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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

bandsbilduug er den Vorzug zu geben hat. Aber nicht die Vernunft allein ent¬
scheidet dabei, sondern neben ihr tun es die Gefühle der großen Massen und die
Richtung, in der sich ihr Trieb, zu verehren und zu glauben, bewegt. Nur
die Formen, in denen sich dieser mächtige Grundtrieb äußert, und die Gegen¬
stände und Persönlichkeiten, auf die er sich richtet, ändern sich und wechseln; er
selbst dauert mit gleicher Stärke, begeistert die Blutzeugen der Religion wie die
Helden der politischen Geschichte und schart um sie die Tausende und Millionen
d Georg Siepers er Namenlosen.


Fichte rsäivivns.

Johannes Lnngermnnn schreibt über Probleme der
Erziehung (Elberfeld, Bädeker, 1902), und zwar im größten Stil. Sein Vater, der
als Dorfschullehrer mit Erfolg an der Hebung der Sittlichkeit eines ganzen Dorfes
gearbeitet hat, beweist ihm durch sein Leben die Wahrheit des Wortes aus der
dritten der Reden an die deutsche Nation: "Bisher wurde die Menschheit, was sie
eben wurde und werden konnte. Mit diesem Werden durch das Ohngefähr ist es
vorbei; denn da, wo sie am allerweitesten sich entwickelt hat, ist sie zu nichts ge¬
worden. Soll sie nicht bleiben in diesem Nichts, so muß sie von nnn an zu allem,
was sie noch weiter werden soll, sich selbst macheu." Der zweite, der pädagogische
Teil des Stcinschen Reformwerks sei unausgeführt geblieben; darum herrschten heute
Klasseninteressen, Verbrechen und Laster. Die Leitung des Volks müsse aus den
Händen der Juristen, die gleich den Ärzten nur "Korrektionsorgane," zur Zeit
noch notwendige Übel seien, in die der Pädagogen übergehn. Diese leisten auf¬
bauende, schöpferische Arbeit, und ihr Standesinteresse fällt mit dem Volksinteresse
zusammen, fordert das Gedeihen des Guten. Den Juristen und den Arzt zwingt
ihr Interesse zu wünschen, daß es niemals an Verbrechen, an selbstsüchtigem Zank
um Mein und Dein, an Krankheit und allerlei Elend fehle. "Der Umwandlungs¬
prozeß darf organisch nur in der Weise vor sich gehn, daß das juristische Organ
in angemessenen Tempo durch das pädagogische Organ überflüssig gemacht und in
demselben Tempo aufgesaugt wird, bis es an unserm Volkskörper allmählich ganz
verschwindet." Demnach müssen die besten Männer, statt wie bisher dem Jnristen-
stande, vielmehr dem Stande der Volkserzieher zugeführt werden. Den toten Punkt
zu überwinden, die große Umwälzung einzuleiten, ist die Hohenzollerndynastie be¬
fähigt und berufen; erfüllt sie ihren Beruf, so wird sie das deutsche Volk und
damit die Menschheit vor dem drohenden Verderben retten. Der Verfasser huldigt
der Darwinischen Entwicklungstheorie und sucht deren Gesetze an der geschichtlichen
Entwicklung des deutschen Volks nachzuweisen. Den verstorbnen Egidy verehrt er
als zweiten Fichte und als den "Märtyrer der Nationalerziehnngsidee."


Aaäo in Oöimsnz'.

Beim Durchblättern eines Heftes der Zukunft stieß
ich jüngst auf eine Bemerkung, die mich nachdenklich stimmte. In einer Polemik gegen
Hoensbroech wird da der Legende von der jungen und schönen Schwester Pfört¬
nerin gedacht, die, von Sinnenlust hingerissen, ihrem Kloster entläuft, fünfzehn Jahre
als Dirne lebt, verblüht ins Kloster zurückkehrt, um die verdiente Strafe zu erleiden,
an der Pforte aber die Jungfrau Maria findet, die sie während ihrer Abwesenheit
vertreten hat. Hoensbroech hatte das Blödsinn genannt und dadurch dem Artikcl-
schreiber eine Bemerkung entlockt über mathematisch-logisch-scholastische Jesniten-
seelen, die keine" Sinn für Geschichte und Poesie haben. Aber, ruft er tröstlich
ans, vielleicht hätte Hoensbroech ans dieses Schimpfwort verzichtet, wenn er gewußt
hätte, daß ein englischer Dichter die Legende bearbeitet, und daß ein Feuilletonist der
Frankfurter Zeitung über die Dichtung berichtet hat, entzückt nicht allein von der modernen
Bearbeitung, sondern auch von der Schönheit und Tiefe der alten Legende.

Ein englischer Dichter! Mein Gott, hatte ich zuerst gedacht, das ist ja doch die
vierte der sieben Legenden von Gottfried Keller, die vielleicht jemand ins Englische
übersetzt hat. Stimmt das, dann ists doch schade, daß keine Verpflichtung besteht,
auch an Dichterwerken das Zeichen nuulo in ysrman)' irgendwo anzubringen, denn ich
nehme an, daß der Artikelschreibcr der Zukunft lieber noch den Gottfried Keller als


Gren,boten II> 1903 40
Maßgebliches und Unmaßgebliches

bandsbilduug er den Vorzug zu geben hat. Aber nicht die Vernunft allein ent¬
scheidet dabei, sondern neben ihr tun es die Gefühle der großen Massen und die
Richtung, in der sich ihr Trieb, zu verehren und zu glauben, bewegt. Nur
die Formen, in denen sich dieser mächtige Grundtrieb äußert, und die Gegen¬
stände und Persönlichkeiten, auf die er sich richtet, ändern sich und wechseln; er
selbst dauert mit gleicher Stärke, begeistert die Blutzeugen der Religion wie die
Helden der politischen Geschichte und schart um sie die Tausende und Millionen
d Georg Siepers er Namenlosen.


Fichte rsäivivns.

Johannes Lnngermnnn schreibt über Probleme der
Erziehung (Elberfeld, Bädeker, 1902), und zwar im größten Stil. Sein Vater, der
als Dorfschullehrer mit Erfolg an der Hebung der Sittlichkeit eines ganzen Dorfes
gearbeitet hat, beweist ihm durch sein Leben die Wahrheit des Wortes aus der
dritten der Reden an die deutsche Nation: „Bisher wurde die Menschheit, was sie
eben wurde und werden konnte. Mit diesem Werden durch das Ohngefähr ist es
vorbei; denn da, wo sie am allerweitesten sich entwickelt hat, ist sie zu nichts ge¬
worden. Soll sie nicht bleiben in diesem Nichts, so muß sie von nnn an zu allem,
was sie noch weiter werden soll, sich selbst macheu." Der zweite, der pädagogische
Teil des Stcinschen Reformwerks sei unausgeführt geblieben; darum herrschten heute
Klasseninteressen, Verbrechen und Laster. Die Leitung des Volks müsse aus den
Händen der Juristen, die gleich den Ärzten nur „Korrektionsorgane," zur Zeit
noch notwendige Übel seien, in die der Pädagogen übergehn. Diese leisten auf¬
bauende, schöpferische Arbeit, und ihr Standesinteresse fällt mit dem Volksinteresse
zusammen, fordert das Gedeihen des Guten. Den Juristen und den Arzt zwingt
ihr Interesse zu wünschen, daß es niemals an Verbrechen, an selbstsüchtigem Zank
um Mein und Dein, an Krankheit und allerlei Elend fehle. „Der Umwandlungs¬
prozeß darf organisch nur in der Weise vor sich gehn, daß das juristische Organ
in angemessenen Tempo durch das pädagogische Organ überflüssig gemacht und in
demselben Tempo aufgesaugt wird, bis es an unserm Volkskörper allmählich ganz
verschwindet." Demnach müssen die besten Männer, statt wie bisher dem Jnristen-
stande, vielmehr dem Stande der Volkserzieher zugeführt werden. Den toten Punkt
zu überwinden, die große Umwälzung einzuleiten, ist die Hohenzollerndynastie be¬
fähigt und berufen; erfüllt sie ihren Beruf, so wird sie das deutsche Volk und
damit die Menschheit vor dem drohenden Verderben retten. Der Verfasser huldigt
der Darwinischen Entwicklungstheorie und sucht deren Gesetze an der geschichtlichen
Entwicklung des deutschen Volks nachzuweisen. Den verstorbnen Egidy verehrt er
als zweiten Fichte und als den „Märtyrer der Nationalerziehnngsidee."


Aaäo in Oöimsnz'.

Beim Durchblättern eines Heftes der Zukunft stieß
ich jüngst auf eine Bemerkung, die mich nachdenklich stimmte. In einer Polemik gegen
Hoensbroech wird da der Legende von der jungen und schönen Schwester Pfört¬
nerin gedacht, die, von Sinnenlust hingerissen, ihrem Kloster entläuft, fünfzehn Jahre
als Dirne lebt, verblüht ins Kloster zurückkehrt, um die verdiente Strafe zu erleiden,
an der Pforte aber die Jungfrau Maria findet, die sie während ihrer Abwesenheit
vertreten hat. Hoensbroech hatte das Blödsinn genannt und dadurch dem Artikcl-
schreiber eine Bemerkung entlockt über mathematisch-logisch-scholastische Jesniten-
seelen, die keine» Sinn für Geschichte und Poesie haben. Aber, ruft er tröstlich
ans, vielleicht hätte Hoensbroech ans dieses Schimpfwort verzichtet, wenn er gewußt
hätte, daß ein englischer Dichter die Legende bearbeitet, und daß ein Feuilletonist der
Frankfurter Zeitung über die Dichtung berichtet hat, entzückt nicht allein von der modernen
Bearbeitung, sondern auch von der Schönheit und Tiefe der alten Legende.

Ein englischer Dichter! Mein Gott, hatte ich zuerst gedacht, das ist ja doch die
vierte der sieben Legenden von Gottfried Keller, die vielleicht jemand ins Englische
übersetzt hat. Stimmt das, dann ists doch schade, daß keine Verpflichtung besteht,
auch an Dichterwerken das Zeichen nuulo in ysrman)' irgendwo anzubringen, denn ich
nehme an, daß der Artikelschreibcr der Zukunft lieber noch den Gottfried Keller als


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[0321] Maßgebliches und Unmaßgebliches bandsbilduug er den Vorzug zu geben hat. Aber nicht die Vernunft allein ent¬ scheidet dabei, sondern neben ihr tun es die Gefühle der großen Massen und die Richtung, in der sich ihr Trieb, zu verehren und zu glauben, bewegt. Nur die Formen, in denen sich dieser mächtige Grundtrieb äußert, und die Gegen¬ stände und Persönlichkeiten, auf die er sich richtet, ändern sich und wechseln; er selbst dauert mit gleicher Stärke, begeistert die Blutzeugen der Religion wie die Helden der politischen Geschichte und schart um sie die Tausende und Millionen d Georg Siepers er Namenlosen. Fichte rsäivivns. Johannes Lnngermnnn schreibt über Probleme der Erziehung (Elberfeld, Bädeker, 1902), und zwar im größten Stil. Sein Vater, der als Dorfschullehrer mit Erfolg an der Hebung der Sittlichkeit eines ganzen Dorfes gearbeitet hat, beweist ihm durch sein Leben die Wahrheit des Wortes aus der dritten der Reden an die deutsche Nation: „Bisher wurde die Menschheit, was sie eben wurde und werden konnte. Mit diesem Werden durch das Ohngefähr ist es vorbei; denn da, wo sie am allerweitesten sich entwickelt hat, ist sie zu nichts ge¬ worden. Soll sie nicht bleiben in diesem Nichts, so muß sie von nnn an zu allem, was sie noch weiter werden soll, sich selbst macheu." Der zweite, der pädagogische Teil des Stcinschen Reformwerks sei unausgeführt geblieben; darum herrschten heute Klasseninteressen, Verbrechen und Laster. Die Leitung des Volks müsse aus den Händen der Juristen, die gleich den Ärzten nur „Korrektionsorgane," zur Zeit noch notwendige Übel seien, in die der Pädagogen übergehn. Diese leisten auf¬ bauende, schöpferische Arbeit, und ihr Standesinteresse fällt mit dem Volksinteresse zusammen, fordert das Gedeihen des Guten. Den Juristen und den Arzt zwingt ihr Interesse zu wünschen, daß es niemals an Verbrechen, an selbstsüchtigem Zank um Mein und Dein, an Krankheit und allerlei Elend fehle. „Der Umwandlungs¬ prozeß darf organisch nur in der Weise vor sich gehn, daß das juristische Organ in angemessenen Tempo durch das pädagogische Organ überflüssig gemacht und in demselben Tempo aufgesaugt wird, bis es an unserm Volkskörper allmählich ganz verschwindet." Demnach müssen die besten Männer, statt wie bisher dem Jnristen- stande, vielmehr dem Stande der Volkserzieher zugeführt werden. Den toten Punkt zu überwinden, die große Umwälzung einzuleiten, ist die Hohenzollerndynastie be¬ fähigt und berufen; erfüllt sie ihren Beruf, so wird sie das deutsche Volk und damit die Menschheit vor dem drohenden Verderben retten. Der Verfasser huldigt der Darwinischen Entwicklungstheorie und sucht deren Gesetze an der geschichtlichen Entwicklung des deutschen Volks nachzuweisen. Den verstorbnen Egidy verehrt er als zweiten Fichte und als den „Märtyrer der Nationalerziehnngsidee." Aaäo in Oöimsnz'. Beim Durchblättern eines Heftes der Zukunft stieß ich jüngst auf eine Bemerkung, die mich nachdenklich stimmte. In einer Polemik gegen Hoensbroech wird da der Legende von der jungen und schönen Schwester Pfört¬ nerin gedacht, die, von Sinnenlust hingerissen, ihrem Kloster entläuft, fünfzehn Jahre als Dirne lebt, verblüht ins Kloster zurückkehrt, um die verdiente Strafe zu erleiden, an der Pforte aber die Jungfrau Maria findet, die sie während ihrer Abwesenheit vertreten hat. Hoensbroech hatte das Blödsinn genannt und dadurch dem Artikcl- schreiber eine Bemerkung entlockt über mathematisch-logisch-scholastische Jesniten- seelen, die keine» Sinn für Geschichte und Poesie haben. Aber, ruft er tröstlich ans, vielleicht hätte Hoensbroech ans dieses Schimpfwort verzichtet, wenn er gewußt hätte, daß ein englischer Dichter die Legende bearbeitet, und daß ein Feuilletonist der Frankfurter Zeitung über die Dichtung berichtet hat, entzückt nicht allein von der modernen Bearbeitung, sondern auch von der Schönheit und Tiefe der alten Legende. Ein englischer Dichter! Mein Gott, hatte ich zuerst gedacht, das ist ja doch die vierte der sieben Legenden von Gottfried Keller, die vielleicht jemand ins Englische übersetzt hat. Stimmt das, dann ists doch schade, daß keine Verpflichtung besteht, auch an Dichterwerken das Zeichen nuulo in ysrman)' irgendwo anzubringen, denn ich nehme an, daß der Artikelschreibcr der Zukunft lieber noch den Gottfried Keller als Gren,boten II> 1903 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/321>, abgerufen am 09.11.2024.