehmen. Zuhnnse bei uns war die Rede davon gewesen, daß die an Studenten vermieteten Wohnungen im Hause meiner Großmutter wtthreud der Ferien leer stünden, und daß wir dort sehr willkommen sein würden. Mein Vater gab mir die Erlaubnis zur Reise, verlangte aber von mir, daß ich die elterliche Zustimmung für die beide» rudern Jungen erwirken müsse. Bei Otto Friedrich machte das keine große Schwierigkeit. Wohl aber bei dem dritten Jungen, Rudolf Meißner, dem Sohne des Kreisgerichtsdirektors. Der vielbeschäftigte Vater konnte sich um solche Minutien eines zehnjährigen Jungen nicht kümmern. Aber die Mutter steckte begreiflicherweise voll von Bedenken. Ich faßte mir ein Herz, ging zu der nach meinen Begriffen sehr vornehmen Frau und bat sie inständig, sie möge ihren Rudolf mitreisen lassen. Alle ihre Einwände widerlegte ich mit dem unverwüst¬ lichen Optimismus eines zehnjährigen rcisedürstendeu Jungen. Endlich bekam ich sie herum. Junge, sagte sie, du sprichst ja wie ein Buch. Meinetwegen mag der Rudolf angehn, aber mehr wie einen Taler bekommt er nicht mit. Kommt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/253>, abgerufen am 22.07.2024.