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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Rußland in vorderasien

Zahl der Truppen, die hier operieren können, derart ein, daß man wohl
annehmen kann, mehr als 5000 oder höchstens 7000 Mann werden sich auf
diesem Wege kaum vorbewegen können. Eine Operation gegen Tschitral wird
aber voraussichtlich anßer der Pamirstraße auch die Verbindung von Feisabad
über Schak benutzen.

Fcisnbad hat als Ausgangspunkt für Truppenbewegungen seit 1898 an
Wert gewonnen, da nun die Schiffahrt ans dem Ann-Darja, die früher nur
bis Palla Hissar reichte, bis dorthin fortgeführt ist. Von Tschardschui an
der transkaspischen Bahn aus vermittelt die Ann-Dcirja-Flottille den Verkehr
auf dem Strome bis zur Mündung der Koktscha, dann auf dieser bis Feisabad,
wo ausgedehnte Naphtha- und Warennicderlagen geschaffen wurden. Doch
darf man den Wert dieser Schiffahrtverbindungen nicht überschützen. Was
unterhalb Tschardschui eine Schiffahrt auf dem Ann fast unmöglich macht:
die Veränderlichkeit des Strombettes infolge der enormen Alluvialmassen, die
der Fluß mit sich führt, das erschwert sie, allerdings in geringerm Maße, auch
oberhalb Tschardschui. Die Dampfer fahren sich so oft fest, daß nur in sehr
beschränktem Maße auf das Eintreffen der von Tschardschui abgehenden Dampfer
in Feisabad gerechnet werden kann. Auch ist die Ann-Dnrja-Flottille nach
Zahl- und Tonnengehalt viel zu klein, als daß sie für Truppen- und Material¬
transporte eine ins Gewicht fallende Rolle spielen könnte.

Wenn auch nach allem der Vormarsch auf Tschital nur mit geringen
Truppen unternommen werden kann, für die russische Armee also uur eine
^Perationslinie von sekundärer Bedeutung darstellt, so kann doch in diesem
Vorgehn eine ganz entscheidende Bedeutung liegen. Mit wenig tausend Mann
vermögen die Russen hier den Aufstand der kriegerischen Afridis zu entflammen.
Seit der rein äußerlichen Unterwerfung der Bergvölker im Feldzuge von 1896
bis 1897 stehn die Engländer mit ihnen fast unausgesetzt im Kriegszustande.
Seitdem hat sich ihre Bewaffnung mit modernen Hinterladern vervollkommnet;
von Bender Abbas am Persischen Golf werden Gewehre in Massen durch
Afghanistan nach Tschitral geschmuggelt, und alle Versuche der Engländer,
diesen Handel zu unterbinden, haben die Lieferungen, die zum größten Teil
von englischen Fabriken ausgehn, nicht zu verhindern vermocht.

Die Bedeutung der östlichen Operationslinie der Russen über Gilgit kann
man zur Zeit schwer beurteilen. Es ist sehr wohl möglich, daß bei dem Bau
n Pamirstraße der Gedanke eines Vorgehens ans Gilgit wesentlich ange¬
sprochen hat. Über Gilgit Srinagar zu erreichen und damit das fruchtbare
Hochland von Kaschmir zu gewinnen, ist gewiß, wenn auch erst in einer spätern
Zukunft, ein Ziel des russischen Vorschreitens. Ein Vormarsch von Kaschmir
urs nördliche Indien würde bei ausreichenden Wegen auf keine Schwierigkeiten
Wen. Aber die operative Front der Russen würde damit eine Ausdehnung
on mehr als tausend Kilometern annehmen. Die Operationslinicn sind an sich
con sehr.lang, getrennt durch ganz unwegsame Gebirgszüge; jedes Zusmnmen-
vrrken wird also illusorisch, wenn der Telegraphendraht nach der Operations¬
asts reißt. Fraglich bleibt also, ob die Russen diese östlichste ihrer Operations-
U'nen benutzen werden.


Grenzboten III 1903 75
Rußland in vorderasien

Zahl der Truppen, die hier operieren können, derart ein, daß man wohl
annehmen kann, mehr als 5000 oder höchstens 7000 Mann werden sich auf
diesem Wege kaum vorbewegen können. Eine Operation gegen Tschitral wird
aber voraussichtlich anßer der Pamirstraße auch die Verbindung von Feisabad
über Schak benutzen.

Fcisnbad hat als Ausgangspunkt für Truppenbewegungen seit 1898 an
Wert gewonnen, da nun die Schiffahrt ans dem Ann-Darja, die früher nur
bis Palla Hissar reichte, bis dorthin fortgeführt ist. Von Tschardschui an
der transkaspischen Bahn aus vermittelt die Ann-Dcirja-Flottille den Verkehr
auf dem Strome bis zur Mündung der Koktscha, dann auf dieser bis Feisabad,
wo ausgedehnte Naphtha- und Warennicderlagen geschaffen wurden. Doch
darf man den Wert dieser Schiffahrtverbindungen nicht überschützen. Was
unterhalb Tschardschui eine Schiffahrt auf dem Ann fast unmöglich macht:
die Veränderlichkeit des Strombettes infolge der enormen Alluvialmassen, die
der Fluß mit sich führt, das erschwert sie, allerdings in geringerm Maße, auch
oberhalb Tschardschui. Die Dampfer fahren sich so oft fest, daß nur in sehr
beschränktem Maße auf das Eintreffen der von Tschardschui abgehenden Dampfer
in Feisabad gerechnet werden kann. Auch ist die Ann-Dnrja-Flottille nach
Zahl- und Tonnengehalt viel zu klein, als daß sie für Truppen- und Material¬
transporte eine ins Gewicht fallende Rolle spielen könnte.

Wenn auch nach allem der Vormarsch auf Tschital nur mit geringen
Truppen unternommen werden kann, für die russische Armee also uur eine
^Perationslinie von sekundärer Bedeutung darstellt, so kann doch in diesem
Vorgehn eine ganz entscheidende Bedeutung liegen. Mit wenig tausend Mann
vermögen die Russen hier den Aufstand der kriegerischen Afridis zu entflammen.
Seit der rein äußerlichen Unterwerfung der Bergvölker im Feldzuge von 1896
bis 1897 stehn die Engländer mit ihnen fast unausgesetzt im Kriegszustande.
Seitdem hat sich ihre Bewaffnung mit modernen Hinterladern vervollkommnet;
von Bender Abbas am Persischen Golf werden Gewehre in Massen durch
Afghanistan nach Tschitral geschmuggelt, und alle Versuche der Engländer,
diesen Handel zu unterbinden, haben die Lieferungen, die zum größten Teil
von englischen Fabriken ausgehn, nicht zu verhindern vermocht.

Die Bedeutung der östlichen Operationslinie der Russen über Gilgit kann
man zur Zeit schwer beurteilen. Es ist sehr wohl möglich, daß bei dem Bau
n Pamirstraße der Gedanke eines Vorgehens ans Gilgit wesentlich ange¬
sprochen hat. Über Gilgit Srinagar zu erreichen und damit das fruchtbare
Hochland von Kaschmir zu gewinnen, ist gewiß, wenn auch erst in einer spätern
Zukunft, ein Ziel des russischen Vorschreitens. Ein Vormarsch von Kaschmir
urs nördliche Indien würde bei ausreichenden Wegen auf keine Schwierigkeiten
Wen. Aber die operative Front der Russen würde damit eine Ausdehnung
on mehr als tausend Kilometern annehmen. Die Operationslinicn sind an sich
con sehr.lang, getrennt durch ganz unwegsame Gebirgszüge; jedes Zusmnmen-
vrrken wird also illusorisch, wenn der Telegraphendraht nach der Operations¬
asts reißt. Fraglich bleibt also, ob die Russen diese östlichste ihrer Operations-
U'nen benutzen werden.


Grenzboten III 1903 75
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[0601] Rußland in vorderasien Zahl der Truppen, die hier operieren können, derart ein, daß man wohl annehmen kann, mehr als 5000 oder höchstens 7000 Mann werden sich auf diesem Wege kaum vorbewegen können. Eine Operation gegen Tschitral wird aber voraussichtlich anßer der Pamirstraße auch die Verbindung von Feisabad über Schak benutzen. Fcisnbad hat als Ausgangspunkt für Truppenbewegungen seit 1898 an Wert gewonnen, da nun die Schiffahrt ans dem Ann-Darja, die früher nur bis Palla Hissar reichte, bis dorthin fortgeführt ist. Von Tschardschui an der transkaspischen Bahn aus vermittelt die Ann-Dcirja-Flottille den Verkehr auf dem Strome bis zur Mündung der Koktscha, dann auf dieser bis Feisabad, wo ausgedehnte Naphtha- und Warennicderlagen geschaffen wurden. Doch darf man den Wert dieser Schiffahrtverbindungen nicht überschützen. Was unterhalb Tschardschui eine Schiffahrt auf dem Ann fast unmöglich macht: die Veränderlichkeit des Strombettes infolge der enormen Alluvialmassen, die der Fluß mit sich führt, das erschwert sie, allerdings in geringerm Maße, auch oberhalb Tschardschui. Die Dampfer fahren sich so oft fest, daß nur in sehr beschränktem Maße auf das Eintreffen der von Tschardschui abgehenden Dampfer in Feisabad gerechnet werden kann. Auch ist die Ann-Dnrja-Flottille nach Zahl- und Tonnengehalt viel zu klein, als daß sie für Truppen- und Material¬ transporte eine ins Gewicht fallende Rolle spielen könnte. Wenn auch nach allem der Vormarsch auf Tschital nur mit geringen Truppen unternommen werden kann, für die russische Armee also uur eine ^Perationslinie von sekundärer Bedeutung darstellt, so kann doch in diesem Vorgehn eine ganz entscheidende Bedeutung liegen. Mit wenig tausend Mann vermögen die Russen hier den Aufstand der kriegerischen Afridis zu entflammen. Seit der rein äußerlichen Unterwerfung der Bergvölker im Feldzuge von 1896 bis 1897 stehn die Engländer mit ihnen fast unausgesetzt im Kriegszustande. Seitdem hat sich ihre Bewaffnung mit modernen Hinterladern vervollkommnet; von Bender Abbas am Persischen Golf werden Gewehre in Massen durch Afghanistan nach Tschitral geschmuggelt, und alle Versuche der Engländer, diesen Handel zu unterbinden, haben die Lieferungen, die zum größten Teil von englischen Fabriken ausgehn, nicht zu verhindern vermocht. Die Bedeutung der östlichen Operationslinie der Russen über Gilgit kann man zur Zeit schwer beurteilen. Es ist sehr wohl möglich, daß bei dem Bau n Pamirstraße der Gedanke eines Vorgehens ans Gilgit wesentlich ange¬ sprochen hat. Über Gilgit Srinagar zu erreichen und damit das fruchtbare Hochland von Kaschmir zu gewinnen, ist gewiß, wenn auch erst in einer spätern Zukunft, ein Ziel des russischen Vorschreitens. Ein Vormarsch von Kaschmir urs nördliche Indien würde bei ausreichenden Wegen auf keine Schwierigkeiten Wen. Aber die operative Front der Russen würde damit eine Ausdehnung on mehr als tausend Kilometern annehmen. Die Operationslinicn sind an sich con sehr.lang, getrennt durch ganz unwegsame Gebirgszüge; jedes Zusmnmen- vrrken wird also illusorisch, wenn der Telegraphendraht nach der Operations¬ asts reißt. Fraglich bleibt also, ob die Russen diese östlichste ihrer Operations- U'nen benutzen werden. Grenzboten III 1903 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/601>, abgerufen am 22.11.2024.