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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Grinnernngen an die Paulskirche ^3^8

aber aus Frankenthal entkam, oder retteten sich gleich dnrch die Flucht ins
Ausland. Auch ein cntschiedner Republikaner, Schriftsteller Wirth, wurde durch
die Wahl in die Paulskirche rehabilitiert; aber schon am 28. Juli hielt ihm
Robert Blum die Grabrede.

Sage mau, was mau wolle -- eine Versammlung von Männern, die
so viel durchgemacht hatten und ein Herz für das große Vaterland bewahrten,
wie die vom Jahre 1848, fände man heute bei all den Agitationen nicht
wieder: es herrschte im Anfang einmütige Begeisterung. Die durch das öffent¬
liche Vertrauen Erwählten hatten neben erprobten Kämpfer!, auch wohl poli¬
tische Wickelkinder uuter sich, aber die Gefahr der Spaltung ging von Ultra¬
liberalen aus. Staatsmänner, Krieger und Gelehrte, voran General v. Nado-
witz, dann Fürst Lichnowsky, Stiftspropst Döllinger, versammelten sich im
Steinernen Hanse, andre Klubs bildeten sich unter den Namen verschiedner
Gnsthöfe. Man gab zuerst alle Religionsparteien, bestehende und sich
künftig bildende, frei, ebenso alle nichtdeutschen Volksstämme auf deutschem
Bundesgebiete, wobei zunächst an die Polen gedacht war, die heutzutage nicht
mehr für ungefährlich gelten. Schon am 14. Juni, genau vier Wochen nach
dem Zusammentritt (18. Mai), erklärte sich das Haus für Begründung einer
deutschen Marine, was heute, vom tntkräftigen Kaiser aceeptiert, der Grund¬
gedanke unsrer auswärtigen Politik ist. Noch mehr! Von uns Süddeutschen
ging der Antrag ans, Venedig dem Deutschen Bunde einzuverleiben!
Das haben noch alle Parlamentsschriften verschwiegen, vielleicht aus Ehrgefühl,
weil die dabei weniger beteiligten Nordischen mit Ablehnung antworteten.
Wäre der Plan durchgegangen, so wäre Österreich noch heute im Besitze
Venetiens. Und doch hat Deutschland mich im Südosten die nationalen
Interessen zu vertreten: der glänzende Seesieg Tegetthoffs bei Lissn, dem
Schlüssel des Adriatischen Meeres, am 20. Juli 1866 mag dies in Erinnerung
bringen. Gerade jetzt, wo sich der Orient wieder erschließt, darf man daran
denken, daß sich vor der Entdeckung Amerikas am Haupthnndel im Mittel¬
ländischen Meer Augsburger und Nürnberger Handelsfürsten beteiligten und
Deutschland bereicherten, während im Norden die Hansa vom Strand der Ostsee
aus, Lübeck sogar im Innern von Rußland bis Kiew den Handel beherrschte
und von der Nordsee aus im Stahlhofe zu London anch England den Preis
der Waren vorschrieb. Am 20. Juni besann man sich und beschloß in der
Paulskirche einmütig: "ein Angriff auf Trieft von der Seite Sardiniens
(heute des vereinigten Italiens) solle als Kriegserklärung gegen Deutschland
betrachtet werden." Graf Bismarck hätte 1866 füglich aussprechen dürfen: ein
Angriff auf Venedig "werde an die Spitze des deutschen Schwertes stoßen."

Deutschland lag mit Dänemark wegen Schleswig-Holstein im Kriege, und
gerade diese Herzogtümer sandten so wackre Mitglieder, wie die beiden Beseler,
in die Paulskirche, wo Wilhelm B. den cmanzipationslustigeu Jsraeliten Rießer
als Vizepräsident ablöste. Heckscher, gleichfalls Hamburger und Mitglied des
Fünfzigerausschusses vou Gagerns Partei, setzte am 9. Juni dnrch, daß "die
Genehmigung des mit Dänemark abzuschließenden Friedens nicht der National¬
versammlung vorbehalten sei." Er gewann mehr und mehr Einfluß und war


Grinnernngen an die Paulskirche ^3^8

aber aus Frankenthal entkam, oder retteten sich gleich dnrch die Flucht ins
Ausland. Auch ein cntschiedner Republikaner, Schriftsteller Wirth, wurde durch
die Wahl in die Paulskirche rehabilitiert; aber schon am 28. Juli hielt ihm
Robert Blum die Grabrede.

Sage mau, was mau wolle — eine Versammlung von Männern, die
so viel durchgemacht hatten und ein Herz für das große Vaterland bewahrten,
wie die vom Jahre 1848, fände man heute bei all den Agitationen nicht
wieder: es herrschte im Anfang einmütige Begeisterung. Die durch das öffent¬
liche Vertrauen Erwählten hatten neben erprobten Kämpfer!, auch wohl poli¬
tische Wickelkinder uuter sich, aber die Gefahr der Spaltung ging von Ultra¬
liberalen aus. Staatsmänner, Krieger und Gelehrte, voran General v. Nado-
witz, dann Fürst Lichnowsky, Stiftspropst Döllinger, versammelten sich im
Steinernen Hanse, andre Klubs bildeten sich unter den Namen verschiedner
Gnsthöfe. Man gab zuerst alle Religionsparteien, bestehende und sich
künftig bildende, frei, ebenso alle nichtdeutschen Volksstämme auf deutschem
Bundesgebiete, wobei zunächst an die Polen gedacht war, die heutzutage nicht
mehr für ungefährlich gelten. Schon am 14. Juni, genau vier Wochen nach
dem Zusammentritt (18. Mai), erklärte sich das Haus für Begründung einer
deutschen Marine, was heute, vom tntkräftigen Kaiser aceeptiert, der Grund¬
gedanke unsrer auswärtigen Politik ist. Noch mehr! Von uns Süddeutschen
ging der Antrag ans, Venedig dem Deutschen Bunde einzuverleiben!
Das haben noch alle Parlamentsschriften verschwiegen, vielleicht aus Ehrgefühl,
weil die dabei weniger beteiligten Nordischen mit Ablehnung antworteten.
Wäre der Plan durchgegangen, so wäre Österreich noch heute im Besitze
Venetiens. Und doch hat Deutschland mich im Südosten die nationalen
Interessen zu vertreten: der glänzende Seesieg Tegetthoffs bei Lissn, dem
Schlüssel des Adriatischen Meeres, am 20. Juli 1866 mag dies in Erinnerung
bringen. Gerade jetzt, wo sich der Orient wieder erschließt, darf man daran
denken, daß sich vor der Entdeckung Amerikas am Haupthnndel im Mittel¬
ländischen Meer Augsburger und Nürnberger Handelsfürsten beteiligten und
Deutschland bereicherten, während im Norden die Hansa vom Strand der Ostsee
aus, Lübeck sogar im Innern von Rußland bis Kiew den Handel beherrschte
und von der Nordsee aus im Stahlhofe zu London anch England den Preis
der Waren vorschrieb. Am 20. Juni besann man sich und beschloß in der
Paulskirche einmütig: „ein Angriff auf Trieft von der Seite Sardiniens
(heute des vereinigten Italiens) solle als Kriegserklärung gegen Deutschland
betrachtet werden." Graf Bismarck hätte 1866 füglich aussprechen dürfen: ein
Angriff auf Venedig „werde an die Spitze des deutschen Schwertes stoßen."

Deutschland lag mit Dänemark wegen Schleswig-Holstein im Kriege, und
gerade diese Herzogtümer sandten so wackre Mitglieder, wie die beiden Beseler,
in die Paulskirche, wo Wilhelm B. den cmanzipationslustigeu Jsraeliten Rießer
als Vizepräsident ablöste. Heckscher, gleichfalls Hamburger und Mitglied des
Fünfzigerausschusses vou Gagerns Partei, setzte am 9. Juni dnrch, daß „die
Genehmigung des mit Dänemark abzuschließenden Friedens nicht der National¬
versammlung vorbehalten sei." Er gewann mehr und mehr Einfluß und war


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/726>, abgerufen am 22.11.2024.