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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die orientalische Frage

die militärische Schlagfertigkeit, die die rumänische Armee bewies, den jungen
Staat mit einem Stolze und einem Selbstbewußtsein erfüllte, die für seine
spätere Stellung zu der orientalischen Frage umso bedeutungsvoller wurden,
als der schlechte Dank, den Rußland dafür hatte, im Herzen des rumänischen
Volks einen spitzen Stachel zurückließ. Die orientalische Politik Rußlands
war nicht mehr so weit ausschauend wie ehedem. Um des momentanen Vor¬
teils willen, den die Erwerbung des rumänischen Bessarabieus bot, wofür Ru¬
mänien das zweifelhafte Geschenk der Dobrudscha erhielt, setzte Rußland seinen
Einfluß in Rumänien aufs Spiel, den es sich einst in blutigen, kostspieligen
Kriegen errungen hatte. Allerdings erhielt Rumänien auf dem Berliner Kon¬
gresse seine Unabhängigkeit, aber nicht in dem Sinne der Pläne des Kaisers
Nikolaus. Das nationale Gefühl der Rumänen, das durch die Vereinigung
der Moldau und der Walachei sehr wesentlich gefördert worden war, nahm
diese Unabhängigkeit ernst, und es bedürfte nur noch der Art und Weise, wie
Nußland sich aus dem Gebiet Rumäniens bezahlt machte, daß Rumänien die
Anlehnung an Nußland als ein schlechtes Geschäft erscheinen mußte. Wichtiger
als der 1883 erfolgte Anschluß Italiens an das deutsch-österreichische Bündnis
war für die Entwicklung der orientalischen Frage der in dasselbe Jahr fallende
Besuch des Königs von Rumänien in Berlin, wenn auch der Abschluß eiuer
Militärkonvention, die Rumänien um das Bündnis der mitteleuropäischen
Mächte angliederte, erst später erfolgt ist.

Dieselben Erfahrungen wie in Rumänien sollte Nußland auch in Bulgarien
machen. Auch dort unterschätzte es die organisatorische Kraft des nationalen
Gedankens, indem es, auf das gemeinsame orthodoxe Bekenntnis und allsla¬
wische Sympathien bauend, sich in Sofia eine Expositur des Petersburger
Kabinetts zu gründen glaubte. Schon unter Alexander von Ballenberg ent¬
wickelten sich die Dinge in Bulgarien anders, als man in Petersburg wünschte.
Das Streben Alexanders, sich auf die Bulgaren und nicht auf Rußland zu
stützen, verstimmte an der Newa, und so sehr man in Petersburg ehedem ge¬
wünscht hatte, im Vertrag von San Stefano das neue Fürstentum Bulgarien
so umfangreich als möglich zu gestalten, so sehr war man erbittert, als 1885
wirklich die Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien eingeleitet wurde. Noch
hoffte man, daß die nun gegen Bulgarien losbrechenden Serben die Ver¬
einigung rückgängig machen würden, aber in den Schlachten von Slivnitza und
Pirol wurde die serbische Armee geschlagen, und Rußland mußte sich beeilen,
durch schleuniges Eingreifen zu Gunsten Serbiens dieses vor einem Gebiets¬
verluste zu retten. In allen ihren Hoffnungen wegen Bulgarien getäuscht,
griff nun die russische Diplomatie wiederum zu revolutionären Mitteln,
das junge Fürstentum unter seine Botmäßigkeit zu bringen. Mit der Ver¬
treibung des Fürsten Alexander schien es ihm auch gelungen zu sein, den
bösen großbulgarischen Traum zu verscheuchen. Die Bildung einer revolutio¬
nären Regierung und die Sendung des Generals Kaulbars sollten die Lebens¬
kraft des Landes brechen; aber diese erwies sich stärker als die russische Politik.
Stephan Stambulow stürzte die provisorische Negierung, nötigte Kaulbars zum
Verlassen des Landes und nahm die Idee einer selbständigen Entwicklung
Bulgariens mit aller Kraft wieder auf, nachdem trotz aller Intriguen Ruß-


Die orientalische Frage

die militärische Schlagfertigkeit, die die rumänische Armee bewies, den jungen
Staat mit einem Stolze und einem Selbstbewußtsein erfüllte, die für seine
spätere Stellung zu der orientalischen Frage umso bedeutungsvoller wurden,
als der schlechte Dank, den Rußland dafür hatte, im Herzen des rumänischen
Volks einen spitzen Stachel zurückließ. Die orientalische Politik Rußlands
war nicht mehr so weit ausschauend wie ehedem. Um des momentanen Vor¬
teils willen, den die Erwerbung des rumänischen Bessarabieus bot, wofür Ru¬
mänien das zweifelhafte Geschenk der Dobrudscha erhielt, setzte Rußland seinen
Einfluß in Rumänien aufs Spiel, den es sich einst in blutigen, kostspieligen
Kriegen errungen hatte. Allerdings erhielt Rumänien auf dem Berliner Kon¬
gresse seine Unabhängigkeit, aber nicht in dem Sinne der Pläne des Kaisers
Nikolaus. Das nationale Gefühl der Rumänen, das durch die Vereinigung
der Moldau und der Walachei sehr wesentlich gefördert worden war, nahm
diese Unabhängigkeit ernst, und es bedürfte nur noch der Art und Weise, wie
Nußland sich aus dem Gebiet Rumäniens bezahlt machte, daß Rumänien die
Anlehnung an Nußland als ein schlechtes Geschäft erscheinen mußte. Wichtiger
als der 1883 erfolgte Anschluß Italiens an das deutsch-österreichische Bündnis
war für die Entwicklung der orientalischen Frage der in dasselbe Jahr fallende
Besuch des Königs von Rumänien in Berlin, wenn auch der Abschluß eiuer
Militärkonvention, die Rumänien um das Bündnis der mitteleuropäischen
Mächte angliederte, erst später erfolgt ist.

Dieselben Erfahrungen wie in Rumänien sollte Nußland auch in Bulgarien
machen. Auch dort unterschätzte es die organisatorische Kraft des nationalen
Gedankens, indem es, auf das gemeinsame orthodoxe Bekenntnis und allsla¬
wische Sympathien bauend, sich in Sofia eine Expositur des Petersburger
Kabinetts zu gründen glaubte. Schon unter Alexander von Ballenberg ent¬
wickelten sich die Dinge in Bulgarien anders, als man in Petersburg wünschte.
Das Streben Alexanders, sich auf die Bulgaren und nicht auf Rußland zu
stützen, verstimmte an der Newa, und so sehr man in Petersburg ehedem ge¬
wünscht hatte, im Vertrag von San Stefano das neue Fürstentum Bulgarien
so umfangreich als möglich zu gestalten, so sehr war man erbittert, als 1885
wirklich die Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien eingeleitet wurde. Noch
hoffte man, daß die nun gegen Bulgarien losbrechenden Serben die Ver¬
einigung rückgängig machen würden, aber in den Schlachten von Slivnitza und
Pirol wurde die serbische Armee geschlagen, und Rußland mußte sich beeilen,
durch schleuniges Eingreifen zu Gunsten Serbiens dieses vor einem Gebiets¬
verluste zu retten. In allen ihren Hoffnungen wegen Bulgarien getäuscht,
griff nun die russische Diplomatie wiederum zu revolutionären Mitteln,
das junge Fürstentum unter seine Botmäßigkeit zu bringen. Mit der Ver¬
treibung des Fürsten Alexander schien es ihm auch gelungen zu sein, den
bösen großbulgarischen Traum zu verscheuchen. Die Bildung einer revolutio¬
nären Regierung und die Sendung des Generals Kaulbars sollten die Lebens¬
kraft des Landes brechen; aber diese erwies sich stärker als die russische Politik.
Stephan Stambulow stürzte die provisorische Negierung, nötigte Kaulbars zum
Verlassen des Landes und nahm die Idee einer selbständigen Entwicklung
Bulgariens mit aller Kraft wieder auf, nachdem trotz aller Intriguen Ruß-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/284>, abgerufen am 26.11.2024.