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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

Wissenhafter Junge. In der Wohnung seiner Eltern war es weit ruhiger als bei
uns zuhause. Da heißen wir gegen Abend in der Werkstatt des Vaters Stoffregen
an einem blank gescheuerten, großen Tische und schrieben unsre "Aufsätze" oder
rechneten unsre Exempel beim Scheine einer grün lackierten, höchst primitiven Öl¬
lampe. Die Schuster galten damals in Quedlinburg allgemein als "sinnierende"
Leute, die bei großer Ehrbarkeit eine absonderliche Neigung zum Nachdenken, Kom¬
binieren und zu allerlei entlegner Weisheit haben sollten. Das traf auch bei
August Stoffregens Vater zu. Er war der Schuster meines Großvaters und eines
etwas wunderlichen Großonkels von mir, namens Vogler, gewesen. Wenn er diesem
ein Paar neue Stiefel brachte, denn fragte ihn der Empfänger: Was kosten sie,
Meister Stoffregen? Zwei Taler und einen Gulden, Herr Vogler. So, hier ist
das Geld, und da habt Ihr noch einen Gulden; dafür zieht Ihr die Stiefeln vier
Wochen lang an und tretet sie aus. Dann bringt sie mir wieder! -- Wie Sie
wünschen, Herr Vogler! Damit zog Meister Stoffregen mit feinen neuen Stiefeln
wieder ab,°um sie nach vier Wochen ausgetreten wieder zu bringen. Wenn wir
bei Stoffregeus Schularbeiten machten, so saß der Alte auf seinem Schemel hinter
einer großen, mit Wasser gefüllten Glaskugel, in der sich die Strahlen des da¬
hinter stehenden Talglichts konzentrierter. Von dort fielen sie hell auf seine Arbeit.
Er zog seinen Pechdrnht oder hämmerte seine Absätze zurecht und pfiff dazu ein
Liedchen oder machte seine Bemerkungen über die neue Zeit und die immer ver¬
schrobner werdenden Menschen, die dauerhafte Stiefel und Schuhe statt mit Pech¬
draht mit Holzstiften machen wollten. Eine kleine, ja kleinliche Welt, in die ich
da hineinschaute. Aber in dieser kleinen Welt lebten ordentliche und fleißige
Menschen in bescheidnen, auskömmlichen Verhältnissen ganz zufrieden.

Ein andrer Spielkamerad von mir war Louis Mühlberg, auch ein Nachbars¬
kind. Sein Vater war Tuchmacher, d. h. Arbeiter in einer Tuchfabrik, und seine
Mutter half in derselben Fabrik durch Spulen Geld verdienen. Wenn Louis
Mühlberg seinem Vater das Essen in die Fabrik trug, so durfte ich zuweilen an¬
gehn. Dadurch empfing ich in den großen Fabriksälen einen Eindruck von dem
Klappern und Schwirren der Webstuhle, von dem Hin- und Herhuschen der
Weberschiffchen, von dem Spulen der Frauen, der ernsten, wortkargen Arbeit der
Männer, dem allmählichen Entstehn der Fabrikate, dem Walken und Färben und
Scheren des Tuchs und allem, was dazu gehörte, und was heute in viel größerm
Umfange von Maschinen statt von Menschenhänden geleistet wird. Die Familie
Mühlberg war eine richtige Arbeiterfamilie. Sie lebte in einer kleinen Hinter-
wohnnng eines Nachbarhauses völlig zufrieden, ohne jede Klage und in geord¬
neten Verhältnissen. Wie gern habe ich da Nachmittags mit diesen ehrbaren Leuten
Kaffee getrunken! Dazu gab es mit Mohrrübensaft oder Sirup bestrichnes Schwarz¬
brot, für mich ein Leckerbissen, der mir viel besser mundete mis die weißen aber
trocknen Semmeln, die wir zuhause bekamen.

Einer meiner besten Schulfreunde war Julius Engel, der fleißige, wohl¬
erzogne Sohn eines berittncn Stcueraufsehers mit zahlreicher Familie. Durch den
Verkehr in diesem Hause lernte ich den Haushalt eines knapp besoldeten, aber
höchst rechtschaffnen, gewissenhaften und pflichttreuen kleinen Beamten kennen.' Auchdas ist mir ein Gewinn für das Leben geworden. Der Stolz der Engelschen
Familie war "Potio," das Dienstpferd des Vaters Engel. Mit rührender Liebe
^ unermüdlichem Wetteifer wurde der gute, alte Braune von den Engelschen
Kindern gepflegt. Auch ich sparte mir gern einmal ein Stück Zucker vom Mund
"ki und trug es als Leckerbissen für Potio hin. Wir hatten gehört, daß Pferde,le man mit Zucker füttere, ein besonders glattes und glänzendes Aussehen be-
imnen. Wenn dann Vater Engel, der vor seiner Anstellung im Stcuerdieust
^oerfeuerwerker bei der Artillerie gewesen war, sein Pferd recht glatt und blank
veimegelt hatte, so schrieben wir Kinder das stattliche Aussehen Pvllos mit stolzerGenugtuung ""fern wenigen kleinen Znckerstücken zu. Julius Engel hat spater


Aus der Jugendzeit

Wissenhafter Junge. In der Wohnung seiner Eltern war es weit ruhiger als bei
uns zuhause. Da heißen wir gegen Abend in der Werkstatt des Vaters Stoffregen
an einem blank gescheuerten, großen Tische und schrieben unsre „Aufsätze" oder
rechneten unsre Exempel beim Scheine einer grün lackierten, höchst primitiven Öl¬
lampe. Die Schuster galten damals in Quedlinburg allgemein als „sinnierende"
Leute, die bei großer Ehrbarkeit eine absonderliche Neigung zum Nachdenken, Kom¬
binieren und zu allerlei entlegner Weisheit haben sollten. Das traf auch bei
August Stoffregens Vater zu. Er war der Schuster meines Großvaters und eines
etwas wunderlichen Großonkels von mir, namens Vogler, gewesen. Wenn er diesem
ein Paar neue Stiefel brachte, denn fragte ihn der Empfänger: Was kosten sie,
Meister Stoffregen? Zwei Taler und einen Gulden, Herr Vogler. So, hier ist
das Geld, und da habt Ihr noch einen Gulden; dafür zieht Ihr die Stiefeln vier
Wochen lang an und tretet sie aus. Dann bringt sie mir wieder! — Wie Sie
wünschen, Herr Vogler! Damit zog Meister Stoffregen mit feinen neuen Stiefeln
wieder ab,°um sie nach vier Wochen ausgetreten wieder zu bringen. Wenn wir
bei Stoffregeus Schularbeiten machten, so saß der Alte auf seinem Schemel hinter
einer großen, mit Wasser gefüllten Glaskugel, in der sich die Strahlen des da¬
hinter stehenden Talglichts konzentrierter. Von dort fielen sie hell auf seine Arbeit.
Er zog seinen Pechdrnht oder hämmerte seine Absätze zurecht und pfiff dazu ein
Liedchen oder machte seine Bemerkungen über die neue Zeit und die immer ver¬
schrobner werdenden Menschen, die dauerhafte Stiefel und Schuhe statt mit Pech¬
draht mit Holzstiften machen wollten. Eine kleine, ja kleinliche Welt, in die ich
da hineinschaute. Aber in dieser kleinen Welt lebten ordentliche und fleißige
Menschen in bescheidnen, auskömmlichen Verhältnissen ganz zufrieden.

Ein andrer Spielkamerad von mir war Louis Mühlberg, auch ein Nachbars¬
kind. Sein Vater war Tuchmacher, d. h. Arbeiter in einer Tuchfabrik, und seine
Mutter half in derselben Fabrik durch Spulen Geld verdienen. Wenn Louis
Mühlberg seinem Vater das Essen in die Fabrik trug, so durfte ich zuweilen an¬
gehn. Dadurch empfing ich in den großen Fabriksälen einen Eindruck von dem
Klappern und Schwirren der Webstuhle, von dem Hin- und Herhuschen der
Weberschiffchen, von dem Spulen der Frauen, der ernsten, wortkargen Arbeit der
Männer, dem allmählichen Entstehn der Fabrikate, dem Walken und Färben und
Scheren des Tuchs und allem, was dazu gehörte, und was heute in viel größerm
Umfange von Maschinen statt von Menschenhänden geleistet wird. Die Familie
Mühlberg war eine richtige Arbeiterfamilie. Sie lebte in einer kleinen Hinter-
wohnnng eines Nachbarhauses völlig zufrieden, ohne jede Klage und in geord¬
neten Verhältnissen. Wie gern habe ich da Nachmittags mit diesen ehrbaren Leuten
Kaffee getrunken! Dazu gab es mit Mohrrübensaft oder Sirup bestrichnes Schwarz¬
brot, für mich ein Leckerbissen, der mir viel besser mundete mis die weißen aber
trocknen Semmeln, die wir zuhause bekamen.

Einer meiner besten Schulfreunde war Julius Engel, der fleißige, wohl¬
erzogne Sohn eines berittncn Stcueraufsehers mit zahlreicher Familie. Durch den
Verkehr in diesem Hause lernte ich den Haushalt eines knapp besoldeten, aber
höchst rechtschaffnen, gewissenhaften und pflichttreuen kleinen Beamten kennen.' Auchdas ist mir ein Gewinn für das Leben geworden. Der Stolz der Engelschen
Familie war „Potio," das Dienstpferd des Vaters Engel. Mit rührender Liebe
^ unermüdlichem Wetteifer wurde der gute, alte Braune von den Engelschen
Kindern gepflegt. Auch ich sparte mir gern einmal ein Stück Zucker vom Mund
"ki und trug es als Leckerbissen für Potio hin. Wir hatten gehört, daß Pferde,le man mit Zucker füttere, ein besonders glattes und glänzendes Aussehen be-
imnen. Wenn dann Vater Engel, der vor seiner Anstellung im Stcuerdieust
^oerfeuerwerker bei der Artillerie gewesen war, sein Pferd recht glatt und blank
veimegelt hatte, so schrieben wir Kinder das stattliche Aussehen Pvllos mit stolzerGenugtuung »»fern wenigen kleinen Znckerstücken zu. Julius Engel hat spater


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[0309] Aus der Jugendzeit Wissenhafter Junge. In der Wohnung seiner Eltern war es weit ruhiger als bei uns zuhause. Da heißen wir gegen Abend in der Werkstatt des Vaters Stoffregen an einem blank gescheuerten, großen Tische und schrieben unsre „Aufsätze" oder rechneten unsre Exempel beim Scheine einer grün lackierten, höchst primitiven Öl¬ lampe. Die Schuster galten damals in Quedlinburg allgemein als „sinnierende" Leute, die bei großer Ehrbarkeit eine absonderliche Neigung zum Nachdenken, Kom¬ binieren und zu allerlei entlegner Weisheit haben sollten. Das traf auch bei August Stoffregens Vater zu. Er war der Schuster meines Großvaters und eines etwas wunderlichen Großonkels von mir, namens Vogler, gewesen. Wenn er diesem ein Paar neue Stiefel brachte, denn fragte ihn der Empfänger: Was kosten sie, Meister Stoffregen? Zwei Taler und einen Gulden, Herr Vogler. So, hier ist das Geld, und da habt Ihr noch einen Gulden; dafür zieht Ihr die Stiefeln vier Wochen lang an und tretet sie aus. Dann bringt sie mir wieder! — Wie Sie wünschen, Herr Vogler! Damit zog Meister Stoffregen mit feinen neuen Stiefeln wieder ab,°um sie nach vier Wochen ausgetreten wieder zu bringen. Wenn wir bei Stoffregeus Schularbeiten machten, so saß der Alte auf seinem Schemel hinter einer großen, mit Wasser gefüllten Glaskugel, in der sich die Strahlen des da¬ hinter stehenden Talglichts konzentrierter. Von dort fielen sie hell auf seine Arbeit. Er zog seinen Pechdrnht oder hämmerte seine Absätze zurecht und pfiff dazu ein Liedchen oder machte seine Bemerkungen über die neue Zeit und die immer ver¬ schrobner werdenden Menschen, die dauerhafte Stiefel und Schuhe statt mit Pech¬ draht mit Holzstiften machen wollten. Eine kleine, ja kleinliche Welt, in die ich da hineinschaute. Aber in dieser kleinen Welt lebten ordentliche und fleißige Menschen in bescheidnen, auskömmlichen Verhältnissen ganz zufrieden. Ein andrer Spielkamerad von mir war Louis Mühlberg, auch ein Nachbars¬ kind. Sein Vater war Tuchmacher, d. h. Arbeiter in einer Tuchfabrik, und seine Mutter half in derselben Fabrik durch Spulen Geld verdienen. Wenn Louis Mühlberg seinem Vater das Essen in die Fabrik trug, so durfte ich zuweilen an¬ gehn. Dadurch empfing ich in den großen Fabriksälen einen Eindruck von dem Klappern und Schwirren der Webstuhle, von dem Hin- und Herhuschen der Weberschiffchen, von dem Spulen der Frauen, der ernsten, wortkargen Arbeit der Männer, dem allmählichen Entstehn der Fabrikate, dem Walken und Färben und Scheren des Tuchs und allem, was dazu gehörte, und was heute in viel größerm Umfange von Maschinen statt von Menschenhänden geleistet wird. Die Familie Mühlberg war eine richtige Arbeiterfamilie. Sie lebte in einer kleinen Hinter- wohnnng eines Nachbarhauses völlig zufrieden, ohne jede Klage und in geord¬ neten Verhältnissen. Wie gern habe ich da Nachmittags mit diesen ehrbaren Leuten Kaffee getrunken! Dazu gab es mit Mohrrübensaft oder Sirup bestrichnes Schwarz¬ brot, für mich ein Leckerbissen, der mir viel besser mundete mis die weißen aber trocknen Semmeln, die wir zuhause bekamen. Einer meiner besten Schulfreunde war Julius Engel, der fleißige, wohl¬ erzogne Sohn eines berittncn Stcueraufsehers mit zahlreicher Familie. Durch den Verkehr in diesem Hause lernte ich den Haushalt eines knapp besoldeten, aber höchst rechtschaffnen, gewissenhaften und pflichttreuen kleinen Beamten kennen.' Auchdas ist mir ein Gewinn für das Leben geworden. Der Stolz der Engelschen Familie war „Potio," das Dienstpferd des Vaters Engel. Mit rührender Liebe ^ unermüdlichem Wetteifer wurde der gute, alte Braune von den Engelschen Kindern gepflegt. Auch ich sparte mir gern einmal ein Stück Zucker vom Mund "ki und trug es als Leckerbissen für Potio hin. Wir hatten gehört, daß Pferde,le man mit Zucker füttere, ein besonders glattes und glänzendes Aussehen be- imnen. Wenn dann Vater Engel, der vor seiner Anstellung im Stcuerdieust ^oerfeuerwerker bei der Artillerie gewesen war, sein Pferd recht glatt und blank veimegelt hatte, so schrieben wir Kinder das stattliche Aussehen Pvllos mit stolzerGenugtuung »»fern wenigen kleinen Znckerstücken zu. Julius Engel hat spater

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/309>, abgerufen am 01.09.2024.