als Kriminaljustiz genannt werden könnte, und daß gerade ein starkes Rechts¬ gefühl und leidenschaftliche Nächsten- und Wahrheitsliebe dem mit diesen schönen Eigenschaften Beglückten sehr leicht den Oftrazismns oder ein Ketzergericht zu- ziehn. Die Masse der eigentlichen Verbrecher aber ist größtenteils unverbesser¬ lich; 93 Prozent der weiblichen, 95 Prozent der männlichen Zuchthäusler sind nach der Schätzung der amtlichen Statistik "sozial unbrauchbar" oder gemein¬ gefährlich. Bei einer großen Anzahl beschränkt sich die Unverbesserlichkeit darauf, daß sie von Natur zum Kampfe ums Dasein ungenügend ausgerüstet sind, darum anders als durch Betteln und Stehlen ihr Leben nicht fristen können; für diese würde Besserung, wenn sie der Staat ernstlich wollte, be- deuten: lebenslängliche Versorgung unter strenger Vormundschaft. Daß aber unsre Strafanstalten die Besserung auch nicht einmal so weit bewirken, wie sie an sich möglich wäre, ist die Überzeugung aller Sachkenner. Krohne sagt kurz: Strafvollzug in gemeinsamer Haft heißt den Verbrecher dadurch für seinen Rechtsbruch strafen, daß man ihn auf Staatskosten weiter im Verbrechen aus¬ bildet. Als eigentlicher Gegenstand der bessernden Tätigkeit bleiben die Kinder und die "Jugendlichen." Bei beiden bedeutet Besserung soviel wie Nachholung der Erziehung, die bei den verbrecherischen Kindern ganz zu fehlen, bei den Jugendlichen höchst mangelhaft zu sein pflegt; in unzähligen Fällen ist ja das Wohnloch oder die Gosse, in der sie aufwachsen, eine Lasterschule. Sie von da wegnehmen, nur damit sie in die von Krohne charakterisierte Hochschule des Verbrechens gesperrt werden, ist das Widersinnigste, was geschehn kann. Mit dem Gesetz über Fürsorgeerziehung hat ja nnn wenigstens die preußische Regierung den richtigen Weg beschritten. Aber wenn es durchgreifend wirken sollte, müßte das Gesetz in einem solchen Umfange angewandt werden, daß die Durchführung schon an den Kosten scheitern würde, und außerdem wären noch verschiedne juristische Zöpfe abzuschneiden. Der ärgste sind die Straf¬ verhandlungen gegen Kinder. Von den Kindern, die vor den Strafrichter kommen, sind nach Aschaffenburg manche innerlich unverdorben, sie haben nur einer besonders verlockenden Gelegenheit nicht widerstehn können. Für ein solches Kind bedeutet die Gerichtsverhandlung "eine Makel, die es anch frei¬ gesprochen mit sich herumschleppt, und deren schädlicher Eindruck um so weniger verwunden wird, je unverdorbner es ist." Für die verdorbne echte Großstadt¬ pflanze dagegen bedeutet die öffentliche Gerichtsverhandlung, bei der sie als mündige Person behandelt, und durch die sie "berühmt" wird -- ihr Bild er¬ scheint ja wohl im Lokalanzeiger --, die feierliche Aufnahme in die in ihren Augen hochansehnliche Verbrecherzunft. "Das Fürsorgeerziehnugsgesetz berechtigt uns, nach Abbüßung der Strafe dem weitern Verderben dadurch Einhalt zu tun, daß wir die versäumte Erziehung nachzuholen suchen. Was bedeutet nun, wenn sich ein zwölf- oder dreizehnjähriges Kind gegen die Strafgesetze vergangen hat, die Strafe von wenigen Monaten gegenüber der Fürsorgeerziehung, die bis zum zwanzigsten Jahre fortgesetzt wird? Wozu erst noch die Strafe, warum, nicht gleich in eine Erziehungsanstalt? Im Falle der Freisprechung wegen mangelnder Einsicht gestattete auch die Strafgesetzgebung schon früher die Zwangserziehung. Wozu dann erst noch das Schauspiel einer öffentlichen
Das verbrechen und seine Bekämpfung
als Kriminaljustiz genannt werden könnte, und daß gerade ein starkes Rechts¬ gefühl und leidenschaftliche Nächsten- und Wahrheitsliebe dem mit diesen schönen Eigenschaften Beglückten sehr leicht den Oftrazismns oder ein Ketzergericht zu- ziehn. Die Masse der eigentlichen Verbrecher aber ist größtenteils unverbesser¬ lich; 93 Prozent der weiblichen, 95 Prozent der männlichen Zuchthäusler sind nach der Schätzung der amtlichen Statistik „sozial unbrauchbar" oder gemein¬ gefährlich. Bei einer großen Anzahl beschränkt sich die Unverbesserlichkeit darauf, daß sie von Natur zum Kampfe ums Dasein ungenügend ausgerüstet sind, darum anders als durch Betteln und Stehlen ihr Leben nicht fristen können; für diese würde Besserung, wenn sie der Staat ernstlich wollte, be- deuten: lebenslängliche Versorgung unter strenger Vormundschaft. Daß aber unsre Strafanstalten die Besserung auch nicht einmal so weit bewirken, wie sie an sich möglich wäre, ist die Überzeugung aller Sachkenner. Krohne sagt kurz: Strafvollzug in gemeinsamer Haft heißt den Verbrecher dadurch für seinen Rechtsbruch strafen, daß man ihn auf Staatskosten weiter im Verbrechen aus¬ bildet. Als eigentlicher Gegenstand der bessernden Tätigkeit bleiben die Kinder und die „Jugendlichen." Bei beiden bedeutet Besserung soviel wie Nachholung der Erziehung, die bei den verbrecherischen Kindern ganz zu fehlen, bei den Jugendlichen höchst mangelhaft zu sein pflegt; in unzähligen Fällen ist ja das Wohnloch oder die Gosse, in der sie aufwachsen, eine Lasterschule. Sie von da wegnehmen, nur damit sie in die von Krohne charakterisierte Hochschule des Verbrechens gesperrt werden, ist das Widersinnigste, was geschehn kann. Mit dem Gesetz über Fürsorgeerziehung hat ja nnn wenigstens die preußische Regierung den richtigen Weg beschritten. Aber wenn es durchgreifend wirken sollte, müßte das Gesetz in einem solchen Umfange angewandt werden, daß die Durchführung schon an den Kosten scheitern würde, und außerdem wären noch verschiedne juristische Zöpfe abzuschneiden. Der ärgste sind die Straf¬ verhandlungen gegen Kinder. Von den Kindern, die vor den Strafrichter kommen, sind nach Aschaffenburg manche innerlich unverdorben, sie haben nur einer besonders verlockenden Gelegenheit nicht widerstehn können. Für ein solches Kind bedeutet die Gerichtsverhandlung „eine Makel, die es anch frei¬ gesprochen mit sich herumschleppt, und deren schädlicher Eindruck um so weniger verwunden wird, je unverdorbner es ist." Für die verdorbne echte Großstadt¬ pflanze dagegen bedeutet die öffentliche Gerichtsverhandlung, bei der sie als mündige Person behandelt, und durch die sie „berühmt" wird — ihr Bild er¬ scheint ja wohl im Lokalanzeiger —, die feierliche Aufnahme in die in ihren Augen hochansehnliche Verbrecherzunft. „Das Fürsorgeerziehnugsgesetz berechtigt uns, nach Abbüßung der Strafe dem weitern Verderben dadurch Einhalt zu tun, daß wir die versäumte Erziehung nachzuholen suchen. Was bedeutet nun, wenn sich ein zwölf- oder dreizehnjähriges Kind gegen die Strafgesetze vergangen hat, die Strafe von wenigen Monaten gegenüber der Fürsorgeerziehung, die bis zum zwanzigsten Jahre fortgesetzt wird? Wozu erst noch die Strafe, warum, nicht gleich in eine Erziehungsanstalt? Im Falle der Freisprechung wegen mangelnder Einsicht gestattete auch die Strafgesetzgebung schon früher die Zwangserziehung. Wozu dann erst noch das Schauspiel einer öffentlichen
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Das verbrechen und seine Bekämpfung
als Kriminaljustiz genannt werden könnte, und daß gerade ein starkes Rechts¬
gefühl und leidenschaftliche Nächsten- und Wahrheitsliebe dem mit diesen schönen
Eigenschaften Beglückten sehr leicht den Oftrazismns oder ein Ketzergericht zu-
ziehn. Die Masse der eigentlichen Verbrecher aber ist größtenteils unverbesser¬
lich; 93 Prozent der weiblichen, 95 Prozent der männlichen Zuchthäusler sind
nach der Schätzung der amtlichen Statistik „sozial unbrauchbar" oder gemein¬
gefährlich. Bei einer großen Anzahl beschränkt sich die Unverbesserlichkeit
darauf, daß sie von Natur zum Kampfe ums Dasein ungenügend ausgerüstet
sind, darum anders als durch Betteln und Stehlen ihr Leben nicht fristen
können; für diese würde Besserung, wenn sie der Staat ernstlich wollte, be-
deuten: lebenslängliche Versorgung unter strenger Vormundschaft. Daß aber
unsre Strafanstalten die Besserung auch nicht einmal so weit bewirken, wie
sie an sich möglich wäre, ist die Überzeugung aller Sachkenner. Krohne sagt
kurz: Strafvollzug in gemeinsamer Haft heißt den Verbrecher dadurch für seinen
Rechtsbruch strafen, daß man ihn auf Staatskosten weiter im Verbrechen aus¬
bildet. Als eigentlicher Gegenstand der bessernden Tätigkeit bleiben die Kinder
und die „Jugendlichen." Bei beiden bedeutet Besserung soviel wie Nachholung
der Erziehung, die bei den verbrecherischen Kindern ganz zu fehlen, bei den
Jugendlichen höchst mangelhaft zu sein pflegt; in unzähligen Fällen ist ja das
Wohnloch oder die Gosse, in der sie aufwachsen, eine Lasterschule. Sie von
da wegnehmen, nur damit sie in die von Krohne charakterisierte Hochschule
des Verbrechens gesperrt werden, ist das Widersinnigste, was geschehn kann.
Mit dem Gesetz über Fürsorgeerziehung hat ja nnn wenigstens die preußische
Regierung den richtigen Weg beschritten. Aber wenn es durchgreifend wirken
sollte, müßte das Gesetz in einem solchen Umfange angewandt werden, daß
die Durchführung schon an den Kosten scheitern würde, und außerdem wären
noch verschiedne juristische Zöpfe abzuschneiden. Der ärgste sind die Straf¬
verhandlungen gegen Kinder. Von den Kindern, die vor den Strafrichter
kommen, sind nach Aschaffenburg manche innerlich unverdorben, sie haben nur
einer besonders verlockenden Gelegenheit nicht widerstehn können. Für ein
solches Kind bedeutet die Gerichtsverhandlung „eine Makel, die es anch frei¬
gesprochen mit sich herumschleppt, und deren schädlicher Eindruck um so weniger
verwunden wird, je unverdorbner es ist." Für die verdorbne echte Großstadt¬
pflanze dagegen bedeutet die öffentliche Gerichtsverhandlung, bei der sie als
mündige Person behandelt, und durch die sie „berühmt" wird — ihr Bild er¬
scheint ja wohl im Lokalanzeiger —, die feierliche Aufnahme in die in ihren
Augen hochansehnliche Verbrecherzunft. „Das Fürsorgeerziehnugsgesetz berechtigt
uns, nach Abbüßung der Strafe dem weitern Verderben dadurch Einhalt zu tun,
daß wir die versäumte Erziehung nachzuholen suchen. Was bedeutet nun, wenn
sich ein zwölf- oder dreizehnjähriges Kind gegen die Strafgesetze vergangen hat,
die Strafe von wenigen Monaten gegenüber der Fürsorgeerziehung, die bis
zum zwanzigsten Jahre fortgesetzt wird? Wozu erst noch die Strafe, warum,
nicht gleich in eine Erziehungsanstalt? Im Falle der Freisprechung wegen
mangelnder Einsicht gestattete auch die Strafgesetzgebung schon früher die
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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/203>, abgerufen am 24.11.2024.
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