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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ein Schiffer, der in Helsingör beheimatet war, hatte in London ans der Straße
eine gedruckte Komödie gekauft, die er bei der Heimkehr Jver Krumme schenkte, da
er wußte, daß dieser wie vernarrt auf so etwas war.

Die Komödie war ein dünnes Buch in Quart und hieß Hnwlot, ?rir>co ok
I)onmg,i'Je"z.

Mit immer wachsender Verwunderung las Jver Kramme das englische Schau¬
spiel, eine Erinnerung nach der andern tauchte vor ihm auf, allerlei, was er bisher
uur dunkel geahnt hatte, wurde ihm jetzt klar, und als er mit dem Lesen fertig
war, zweifelteer nicht mehr daran, daß der William Shakespeare, dessen Name
auf dem Titelblatt stand, derselbe Will sein mußte, der einmal unter seinem Dach
im Kloster gewohnt hatte.

Er beauftragte den Schiffer, wenn er wieder nach London käme, sich nach be¬
sagtem Shakespeare zu erkundigen, und namentlich danach, ob dieser im Jahre 1586
in Helsingör gewesen wäre. Aber der Schiffer brachte nur die Nachricht mit zurück,
daß der Mann, der das Stück von dem dänischen Prinzen geschrieben habe, schon
seit mehreren Jahren tot sei; ob er in Helsingör gewesen, könne nicht aufgeklärt
werden, aber in dem genannten Jahre sei er weder in seinem Geburtsort noch in
London gewesen, und wo er sich damals aufgehalten habe, wisse niemand.

Obwohl Jver Kramme also keine volle Gewißheit erlangen konnte, war er
doch seiner Sache ganz gewiß. Sein Will und kein andrer war William Shake¬
speare, und diese feste Überzeugung, mit der er zu Grabe ging, hat sich als Familien¬
tradition immer weiter vererbt.

Die Familie Kramme starb zu Anfang des vorigen Jahrhunderts aus, und
die Laute, die Will hinterlassen hatte, ist längst verschwunden, aber ein noch lebender
weiblicher Abkömmling der Krummes hat ihren Großvater -- einen jütischen
Pfarrer -- erzählen hören, daß er als Kind selbst den Saxo gesehen habe, der
Jver Krammes Eigentum gewesen war.

Es war die Pariser Ausgabe von 1514, und wenn jemand zufälligerweise
ein Exemplar dieses seltnen Buches antreffen sollte, worin sich Pagina 54, dort, wo
die Erzählung von Amiet beginnt, ein Rotstiftstrich am Rande findet und ein Fleck
in der Mitte dieser und der folgenden Seite, so liegt jedenfalls die Vermutung
nahe, daß es Wilts Strich und der Abdruck von Christences Blumen sei.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Klagen über unsre Rechtsprechung.

Die Klagen über unsre Recht¬
sprechung und insbesondre über die unzureichende Befähigung und Ausbildung
unsrer Richter und Staatsanwälte in Handels- und Börseusacheu pflegen gewöhn¬
lich nach großen Bankprozessen aufzutauchen. So haben wir in der Tngespresse
bei den Spielhagenprozessen diese Klagen gehört, und neuerdings hören wir sie
wieder wegen des vorläufigen Ausgangs des "Pommerbankprozesses." Die Ruhe
der Gerichtsferien ist die rechte Zeit für solche Klagen, die ihr Pendant oder
Korrelat in den weitern Klagen über die Prozeßverschleppung haben. Neuerdings
hat auch Professor Hans Delbrück im Augustheft der "Preußischen Jahrbücher"
mehrere Gerichtsurteile aus der letzten Zeit besprochen, sich über den Vorwurf der
Klasseujnstiz ausgelassen und das Verlangen aufgestellt, daß in unserm ganzen
Beamtentum ein andrer Geist heranzuziehen sei.

Diese Betrachtungen verlangen zum Teil Unmögliches. Zunächst möchte ich mich
der Klage über die mangelnde Fähigkeit der Richter und die Staatsanwälte, die
modernen Handels- und Verkehrsverhnltnisfc zu beherrschen, zuwenden. Sie mag


Grenzboten III 1903 104
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ein Schiffer, der in Helsingör beheimatet war, hatte in London ans der Straße
eine gedruckte Komödie gekauft, die er bei der Heimkehr Jver Krumme schenkte, da
er wußte, daß dieser wie vernarrt auf so etwas war.

Die Komödie war ein dünnes Buch in Quart und hieß Hnwlot, ?rir>co ok
I)onmg,i'Je«z.

Mit immer wachsender Verwunderung las Jver Kramme das englische Schau¬
spiel, eine Erinnerung nach der andern tauchte vor ihm auf, allerlei, was er bisher
uur dunkel geahnt hatte, wurde ihm jetzt klar, und als er mit dem Lesen fertig
war, zweifelteer nicht mehr daran, daß der William Shakespeare, dessen Name
auf dem Titelblatt stand, derselbe Will sein mußte, der einmal unter seinem Dach
im Kloster gewohnt hatte.

Er beauftragte den Schiffer, wenn er wieder nach London käme, sich nach be¬
sagtem Shakespeare zu erkundigen, und namentlich danach, ob dieser im Jahre 1586
in Helsingör gewesen wäre. Aber der Schiffer brachte nur die Nachricht mit zurück,
daß der Mann, der das Stück von dem dänischen Prinzen geschrieben habe, schon
seit mehreren Jahren tot sei; ob er in Helsingör gewesen, könne nicht aufgeklärt
werden, aber in dem genannten Jahre sei er weder in seinem Geburtsort noch in
London gewesen, und wo er sich damals aufgehalten habe, wisse niemand.

Obwohl Jver Kramme also keine volle Gewißheit erlangen konnte, war er
doch seiner Sache ganz gewiß. Sein Will und kein andrer war William Shake¬
speare, und diese feste Überzeugung, mit der er zu Grabe ging, hat sich als Familien¬
tradition immer weiter vererbt.

Die Familie Kramme starb zu Anfang des vorigen Jahrhunderts aus, und
die Laute, die Will hinterlassen hatte, ist längst verschwunden, aber ein noch lebender
weiblicher Abkömmling der Krummes hat ihren Großvater — einen jütischen
Pfarrer — erzählen hören, daß er als Kind selbst den Saxo gesehen habe, der
Jver Krammes Eigentum gewesen war.

Es war die Pariser Ausgabe von 1514, und wenn jemand zufälligerweise
ein Exemplar dieses seltnen Buches antreffen sollte, worin sich Pagina 54, dort, wo
die Erzählung von Amiet beginnt, ein Rotstiftstrich am Rande findet und ein Fleck
in der Mitte dieser und der folgenden Seite, so liegt jedenfalls die Vermutung
nahe, daß es Wilts Strich und der Abdruck von Christences Blumen sei.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Klagen über unsre Rechtsprechung.

Die Klagen über unsre Recht¬
sprechung und insbesondre über die unzureichende Befähigung und Ausbildung
unsrer Richter und Staatsanwälte in Handels- und Börseusacheu pflegen gewöhn¬
lich nach großen Bankprozessen aufzutauchen. So haben wir in der Tngespresse
bei den Spielhagenprozessen diese Klagen gehört, und neuerdings hören wir sie
wieder wegen des vorläufigen Ausgangs des „Pommerbankprozesses." Die Ruhe
der Gerichtsferien ist die rechte Zeit für solche Klagen, die ihr Pendant oder
Korrelat in den weitern Klagen über die Prozeßverschleppung haben. Neuerdings
hat auch Professor Hans Delbrück im Augustheft der „Preußischen Jahrbücher"
mehrere Gerichtsurteile aus der letzten Zeit besprochen, sich über den Vorwurf der
Klasseujnstiz ausgelassen und das Verlangen aufgestellt, daß in unserm ganzen
Beamtentum ein andrer Geist heranzuziehen sei.

Diese Betrachtungen verlangen zum Teil Unmögliches. Zunächst möchte ich mich
der Klage über die mangelnde Fähigkeit der Richter und die Staatsanwälte, die
modernen Handels- und Verkehrsverhnltnisfc zu beherrschen, zuwenden. Sie mag


Grenzboten III 1903 104
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[0833] Maßgebliches und Unmaßgebliches Ein Schiffer, der in Helsingör beheimatet war, hatte in London ans der Straße eine gedruckte Komödie gekauft, die er bei der Heimkehr Jver Krumme schenkte, da er wußte, daß dieser wie vernarrt auf so etwas war. Die Komödie war ein dünnes Buch in Quart und hieß Hnwlot, ?rir>co ok I)onmg,i'Je«z. Mit immer wachsender Verwunderung las Jver Kramme das englische Schau¬ spiel, eine Erinnerung nach der andern tauchte vor ihm auf, allerlei, was er bisher uur dunkel geahnt hatte, wurde ihm jetzt klar, und als er mit dem Lesen fertig war, zweifelteer nicht mehr daran, daß der William Shakespeare, dessen Name auf dem Titelblatt stand, derselbe Will sein mußte, der einmal unter seinem Dach im Kloster gewohnt hatte. Er beauftragte den Schiffer, wenn er wieder nach London käme, sich nach be¬ sagtem Shakespeare zu erkundigen, und namentlich danach, ob dieser im Jahre 1586 in Helsingör gewesen wäre. Aber der Schiffer brachte nur die Nachricht mit zurück, daß der Mann, der das Stück von dem dänischen Prinzen geschrieben habe, schon seit mehreren Jahren tot sei; ob er in Helsingör gewesen, könne nicht aufgeklärt werden, aber in dem genannten Jahre sei er weder in seinem Geburtsort noch in London gewesen, und wo er sich damals aufgehalten habe, wisse niemand. Obwohl Jver Kramme also keine volle Gewißheit erlangen konnte, war er doch seiner Sache ganz gewiß. Sein Will und kein andrer war William Shake¬ speare, und diese feste Überzeugung, mit der er zu Grabe ging, hat sich als Familien¬ tradition immer weiter vererbt. Die Familie Kramme starb zu Anfang des vorigen Jahrhunderts aus, und die Laute, die Will hinterlassen hatte, ist längst verschwunden, aber ein noch lebender weiblicher Abkömmling der Krummes hat ihren Großvater — einen jütischen Pfarrer — erzählen hören, daß er als Kind selbst den Saxo gesehen habe, der Jver Krammes Eigentum gewesen war. Es war die Pariser Ausgabe von 1514, und wenn jemand zufälligerweise ein Exemplar dieses seltnen Buches antreffen sollte, worin sich Pagina 54, dort, wo die Erzählung von Amiet beginnt, ein Rotstiftstrich am Rande findet und ein Fleck in der Mitte dieser und der folgenden Seite, so liegt jedenfalls die Vermutung nahe, daß es Wilts Strich und der Abdruck von Christences Blumen sei. Maßgebliches und Unmaßgebliches Klagen über unsre Rechtsprechung. Die Klagen über unsre Recht¬ sprechung und insbesondre über die unzureichende Befähigung und Ausbildung unsrer Richter und Staatsanwälte in Handels- und Börseusacheu pflegen gewöhn¬ lich nach großen Bankprozessen aufzutauchen. So haben wir in der Tngespresse bei den Spielhagenprozessen diese Klagen gehört, und neuerdings hören wir sie wieder wegen des vorläufigen Ausgangs des „Pommerbankprozesses." Die Ruhe der Gerichtsferien ist die rechte Zeit für solche Klagen, die ihr Pendant oder Korrelat in den weitern Klagen über die Prozeßverschleppung haben. Neuerdings hat auch Professor Hans Delbrück im Augustheft der „Preußischen Jahrbücher" mehrere Gerichtsurteile aus der letzten Zeit besprochen, sich über den Vorwurf der Klasseujnstiz ausgelassen und das Verlangen aufgestellt, daß in unserm ganzen Beamtentum ein andrer Geist heranzuziehen sei. Diese Betrachtungen verlangen zum Teil Unmögliches. Zunächst möchte ich mich der Klage über die mangelnde Fähigkeit der Richter und die Staatsanwälte, die modernen Handels- und Verkehrsverhnltnisfc zu beherrschen, zuwenden. Sie mag Grenzboten III 1903 104

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/833>, abgerufen am 22.11.2024.