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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Versicherungsschutz und Schutz gegen Versicherung

Es braucht damit noch gar nicht gesagt zu sein, daß der Anspruch an sich be¬
gründet wäre; vielfach mag der Verstoß gegen die Bedingungen auch nur ein
bequemer Vorwand sein, durch den der Verhinderer einen Prozeß abschneidet,
anstatt sich auf eine mühsame und im Ergebnis unsichere Beweisaufnahme
einzulassen.

Zweitens -- und das ist für die Allgemeinheit weitaus das wichtigere --
schaden sich die Versicherungsgesellschaften dnrch ein solches Verfahren selber
am allermeisten. Wenn man es recht bedenkt, so ist es schlechterdings kaum
Zu glauben, welcher Grad von Kleinlichkeit und Kurzsichtigkeit für sie dazu
gehört, sich gegenüber einem wirklichen oder auch mir eingebildeten Entschädi¬
gungsanspruch mit irgend einer rein formalen Bestimmung zu verteidigen; es
liegt doch auf der Hand, daß der davon Betroffne nicht nur für seine Person
fortan jeder Versicherung unzugänglich sein wird (daran mag ja vielleicht nicht
allzuviel verloren sein); aber er wirkt darüber hinaus als abschreckendes Beispiel
für seine ganze Umgebung, für seinen Freundes- und Bekanntenkreis, für sein
Dorf. Den augenblicklichen Vorteil einer ersparten Entschädigungssumme er¬
kauft also der Verhinderer mit der Verschüttung einer Quelle für die Aus¬
dehnung des Geschäftsbetriebs, sozusagen mit der Bestellung eines Gegen¬
agenten -- ein um so wunderlicheres Verhalten, als allgemein bekannt ist,
in wie hohem Maße das Gedeihen einer Versicherungsunternehmung von den
hohen Zahlen des Versicherungsbestandes, des "Portefeuilles" abhängt, denen
gegenüber die einzelne Entschädigungssumme einfach verschwindet, und welcher
gewaltige Teil der Prämien durch die Agentnrprovisionen und die sonstigen
Aufwendungen verschlungen wird, die man im Versicherungsgewerbc unter den
wohlklingenden Ausdrücken "Organisation" und "Requisition" zusammen¬
zufassen pflegt.

Für die großen, gesunden und leistungsfähigen Versicheruugsuuter-
nehmungen erscheint es aus diesem Grunde geradezu als eine Lebensfrage,
daß jeder schiknnöseu Anwendung unbilliger Bertragsparagraphen vorgebeugt
wird. Man muß hoffen, daß die Beschränkungen des Entwurfs gerade bei
ihnen rückhaltlosen Beifall finden werden, insofern als sie dazu beitragen
müssen, alle Vcrsichcrnngsunternehmungcn, die großen und die kleinen, die
anständigen und . . . die andern zu der freien und großartigen Auffassung in
der Behandlung auch streitiger und sogar zweifelhafter Entschüdiguugs-
ansprüche zu erziehn, die allein dem Versicherungswesen seine volle Ent¬
faltung zum Vorteil des Einzelnen und zum Wohle der Gesamtheit zu ver¬
bürgen vermag. ^"r°..>' (Schluß folgt)




Versicherungsschutz und Schutz gegen Versicherung

Es braucht damit noch gar nicht gesagt zu sein, daß der Anspruch an sich be¬
gründet wäre; vielfach mag der Verstoß gegen die Bedingungen auch nur ein
bequemer Vorwand sein, durch den der Verhinderer einen Prozeß abschneidet,
anstatt sich auf eine mühsame und im Ergebnis unsichere Beweisaufnahme
einzulassen.

Zweitens — und das ist für die Allgemeinheit weitaus das wichtigere —
schaden sich die Versicherungsgesellschaften dnrch ein solches Verfahren selber
am allermeisten. Wenn man es recht bedenkt, so ist es schlechterdings kaum
Zu glauben, welcher Grad von Kleinlichkeit und Kurzsichtigkeit für sie dazu
gehört, sich gegenüber einem wirklichen oder auch mir eingebildeten Entschädi¬
gungsanspruch mit irgend einer rein formalen Bestimmung zu verteidigen; es
liegt doch auf der Hand, daß der davon Betroffne nicht nur für seine Person
fortan jeder Versicherung unzugänglich sein wird (daran mag ja vielleicht nicht
allzuviel verloren sein); aber er wirkt darüber hinaus als abschreckendes Beispiel
für seine ganze Umgebung, für seinen Freundes- und Bekanntenkreis, für sein
Dorf. Den augenblicklichen Vorteil einer ersparten Entschädigungssumme er¬
kauft also der Verhinderer mit der Verschüttung einer Quelle für die Aus¬
dehnung des Geschäftsbetriebs, sozusagen mit der Bestellung eines Gegen¬
agenten — ein um so wunderlicheres Verhalten, als allgemein bekannt ist,
in wie hohem Maße das Gedeihen einer Versicherungsunternehmung von den
hohen Zahlen des Versicherungsbestandes, des „Portefeuilles" abhängt, denen
gegenüber die einzelne Entschädigungssumme einfach verschwindet, und welcher
gewaltige Teil der Prämien durch die Agentnrprovisionen und die sonstigen
Aufwendungen verschlungen wird, die man im Versicherungsgewerbc unter den
wohlklingenden Ausdrücken „Organisation" und „Requisition" zusammen¬
zufassen pflegt.

Für die großen, gesunden und leistungsfähigen Versicheruugsuuter-
nehmungen erscheint es aus diesem Grunde geradezu als eine Lebensfrage,
daß jeder schiknnöseu Anwendung unbilliger Bertragsparagraphen vorgebeugt
wird. Man muß hoffen, daß die Beschränkungen des Entwurfs gerade bei
ihnen rückhaltlosen Beifall finden werden, insofern als sie dazu beitragen
müssen, alle Vcrsichcrnngsunternehmungcn, die großen und die kleinen, die
anständigen und . . . die andern zu der freien und großartigen Auffassung in
der Behandlung auch streitiger und sogar zweifelhafter Entschüdiguugs-
ansprüche zu erziehn, die allein dem Versicherungswesen seine volle Ent¬
faltung zum Vorteil des Einzelnen und zum Wohle der Gesamtheit zu ver¬
bürgen vermag. ^„r°..>' (Schluß folgt)




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[0675] Versicherungsschutz und Schutz gegen Versicherung Es braucht damit noch gar nicht gesagt zu sein, daß der Anspruch an sich be¬ gründet wäre; vielfach mag der Verstoß gegen die Bedingungen auch nur ein bequemer Vorwand sein, durch den der Verhinderer einen Prozeß abschneidet, anstatt sich auf eine mühsame und im Ergebnis unsichere Beweisaufnahme einzulassen. Zweitens — und das ist für die Allgemeinheit weitaus das wichtigere — schaden sich die Versicherungsgesellschaften dnrch ein solches Verfahren selber am allermeisten. Wenn man es recht bedenkt, so ist es schlechterdings kaum Zu glauben, welcher Grad von Kleinlichkeit und Kurzsichtigkeit für sie dazu gehört, sich gegenüber einem wirklichen oder auch mir eingebildeten Entschädi¬ gungsanspruch mit irgend einer rein formalen Bestimmung zu verteidigen; es liegt doch auf der Hand, daß der davon Betroffne nicht nur für seine Person fortan jeder Versicherung unzugänglich sein wird (daran mag ja vielleicht nicht allzuviel verloren sein); aber er wirkt darüber hinaus als abschreckendes Beispiel für seine ganze Umgebung, für seinen Freundes- und Bekanntenkreis, für sein Dorf. Den augenblicklichen Vorteil einer ersparten Entschädigungssumme er¬ kauft also der Verhinderer mit der Verschüttung einer Quelle für die Aus¬ dehnung des Geschäftsbetriebs, sozusagen mit der Bestellung eines Gegen¬ agenten — ein um so wunderlicheres Verhalten, als allgemein bekannt ist, in wie hohem Maße das Gedeihen einer Versicherungsunternehmung von den hohen Zahlen des Versicherungsbestandes, des „Portefeuilles" abhängt, denen gegenüber die einzelne Entschädigungssumme einfach verschwindet, und welcher gewaltige Teil der Prämien durch die Agentnrprovisionen und die sonstigen Aufwendungen verschlungen wird, die man im Versicherungsgewerbc unter den wohlklingenden Ausdrücken „Organisation" und „Requisition" zusammen¬ zufassen pflegt. Für die großen, gesunden und leistungsfähigen Versicheruugsuuter- nehmungen erscheint es aus diesem Grunde geradezu als eine Lebensfrage, daß jeder schiknnöseu Anwendung unbilliger Bertragsparagraphen vorgebeugt wird. Man muß hoffen, daß die Beschränkungen des Entwurfs gerade bei ihnen rückhaltlosen Beifall finden werden, insofern als sie dazu beitragen müssen, alle Vcrsichcrnngsunternehmungcn, die großen und die kleinen, die anständigen und . . . die andern zu der freien und großartigen Auffassung in der Behandlung auch streitiger und sogar zweifelhafter Entschüdiguugs- ansprüche zu erziehn, die allein dem Versicherungswesen seine volle Ent¬ faltung zum Vorteil des Einzelnen und zum Wohle der Gesamtheit zu ver¬ bürgen vermag. ^„r°..>' (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/675>, abgerufen am 22.11.2024.