nur die eine Gabe blieb ihm versagt, auf die ihn umgebenden fremden Volks¬ stämme politisch oder national anziehend zu wirken. Der magyarische Staats- gedanke gewann keine werbende Kraft; nur soweit die unmittelbare Gewalt des Staates reicht, findet er bei den Nichtmagyaren Anerkennung, bleibt aber für ihre Gesamtheit ein drückendes, verhaßtes Joch. -- Fürst Bismarck hatte nach dem Jahre 1866 der Monarchie den wohlgemeinten Rat gegeben, ihren Schwerpunkt nach Pest zu verlegen. Die Magyaren haben sich das wohl gemerkt; sie beanspruchen, seitdem die Entwicklung der Monarchie nach dem Norden und dem Westen hin abgeschlossen war, die Führung im Staat, aber sie haben bis heute nicht begriffen, daß eine solche Führung nicht nur Rechte sondern auch Pflichte" auferlegt, und daß die Verlegung des Schwerpunkts der Monarchie nach Pest das Reich nur dann nicht aus dem Gleichgewicht bringen wird, wenn das Magyarentum imstande und gewillt ist, eine Politik zu machen, die den natürlichen Bedürfnissen der Monarchie im Südosten gerecht wird. Dafür ist man aber in Pest nicht zu haben, denn das Magyarentum wähnt zwar noch, imstande zu sein, die ungnrlündischen Nichtmagyaren zu verdauen, fühlt aber doch zu sehr seine Ohnmacht, als daß es an die Assi- milierung aller Südslawen dächte. Eine sehr interessante Erscheinung ist in dieser Beziehung ein kürzlich erschienenes Buch: "Großuugarn." Der ungarische Schriftsteller Hoitsy spricht da mit schwungvoller Begeisterung von dem Beruf des Magyarentums, die Valkanslawen politisch zu organisieren und zu einem Großungarn zusammenzufassen, das, von der Adria bis zum Schwarzen Meere reichend, dem magyarischen Volk eine bedeutende Zukunft sichern würde. Gewiß viel Phantasie, in der aber auch ein guter politischer Kern steckt, den der echte Magyar allerdings nicht sieht. Hoitsy selbst ist ja keiner, sondern ein magyarisierter Slowak, und das erklärt es, daß er sich über den be¬ schränkten Horizont des isolierten und isoliert bleiben wollenden Mngyaren- tnms zu einem höhern politischen Gedanken hat erheben können. Schließlich ist den Magyaren daraus kein allzuschwerer Vorwurf zu macheu; der Fehler ihrer Politik liegt in der Täuschung über die Grenzen der eignen Kraft, in ihrer törichten Beschränkung auf die Interessen der eignen Vvlksindividualität, die -- was man in Pest allerdings übersieht -- der Vernichtung anheim¬ fallen muß, wenn sich einmal der Nahmen der Monarchie löst. Aber in Wien Hütte man ein besseres Urteil haben können; hier hätte man erkennen sollen, daß in dem Augenblicke, wo sich das Magyarentum als zu schwach erweist, die Stämme Ungarns zu einer politischen uno nationalen Indi¬ vidualität zusammenzuschmieden, die darauf zielende Politik den Staat ge¬ fährden müsse. Aber weil die Magyaren den absolutistischen Zentralismus besiegt hatten, glaubte man, daß sie anch mit ihren nichtmagyarischen Landes- geuosseu fertig werden würden, indem man ganz vergaß, daß derselbe natio¬ nale Gedanke, der das Magyarentum zum Widerstand gegen die Politik nach 1849 befähigt hatte, auch den Sndslawen, Slowaken, Rumänen und Deutschen Ungarns den Nacken steifen lind die Arme stählen würde gegen die Magyaren.
Durch die dualistische Verfcissuug begab mau sich in Wien jedes Ein-
Die orientalische Frage
nur die eine Gabe blieb ihm versagt, auf die ihn umgebenden fremden Volks¬ stämme politisch oder national anziehend zu wirken. Der magyarische Staats- gedanke gewann keine werbende Kraft; nur soweit die unmittelbare Gewalt des Staates reicht, findet er bei den Nichtmagyaren Anerkennung, bleibt aber für ihre Gesamtheit ein drückendes, verhaßtes Joch. — Fürst Bismarck hatte nach dem Jahre 1866 der Monarchie den wohlgemeinten Rat gegeben, ihren Schwerpunkt nach Pest zu verlegen. Die Magyaren haben sich das wohl gemerkt; sie beanspruchen, seitdem die Entwicklung der Monarchie nach dem Norden und dem Westen hin abgeschlossen war, die Führung im Staat, aber sie haben bis heute nicht begriffen, daß eine solche Führung nicht nur Rechte sondern auch Pflichte» auferlegt, und daß die Verlegung des Schwerpunkts der Monarchie nach Pest das Reich nur dann nicht aus dem Gleichgewicht bringen wird, wenn das Magyarentum imstande und gewillt ist, eine Politik zu machen, die den natürlichen Bedürfnissen der Monarchie im Südosten gerecht wird. Dafür ist man aber in Pest nicht zu haben, denn das Magyarentum wähnt zwar noch, imstande zu sein, die ungnrlündischen Nichtmagyaren zu verdauen, fühlt aber doch zu sehr seine Ohnmacht, als daß es an die Assi- milierung aller Südslawen dächte. Eine sehr interessante Erscheinung ist in dieser Beziehung ein kürzlich erschienenes Buch: „Großuugarn." Der ungarische Schriftsteller Hoitsy spricht da mit schwungvoller Begeisterung von dem Beruf des Magyarentums, die Valkanslawen politisch zu organisieren und zu einem Großungarn zusammenzufassen, das, von der Adria bis zum Schwarzen Meere reichend, dem magyarischen Volk eine bedeutende Zukunft sichern würde. Gewiß viel Phantasie, in der aber auch ein guter politischer Kern steckt, den der echte Magyar allerdings nicht sieht. Hoitsy selbst ist ja keiner, sondern ein magyarisierter Slowak, und das erklärt es, daß er sich über den be¬ schränkten Horizont des isolierten und isoliert bleiben wollenden Mngyaren- tnms zu einem höhern politischen Gedanken hat erheben können. Schließlich ist den Magyaren daraus kein allzuschwerer Vorwurf zu macheu; der Fehler ihrer Politik liegt in der Täuschung über die Grenzen der eignen Kraft, in ihrer törichten Beschränkung auf die Interessen der eignen Vvlksindividualität, die — was man in Pest allerdings übersieht — der Vernichtung anheim¬ fallen muß, wenn sich einmal der Nahmen der Monarchie löst. Aber in Wien Hütte man ein besseres Urteil haben können; hier hätte man erkennen sollen, daß in dem Augenblicke, wo sich das Magyarentum als zu schwach erweist, die Stämme Ungarns zu einer politischen uno nationalen Indi¬ vidualität zusammenzuschmieden, die darauf zielende Politik den Staat ge¬ fährden müsse. Aber weil die Magyaren den absolutistischen Zentralismus besiegt hatten, glaubte man, daß sie anch mit ihren nichtmagyarischen Landes- geuosseu fertig werden würden, indem man ganz vergaß, daß derselbe natio¬ nale Gedanke, der das Magyarentum zum Widerstand gegen die Politik nach 1849 befähigt hatte, auch den Sndslawen, Slowaken, Rumänen und Deutschen Ungarns den Nacken steifen lind die Arme stählen würde gegen die Magyaren.
Durch die dualistische Verfcissuug begab mau sich in Wien jedes Ein-
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Die orientalische Frage
nur die eine Gabe blieb ihm versagt, auf die ihn umgebenden fremden Volks¬
stämme politisch oder national anziehend zu wirken. Der magyarische Staats-
gedanke gewann keine werbende Kraft; nur soweit die unmittelbare Gewalt
des Staates reicht, findet er bei den Nichtmagyaren Anerkennung, bleibt aber
für ihre Gesamtheit ein drückendes, verhaßtes Joch. — Fürst Bismarck hatte
nach dem Jahre 1866 der Monarchie den wohlgemeinten Rat gegeben, ihren
Schwerpunkt nach Pest zu verlegen. Die Magyaren haben sich das wohl
gemerkt; sie beanspruchen, seitdem die Entwicklung der Monarchie nach dem
Norden und dem Westen hin abgeschlossen war, die Führung im Staat, aber
sie haben bis heute nicht begriffen, daß eine solche Führung nicht nur Rechte
sondern auch Pflichte» auferlegt, und daß die Verlegung des Schwerpunkts
der Monarchie nach Pest das Reich nur dann nicht aus dem Gleichgewicht
bringen wird, wenn das Magyarentum imstande und gewillt ist, eine Politik
zu machen, die den natürlichen Bedürfnissen der Monarchie im Südosten gerecht
wird. Dafür ist man aber in Pest nicht zu haben, denn das Magyarentum
wähnt zwar noch, imstande zu sein, die ungnrlündischen Nichtmagyaren zu
verdauen, fühlt aber doch zu sehr seine Ohnmacht, als daß es an die Assi-
milierung aller Südslawen dächte. Eine sehr interessante Erscheinung ist in
dieser Beziehung ein kürzlich erschienenes Buch: „Großuugarn." Der ungarische
Schriftsteller Hoitsy spricht da mit schwungvoller Begeisterung von dem Beruf
des Magyarentums, die Valkanslawen politisch zu organisieren und zu einem
Großungarn zusammenzufassen, das, von der Adria bis zum Schwarzen Meere
reichend, dem magyarischen Volk eine bedeutende Zukunft sichern würde.
Gewiß viel Phantasie, in der aber auch ein guter politischer Kern steckt, den
der echte Magyar allerdings nicht sieht. Hoitsy selbst ist ja keiner, sondern
ein magyarisierter Slowak, und das erklärt es, daß er sich über den be¬
schränkten Horizont des isolierten und isoliert bleiben wollenden Mngyaren-
tnms zu einem höhern politischen Gedanken hat erheben können. Schließlich
ist den Magyaren daraus kein allzuschwerer Vorwurf zu macheu; der Fehler
ihrer Politik liegt in der Täuschung über die Grenzen der eignen Kraft, in
ihrer törichten Beschränkung auf die Interessen der eignen Vvlksindividualität,
die — was man in Pest allerdings übersieht — der Vernichtung anheim¬
fallen muß, wenn sich einmal der Nahmen der Monarchie löst. Aber in
Wien Hütte man ein besseres Urteil haben können; hier hätte man erkennen
sollen, daß in dem Augenblicke, wo sich das Magyarentum als zu schwach
erweist, die Stämme Ungarns zu einer politischen uno nationalen Indi¬
vidualität zusammenzuschmieden, die darauf zielende Politik den Staat ge¬
fährden müsse. Aber weil die Magyaren den absolutistischen Zentralismus
besiegt hatten, glaubte man, daß sie anch mit ihren nichtmagyarischen Landes-
geuosseu fertig werden würden, indem man ganz vergaß, daß derselbe natio¬
nale Gedanke, der das Magyarentum zum Widerstand gegen die Politik
nach 1849 befähigt hatte, auch den Sndslawen, Slowaken, Rumänen und
Deutschen Ungarns den Nacken steifen lind die Arme stählen würde gegen die
Magyaren.
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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/342>, abgerufen am 24.11.2024.
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