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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Erinnerungen an die Paulskirche ^8^3

verfolgt und nach dem Tode verdientermaßen mehr verherrlicht worden, als
unser Turnvater Jahr. Daß Turnen der erste Schritt zur soldatischen Aus¬
bildung ist, schien mit der Gymnastik der Griechen vergessen zu sein. Ring¬
kampfe hatten sich zur Not in der Schweiz noch erhalten, die übrigen Deutschen
waren lieber zu gelehrten Stubeuhockern geworden, sodaß noch König Ludwig
der Erste von Bayern seinen Spott darüber ergoß:


Wie! Gymnasien nennen die jetzigen Menschen die Stätte,
Wo man die Jugend versitzt, ach wo der Körper verdirbt?
Den Ort, wo er noch wurde geübt, bezeichnet der Name,
Bei den Hellenen war Tat, aber wir reden davon!

Nach der Schlacht von Jena, wo der fridericianische Militärstaat an
Einem Tage zusammenbrach, war Jahr, eben von Jena, wo er sich 1805 als
Privatdozent habilitiert hatte, zu Blücher nach Lübeck geflüchtet, um in der
Zeit der tiefsten Niedergeschlagenheit voll Patriotismus ins preußische Heer
zu treten. Im Jahre 1811 gründete er in Berlin die erste Turnanstalt, um
selber bärenhaft, wie er von Natur aus war, die Jugend zur Entwicklung der
Körperkraft und zur physischen Abhärtung zu erziehen. Diese neue Kriegsschule
bestand die Probe, denn 1813 trat er mit der Mehrzahl seiner Turner dem
Lützowschen Freikorps bei. Zu dem neuen kriegerischen Geiste und der
glühenden nationalen Begeisterung gesellte sich zugleich die Verachtung fran¬
zösischer Schulerziehung und des Gebrauchs von Fremdwörtern. Jahr hat
das Verdienst, für Nationalität das Wort Volkstum erfunden und eingebürgert
zu haben.

Aber nachdem das Werk der Befreiung gelungen, auch Jahr und die
besten Deutschen den siegreichen Heeren zur Teilnahme am Triumphe nach
Paris gefolgt waren, entband sich bald der Polizeistaat der Dankespflicht,
in Vergessenheit kam das Versprechen, das Deutsche Reich neu und freier zu
gestalten; die Schwärmer für die Einheit und Einigung wurden als Demagogen
verfolgt, voran Jahr. Die Turnanstalt nicht bloß in Berlin, sondern sämt¬
liche im ganzen preußischen Staate wurden 1819 geschlossen. Der Turnvater
kam wegen staatsgeführlicher Umtriebe erst nach Spandau, dann nach
Küstrin, endlich 1820 auf ministeriellen Befehl nach Kolberg, also auf drei
Festungen nacheinander in Haft, und wurde noch 1824 durch das Oberlandes¬
gericht in Breslau zu zweijähriger Festungshaft verurteilt, dann als Urheber
der deutschen Burschenschaft noch ein Jahrzehnt unter polizeiliche Aufsicht
gestellt.

Die deutsche Erhebung 1848 führte auch Jahr, wie so manchen politischen
Märtyrer, ans Verfolgung und Verbannung befreit, in die erste deutsche
Nationalversammlung, wo er seine Stimme von der Seite der konservativen
Rechten abgab. Aber gerade diese Haltung sollte ihm gefährlich werden. Nach
einem aussichtsvollen Kampfe war am 26. August 1848 zwischen Preußen
und Dünemark der Waffenstillstand von Malmö abgeschlossen. Daß sich
die Majorität der Paulskirche dem Unvermeidlichen fügte, brachte die republi¬
kanische Partei der Deutschgesinnten in stürmische Aufregung. An 7000 Frei-
schärler aus Baden und Hessen, besonders aus der Umgegend von Hanau,


Erinnerungen an die Paulskirche ^8^3

verfolgt und nach dem Tode verdientermaßen mehr verherrlicht worden, als
unser Turnvater Jahr. Daß Turnen der erste Schritt zur soldatischen Aus¬
bildung ist, schien mit der Gymnastik der Griechen vergessen zu sein. Ring¬
kampfe hatten sich zur Not in der Schweiz noch erhalten, die übrigen Deutschen
waren lieber zu gelehrten Stubeuhockern geworden, sodaß noch König Ludwig
der Erste von Bayern seinen Spott darüber ergoß:


Wie! Gymnasien nennen die jetzigen Menschen die Stätte,
Wo man die Jugend versitzt, ach wo der Körper verdirbt?
Den Ort, wo er noch wurde geübt, bezeichnet der Name,
Bei den Hellenen war Tat, aber wir reden davon!

Nach der Schlacht von Jena, wo der fridericianische Militärstaat an
Einem Tage zusammenbrach, war Jahr, eben von Jena, wo er sich 1805 als
Privatdozent habilitiert hatte, zu Blücher nach Lübeck geflüchtet, um in der
Zeit der tiefsten Niedergeschlagenheit voll Patriotismus ins preußische Heer
zu treten. Im Jahre 1811 gründete er in Berlin die erste Turnanstalt, um
selber bärenhaft, wie er von Natur aus war, die Jugend zur Entwicklung der
Körperkraft und zur physischen Abhärtung zu erziehen. Diese neue Kriegsschule
bestand die Probe, denn 1813 trat er mit der Mehrzahl seiner Turner dem
Lützowschen Freikorps bei. Zu dem neuen kriegerischen Geiste und der
glühenden nationalen Begeisterung gesellte sich zugleich die Verachtung fran¬
zösischer Schulerziehung und des Gebrauchs von Fremdwörtern. Jahr hat
das Verdienst, für Nationalität das Wort Volkstum erfunden und eingebürgert
zu haben.

Aber nachdem das Werk der Befreiung gelungen, auch Jahr und die
besten Deutschen den siegreichen Heeren zur Teilnahme am Triumphe nach
Paris gefolgt waren, entband sich bald der Polizeistaat der Dankespflicht,
in Vergessenheit kam das Versprechen, das Deutsche Reich neu und freier zu
gestalten; die Schwärmer für die Einheit und Einigung wurden als Demagogen
verfolgt, voran Jahr. Die Turnanstalt nicht bloß in Berlin, sondern sämt¬
liche im ganzen preußischen Staate wurden 1819 geschlossen. Der Turnvater
kam wegen staatsgeführlicher Umtriebe erst nach Spandau, dann nach
Küstrin, endlich 1820 auf ministeriellen Befehl nach Kolberg, also auf drei
Festungen nacheinander in Haft, und wurde noch 1824 durch das Oberlandes¬
gericht in Breslau zu zweijähriger Festungshaft verurteilt, dann als Urheber
der deutschen Burschenschaft noch ein Jahrzehnt unter polizeiliche Aufsicht
gestellt.

Die deutsche Erhebung 1848 führte auch Jahr, wie so manchen politischen
Märtyrer, ans Verfolgung und Verbannung befreit, in die erste deutsche
Nationalversammlung, wo er seine Stimme von der Seite der konservativen
Rechten abgab. Aber gerade diese Haltung sollte ihm gefährlich werden. Nach
einem aussichtsvollen Kampfe war am 26. August 1848 zwischen Preußen
und Dünemark der Waffenstillstand von Malmö abgeschlossen. Daß sich
die Majorität der Paulskirche dem Unvermeidlichen fügte, brachte die republi¬
kanische Partei der Deutschgesinnten in stürmische Aufregung. An 7000 Frei-
schärler aus Baden und Hessen, besonders aus der Umgegend von Hanau,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/731>, abgerufen am 23.11.2024.