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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

wurden die Schulsäle zur Verfügung gestellt, und der Bürgermeister trat für den
Negierungskandidaten ein. Das Abschreiben der Listen hatte der Gemeinde¬
schreiber zu besorgen, und die Stimmzettel trug der Gemeindediener aus. Als
am Dienstag Abend die Gemeindediener vom Lande die Wahlergebnisse in
die Stadt brachten, war ihr erster Gang in den Luxhof, wo der Generalstab der
Partei Jaunez beim Champagner saß, die treuen Mitarbeiter in der Amtsmütze
empfing, ihnen brüderlich die Hand drückte und sie reichlich mit köstlichem Stoff
versah."

Und der praktische Erfolg solcher Wahlmache ist, daß Leute in den deutschen
Reichstag kommen, die wie de Schmid und Meroe noch nicht einmal so viel, oder
richtiger, so wenig deutsch sprechen können, wie dem gebildeten Elsa'sser durchschnittlich
zur Verständigung ausreichend erscheint.

Es ist noch viel politische Arbeit im Reichsland zu tun; aber wir wieder¬
holen: der Boden ist dankbar, er würde denen eine gute Ernte geben, die die
Samenkörner reiner edler Freiheit und echter Vaterlandsliebe auszustreuen ver¬
stü L. G, nden.


Wie notwendig die Diakonissen sind.

Unsre Schwestern, ein Wort
über und für die Diakonissen, betitelt der Pastor Dr. Theodor Schäfer, Direktor
der Diakonissenanstalt zu Altona, eine (im Stiftungsverlag, Potsdam, Mirbnchstraße 2,
1903 erschienene) Schrift, die wir allen sozial Tätigen empfehlen. Das besitzanzeigende
"unser" bezieht sich auf den Verein Frauenhilfe, auf dessen Wunsch und für dessen
Organ der Verfasser die hier zusammengefaßten Aufsätze geschrieben hat. Es wird
darin gezeigt, daß die Diakonisse nicht überall notwendig ist, nämlich dort nicht, wo
die Verhältnisse übersehbar und geordnet sind, was auf manchen Dörfern und in
manchen kleinen Städten der Fall ist, und wo noch -- auf dieses noch sei großes
Gewicht zu legen -- patriarchalische Fürsorge den Armen zuteil wird. An solchen
Orten genügt in Krankheitsfällen die Hilfe der Nachbarn, Verwandten, Guts- und
sonstigen Brotherrschaften. Aber solche Verhältnisse werden bekanntlich in dem Maße
seltener, als sich das Großstadtleben ausdehnt und der Kapitalismus mit der
Sozialdemokratie zusammenwirkt, alle etwa noch vorhandnen patriarchalischen Be¬
ziehungen vollends zu vernichten. Und da geht es denn vielfach zu, wie in einer
Wohnung, die Schäfer beschreibt. "Die Kranke liegt im häßlichen Schmutz eines
unbeschreiblichen Betts, zwei Kinder sitzen halbnackt am Tisch und kauen gesottene
Kartoffeln, die ihnen der Vater beim Weggehn gegeben hat, der Säugling liegt im
Kot, an einem mit eingeweichtem Brot gefüllten schwarzen Lappen saugend. Die
Frau stammt aus einem andern Orte, und ihre Angehörigen, die von Hause schwer
abkommen können, haben einen weiten Weg zurückzulegen, wenn sie einmal bei der
Tochter und Schwester rein machen, für Mann und Kinder etwas kochen wollen.
Es kommen ja auch Leute aus dem Orte, tun einige Handgriffe, bringen Speisen
mit; aber von Zeit zu Zeit den Kopf hereinsteckeu, das ist keine geregelte Pflege
und Fürsorge; wie kann dabei ein Mensch gesund werden? Auch lassen es der
Ortsvorstand, der Kirchenvorstand und einzelne Wohltäter nicht an Geldunterstützung
fehlen, allein der Taler kann doch nicht hegen und pflegen." In solchen Fällen
müssen also die Armen geradezu verkommen, wenn keine Schwester am Orte ist;
Vereinsdamen, die ja all ihre eignen häuslichen Pflichten haben, können sie nicht
ersetzen, sondern können nur mit Hilfe der Schwestern die Armen- und Krankenpflege
organisieren und überwachen. Schwestern werden denn auch allerorten verlangt,
aber oft nicht auf die richtige Weise. Der Verfasser gibt an, wie Vereine und
Ortsbehörden Verfahren müssen, um welche zu bekommen, soweit überhaupt welche
verfügbar sind; denn ihre Zahl ist allerdings viel zu gering, trotzdem daß von den
15 000 evangelischen Diakonissen, die es in der Welt gibt, 12 000 auf Deutschland
kommen. Eingefügt ist auch eine Geschichte des Diakonisseninstituts von der Apostel-
zett an.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

wurden die Schulsäle zur Verfügung gestellt, und der Bürgermeister trat für den
Negierungskandidaten ein. Das Abschreiben der Listen hatte der Gemeinde¬
schreiber zu besorgen, und die Stimmzettel trug der Gemeindediener aus. Als
am Dienstag Abend die Gemeindediener vom Lande die Wahlergebnisse in
die Stadt brachten, war ihr erster Gang in den Luxhof, wo der Generalstab der
Partei Jaunez beim Champagner saß, die treuen Mitarbeiter in der Amtsmütze
empfing, ihnen brüderlich die Hand drückte und sie reichlich mit köstlichem Stoff
versah."

Und der praktische Erfolg solcher Wahlmache ist, daß Leute in den deutschen
Reichstag kommen, die wie de Schmid und Meroe noch nicht einmal so viel, oder
richtiger, so wenig deutsch sprechen können, wie dem gebildeten Elsa'sser durchschnittlich
zur Verständigung ausreichend erscheint.

Es ist noch viel politische Arbeit im Reichsland zu tun; aber wir wieder¬
holen: der Boden ist dankbar, er würde denen eine gute Ernte geben, die die
Samenkörner reiner edler Freiheit und echter Vaterlandsliebe auszustreuen ver¬
stü L. G, nden.


Wie notwendig die Diakonissen sind.

Unsre Schwestern, ein Wort
über und für die Diakonissen, betitelt der Pastor Dr. Theodor Schäfer, Direktor
der Diakonissenanstalt zu Altona, eine (im Stiftungsverlag, Potsdam, Mirbnchstraße 2,
1903 erschienene) Schrift, die wir allen sozial Tätigen empfehlen. Das besitzanzeigende
„unser" bezieht sich auf den Verein Frauenhilfe, auf dessen Wunsch und für dessen
Organ der Verfasser die hier zusammengefaßten Aufsätze geschrieben hat. Es wird
darin gezeigt, daß die Diakonisse nicht überall notwendig ist, nämlich dort nicht, wo
die Verhältnisse übersehbar und geordnet sind, was auf manchen Dörfern und in
manchen kleinen Städten der Fall ist, und wo noch — auf dieses noch sei großes
Gewicht zu legen — patriarchalische Fürsorge den Armen zuteil wird. An solchen
Orten genügt in Krankheitsfällen die Hilfe der Nachbarn, Verwandten, Guts- und
sonstigen Brotherrschaften. Aber solche Verhältnisse werden bekanntlich in dem Maße
seltener, als sich das Großstadtleben ausdehnt und der Kapitalismus mit der
Sozialdemokratie zusammenwirkt, alle etwa noch vorhandnen patriarchalischen Be¬
ziehungen vollends zu vernichten. Und da geht es denn vielfach zu, wie in einer
Wohnung, die Schäfer beschreibt. „Die Kranke liegt im häßlichen Schmutz eines
unbeschreiblichen Betts, zwei Kinder sitzen halbnackt am Tisch und kauen gesottene
Kartoffeln, die ihnen der Vater beim Weggehn gegeben hat, der Säugling liegt im
Kot, an einem mit eingeweichtem Brot gefüllten schwarzen Lappen saugend. Die
Frau stammt aus einem andern Orte, und ihre Angehörigen, die von Hause schwer
abkommen können, haben einen weiten Weg zurückzulegen, wenn sie einmal bei der
Tochter und Schwester rein machen, für Mann und Kinder etwas kochen wollen.
Es kommen ja auch Leute aus dem Orte, tun einige Handgriffe, bringen Speisen
mit; aber von Zeit zu Zeit den Kopf hereinsteckeu, das ist keine geregelte Pflege
und Fürsorge; wie kann dabei ein Mensch gesund werden? Auch lassen es der
Ortsvorstand, der Kirchenvorstand und einzelne Wohltäter nicht an Geldunterstützung
fehlen, allein der Taler kann doch nicht hegen und pflegen." In solchen Fällen
müssen also die Armen geradezu verkommen, wenn keine Schwester am Orte ist;
Vereinsdamen, die ja all ihre eignen häuslichen Pflichten haben, können sie nicht
ersetzen, sondern können nur mit Hilfe der Schwestern die Armen- und Krankenpflege
organisieren und überwachen. Schwestern werden denn auch allerorten verlangt,
aber oft nicht auf die richtige Weise. Der Verfasser gibt an, wie Vereine und
Ortsbehörden Verfahren müssen, um welche zu bekommen, soweit überhaupt welche
verfügbar sind; denn ihre Zahl ist allerdings viel zu gering, trotzdem daß von den
15 000 evangelischen Diakonissen, die es in der Welt gibt, 12 000 auf Deutschland
kommen. Eingefügt ist auch eine Geschichte des Diakonisseninstituts von der Apostel-
zett an.




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[0386] Maßgebliches und Unmaßgebliches wurden die Schulsäle zur Verfügung gestellt, und der Bürgermeister trat für den Negierungskandidaten ein. Das Abschreiben der Listen hatte der Gemeinde¬ schreiber zu besorgen, und die Stimmzettel trug der Gemeindediener aus. Als am Dienstag Abend die Gemeindediener vom Lande die Wahlergebnisse in die Stadt brachten, war ihr erster Gang in den Luxhof, wo der Generalstab der Partei Jaunez beim Champagner saß, die treuen Mitarbeiter in der Amtsmütze empfing, ihnen brüderlich die Hand drückte und sie reichlich mit köstlichem Stoff versah." Und der praktische Erfolg solcher Wahlmache ist, daß Leute in den deutschen Reichstag kommen, die wie de Schmid und Meroe noch nicht einmal so viel, oder richtiger, so wenig deutsch sprechen können, wie dem gebildeten Elsa'sser durchschnittlich zur Verständigung ausreichend erscheint. Es ist noch viel politische Arbeit im Reichsland zu tun; aber wir wieder¬ holen: der Boden ist dankbar, er würde denen eine gute Ernte geben, die die Samenkörner reiner edler Freiheit und echter Vaterlandsliebe auszustreuen ver¬ stü L. G, nden. Wie notwendig die Diakonissen sind. Unsre Schwestern, ein Wort über und für die Diakonissen, betitelt der Pastor Dr. Theodor Schäfer, Direktor der Diakonissenanstalt zu Altona, eine (im Stiftungsverlag, Potsdam, Mirbnchstraße 2, 1903 erschienene) Schrift, die wir allen sozial Tätigen empfehlen. Das besitzanzeigende „unser" bezieht sich auf den Verein Frauenhilfe, auf dessen Wunsch und für dessen Organ der Verfasser die hier zusammengefaßten Aufsätze geschrieben hat. Es wird darin gezeigt, daß die Diakonisse nicht überall notwendig ist, nämlich dort nicht, wo die Verhältnisse übersehbar und geordnet sind, was auf manchen Dörfern und in manchen kleinen Städten der Fall ist, und wo noch — auf dieses noch sei großes Gewicht zu legen — patriarchalische Fürsorge den Armen zuteil wird. An solchen Orten genügt in Krankheitsfällen die Hilfe der Nachbarn, Verwandten, Guts- und sonstigen Brotherrschaften. Aber solche Verhältnisse werden bekanntlich in dem Maße seltener, als sich das Großstadtleben ausdehnt und der Kapitalismus mit der Sozialdemokratie zusammenwirkt, alle etwa noch vorhandnen patriarchalischen Be¬ ziehungen vollends zu vernichten. Und da geht es denn vielfach zu, wie in einer Wohnung, die Schäfer beschreibt. „Die Kranke liegt im häßlichen Schmutz eines unbeschreiblichen Betts, zwei Kinder sitzen halbnackt am Tisch und kauen gesottene Kartoffeln, die ihnen der Vater beim Weggehn gegeben hat, der Säugling liegt im Kot, an einem mit eingeweichtem Brot gefüllten schwarzen Lappen saugend. Die Frau stammt aus einem andern Orte, und ihre Angehörigen, die von Hause schwer abkommen können, haben einen weiten Weg zurückzulegen, wenn sie einmal bei der Tochter und Schwester rein machen, für Mann und Kinder etwas kochen wollen. Es kommen ja auch Leute aus dem Orte, tun einige Handgriffe, bringen Speisen mit; aber von Zeit zu Zeit den Kopf hereinsteckeu, das ist keine geregelte Pflege und Fürsorge; wie kann dabei ein Mensch gesund werden? Auch lassen es der Ortsvorstand, der Kirchenvorstand und einzelne Wohltäter nicht an Geldunterstützung fehlen, allein der Taler kann doch nicht hegen und pflegen." In solchen Fällen müssen also die Armen geradezu verkommen, wenn keine Schwester am Orte ist; Vereinsdamen, die ja all ihre eignen häuslichen Pflichten haben, können sie nicht ersetzen, sondern können nur mit Hilfe der Schwestern die Armen- und Krankenpflege organisieren und überwachen. Schwestern werden denn auch allerorten verlangt, aber oft nicht auf die richtige Weise. Der Verfasser gibt an, wie Vereine und Ortsbehörden Verfahren müssen, um welche zu bekommen, soweit überhaupt welche verfügbar sind; denn ihre Zahl ist allerdings viel zu gering, trotzdem daß von den 15 000 evangelischen Diakonissen, die es in der Welt gibt, 12 000 auf Deutschland kommen. Eingefügt ist auch eine Geschichte des Diakonisseninstituts von der Apostel- zett an.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/386>, abgerufen am 25.11.2024.