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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die Verfassungsfrage in Elsaß - Lothringen

tag entbehrlich. Paragraph 4 des Gesetzes vom 9. Juni 1871 kann also in
folgender Weise geändert werden: "Die Anordnungen und Verfügungen des
Kaisers bedürfen zu ihrer Giltigkeit der Gegenzeichnung des Statthalters oder
seines Stellvertreters, des Staatssekretärs, die hierdurch die Verantwortlichkeit
übernehmen. Die Verantwortlichkeit, die die genannten Beamten bisher dem
Reichstage gegenüber hatten, besteht in Zukunft dem Landesausschuß gegen¬
über." Auf diesem Wege würde zugleich erreicht, was die Abgeordneten Krafft
und Genossen mit der Forderung des Jntcrpellationsrechts erstreben, nämlich
ein formeller Rechtstitel für die ständige Kontrolle der Landesverwaltung durch
den Landesausschuß. Ebenso unbedenklich ist es, dem Landesausschuß die
Prüfung angefochtener Wahlen einzuräumen.

Das Endziel der Entwicklung darf nicht die Oktroyierung eines fremden
Prinzen sein, der im Volk ebensowenig Ansehen und Sympathie genießen
würde wie der Koburger in Bulgarien, auch uicht die Begründung einer
preußischen Sekundogeuitur oder einer Erbstatthalterschaft nach holländischem
Muster. In der Neichstagssitzung vom 8. März 1878 hat der elsüssische Abge¬
ordnete Schneegans beantragt, die Leitung der elsaß-lothringischen Landes-
verwaltung einem Provinzialminister zu übertragen, der unter der Aufsicht des
Reichskanzlers stehn und als dessen Stellvertreter in Straßburg residieren
sollte. Dieser Vorschlag eines Eingebornen enthält noch heute die einfachste
und zweckmäßigste Regelung der Beziehungen zwischen Reich und Reichsland.
Bleibt die formelle Trennung zwischen Reichs- und Landesregierung bestehn, so
kann das Endziel nur die Personalunion mit dem Oberhaupt des Reichs
und des preußischen Staates sein. Die Gleichberechtigung Elsaß-Lothringens
mit den deutschen Bundesstaaten wird nicht durch Partikularistische Sonder¬
politik, sondern nur durch offnen und ehrlichen Anschluß an den Träger der
Reichsgewalt erreicht werden. Es ist möglich, daß ein Teil der nnterelsässischen
und der lothringischen Abgeordneten für eine Personalunion mit Preußen
eintritt. Unwahrscheinlich ist es dagegen, daß sich die große Masse der reichs-
ländischen Klerikalen für die Begründung einer protestantischen Dynastie er¬
wärmt. Noch viel unwahrscheinlicher ist, daß die obcrelsüssischen Demokraten
bei der Errichtung einer konstitutionellen Monarchie mitwirken. Die Aus¬
sichten für die Bildung eines neuen Bundesstaates Elsaß-Lothringen sind also
vorläufig sehr gering.

Die endgiltige Lösung der reichsläudischen Verfassungsfrage wird erst
dann erfolgen, wenn die Elsaß-Lothringer die Mahnung des Dichters Geibel
beherzigen:




Die Verfassungsfrage in Elsaß - Lothringen

tag entbehrlich. Paragraph 4 des Gesetzes vom 9. Juni 1871 kann also in
folgender Weise geändert werden: „Die Anordnungen und Verfügungen des
Kaisers bedürfen zu ihrer Giltigkeit der Gegenzeichnung des Statthalters oder
seines Stellvertreters, des Staatssekretärs, die hierdurch die Verantwortlichkeit
übernehmen. Die Verantwortlichkeit, die die genannten Beamten bisher dem
Reichstage gegenüber hatten, besteht in Zukunft dem Landesausschuß gegen¬
über." Auf diesem Wege würde zugleich erreicht, was die Abgeordneten Krafft
und Genossen mit der Forderung des Jntcrpellationsrechts erstreben, nämlich
ein formeller Rechtstitel für die ständige Kontrolle der Landesverwaltung durch
den Landesausschuß. Ebenso unbedenklich ist es, dem Landesausschuß die
Prüfung angefochtener Wahlen einzuräumen.

Das Endziel der Entwicklung darf nicht die Oktroyierung eines fremden
Prinzen sein, der im Volk ebensowenig Ansehen und Sympathie genießen
würde wie der Koburger in Bulgarien, auch uicht die Begründung einer
preußischen Sekundogeuitur oder einer Erbstatthalterschaft nach holländischem
Muster. In der Neichstagssitzung vom 8. März 1878 hat der elsüssische Abge¬
ordnete Schneegans beantragt, die Leitung der elsaß-lothringischen Landes-
verwaltung einem Provinzialminister zu übertragen, der unter der Aufsicht des
Reichskanzlers stehn und als dessen Stellvertreter in Straßburg residieren
sollte. Dieser Vorschlag eines Eingebornen enthält noch heute die einfachste
und zweckmäßigste Regelung der Beziehungen zwischen Reich und Reichsland.
Bleibt die formelle Trennung zwischen Reichs- und Landesregierung bestehn, so
kann das Endziel nur die Personalunion mit dem Oberhaupt des Reichs
und des preußischen Staates sein. Die Gleichberechtigung Elsaß-Lothringens
mit den deutschen Bundesstaaten wird nicht durch Partikularistische Sonder¬
politik, sondern nur durch offnen und ehrlichen Anschluß an den Träger der
Reichsgewalt erreicht werden. Es ist möglich, daß ein Teil der nnterelsässischen
und der lothringischen Abgeordneten für eine Personalunion mit Preußen
eintritt. Unwahrscheinlich ist es dagegen, daß sich die große Masse der reichs-
ländischen Klerikalen für die Begründung einer protestantischen Dynastie er¬
wärmt. Noch viel unwahrscheinlicher ist, daß die obcrelsüssischen Demokraten
bei der Errichtung einer konstitutionellen Monarchie mitwirken. Die Aus¬
sichten für die Bildung eines neuen Bundesstaates Elsaß-Lothringen sind also
vorläufig sehr gering.

Die endgiltige Lösung der reichsläudischen Verfassungsfrage wird erst
dann erfolgen, wenn die Elsaß-Lothringer die Mahnung des Dichters Geibel
beherzigen:




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[0406] Die Verfassungsfrage in Elsaß - Lothringen tag entbehrlich. Paragraph 4 des Gesetzes vom 9. Juni 1871 kann also in folgender Weise geändert werden: „Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers bedürfen zu ihrer Giltigkeit der Gegenzeichnung des Statthalters oder seines Stellvertreters, des Staatssekretärs, die hierdurch die Verantwortlichkeit übernehmen. Die Verantwortlichkeit, die die genannten Beamten bisher dem Reichstage gegenüber hatten, besteht in Zukunft dem Landesausschuß gegen¬ über." Auf diesem Wege würde zugleich erreicht, was die Abgeordneten Krafft und Genossen mit der Forderung des Jntcrpellationsrechts erstreben, nämlich ein formeller Rechtstitel für die ständige Kontrolle der Landesverwaltung durch den Landesausschuß. Ebenso unbedenklich ist es, dem Landesausschuß die Prüfung angefochtener Wahlen einzuräumen. Das Endziel der Entwicklung darf nicht die Oktroyierung eines fremden Prinzen sein, der im Volk ebensowenig Ansehen und Sympathie genießen würde wie der Koburger in Bulgarien, auch uicht die Begründung einer preußischen Sekundogeuitur oder einer Erbstatthalterschaft nach holländischem Muster. In der Neichstagssitzung vom 8. März 1878 hat der elsüssische Abge¬ ordnete Schneegans beantragt, die Leitung der elsaß-lothringischen Landes- verwaltung einem Provinzialminister zu übertragen, der unter der Aufsicht des Reichskanzlers stehn und als dessen Stellvertreter in Straßburg residieren sollte. Dieser Vorschlag eines Eingebornen enthält noch heute die einfachste und zweckmäßigste Regelung der Beziehungen zwischen Reich und Reichsland. Bleibt die formelle Trennung zwischen Reichs- und Landesregierung bestehn, so kann das Endziel nur die Personalunion mit dem Oberhaupt des Reichs und des preußischen Staates sein. Die Gleichberechtigung Elsaß-Lothringens mit den deutschen Bundesstaaten wird nicht durch Partikularistische Sonder¬ politik, sondern nur durch offnen und ehrlichen Anschluß an den Träger der Reichsgewalt erreicht werden. Es ist möglich, daß ein Teil der nnterelsässischen und der lothringischen Abgeordneten für eine Personalunion mit Preußen eintritt. Unwahrscheinlich ist es dagegen, daß sich die große Masse der reichs- ländischen Klerikalen für die Begründung einer protestantischen Dynastie er¬ wärmt. Noch viel unwahrscheinlicher ist, daß die obcrelsüssischen Demokraten bei der Errichtung einer konstitutionellen Monarchie mitwirken. Die Aus¬ sichten für die Bildung eines neuen Bundesstaates Elsaß-Lothringen sind also vorläufig sehr gering. Die endgiltige Lösung der reichsläudischen Verfassungsfrage wird erst dann erfolgen, wenn die Elsaß-Lothringer die Mahnung des Dichters Geibel beherzigen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/406>, abgerufen am 16.02.2025.