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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Das Verbrechen und seine Bekämpfung

er Verfasser dieses Aufsatzes hat seine Theorie des Verbrechens
und seine Ansicht über die Reformbestrebungen der Lisztschcn
Schule, deuen er im wesentlichen beistimme, unter anderm im
ersten Bande des Jahrgangs 1895 der Grenzboten Seite 108
und Seite 252 dargelegt. Wenn er noch einmal darauf zurück¬
kommt, so geschieht es, um an einigen Anführungen aus den unter genannten
Büchern*) zu zeigen, wie sich Theorie und Praxis in immer weiteren Umfang
dem Reformgedanken zuwenden, und um die Aufmerksamkeit auf einige die
gegenwärtige Lage beleuchtende Ergebnisse der neusten Statistik zu lenken.
Die Sühne- und Vergeltuugstheorie kaun kaum uoch ein Jurist der alten
Schule aufrecht erhalten zu wollen den Mut haben. Allzu klar leuchtet jeder¬
mann die Erkenntnis ein, daß die heutigen Strafen schon an sich in keinem
Sinn ein Äquivalent der Straftat sind, daß sie noch dazu, wie Aschaffenburg
sagt, für den Verbrecher von Beruf gar kein Strafübel, sehr häufig eine er¬
strebte Wohltat sind, während sie den guten und edeln Meuschen, der mit den
Gesetzen in Konflikt geraten ist, zermalmen, daß man, um ein vernünftiges
Verhältnis zwischen Strafübcl und Straftat Herznsteilen, zu dem "Aug um
Ang, Zahn nur Zahn" zurückkehren müßte, und daß man an die subjektive
Schuld des Verbrechers die Strafe schon deswegen nicht anpassen kann, weil
kein Sterblicher die Art und den Grad dieser Schuld zu ergründen vermag,
weil kein Mensch ein Urteil über seine eigne oder irgend eines andern Menschen
sittliche Würdigkeit oder UnWürdigkeit hat, und vor der Selbstbesinnung der mo¬
dernen Menschheit durch alle die Jahrtausende blutiger Justizgreuel und wahn¬
sinniger Irrungen uur ein Mensch, was auf diesem Gebiete Wahrheit ist,
erkannt und mit dem Worte: Richtet nicht! ausgesprochen hat. Lange vor der
Begründung der Krimiualanthropologie hat übrigens doch schon die preußische



*) Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Kriminalvsuchologie für Mediziner,
Juristen und Soziologen, ein Beitrag zur Reform der Strafgescligebung von Professor
Dr. G. Aschaffenburg, leitendem Arzt an der Beobachtungsabteilung für geisteskranke Ver¬
brecher in Halle an der Saale. Heidelberg, Carl Winter, 1903. -- Lebensfragen und
Lebensbilder. Sozialethische Betrachtungen von Dr. Wilhelm Foerfter, Geh. Regierungs-
rat und Professor um der Universität Berlin. Berlin, Dr. John Edelheim, 1902.
Grenzboten III 1903 25


Das Verbrechen und seine Bekämpfung

er Verfasser dieses Aufsatzes hat seine Theorie des Verbrechens
und seine Ansicht über die Reformbestrebungen der Lisztschcn
Schule, deuen er im wesentlichen beistimme, unter anderm im
ersten Bande des Jahrgangs 1895 der Grenzboten Seite 108
und Seite 252 dargelegt. Wenn er noch einmal darauf zurück¬
kommt, so geschieht es, um an einigen Anführungen aus den unter genannten
Büchern*) zu zeigen, wie sich Theorie und Praxis in immer weiteren Umfang
dem Reformgedanken zuwenden, und um die Aufmerksamkeit auf einige die
gegenwärtige Lage beleuchtende Ergebnisse der neusten Statistik zu lenken.
Die Sühne- und Vergeltuugstheorie kaun kaum uoch ein Jurist der alten
Schule aufrecht erhalten zu wollen den Mut haben. Allzu klar leuchtet jeder¬
mann die Erkenntnis ein, daß die heutigen Strafen schon an sich in keinem
Sinn ein Äquivalent der Straftat sind, daß sie noch dazu, wie Aschaffenburg
sagt, für den Verbrecher von Beruf gar kein Strafübel, sehr häufig eine er¬
strebte Wohltat sind, während sie den guten und edeln Meuschen, der mit den
Gesetzen in Konflikt geraten ist, zermalmen, daß man, um ein vernünftiges
Verhältnis zwischen Strafübcl und Straftat Herznsteilen, zu dem „Aug um
Ang, Zahn nur Zahn" zurückkehren müßte, und daß man an die subjektive
Schuld des Verbrechers die Strafe schon deswegen nicht anpassen kann, weil
kein Sterblicher die Art und den Grad dieser Schuld zu ergründen vermag,
weil kein Mensch ein Urteil über seine eigne oder irgend eines andern Menschen
sittliche Würdigkeit oder UnWürdigkeit hat, und vor der Selbstbesinnung der mo¬
dernen Menschheit durch alle die Jahrtausende blutiger Justizgreuel und wahn¬
sinniger Irrungen uur ein Mensch, was auf diesem Gebiete Wahrheit ist,
erkannt und mit dem Worte: Richtet nicht! ausgesprochen hat. Lange vor der
Begründung der Krimiualanthropologie hat übrigens doch schon die preußische



*) Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Kriminalvsuchologie für Mediziner,
Juristen und Soziologen, ein Beitrag zur Reform der Strafgescligebung von Professor
Dr. G. Aschaffenburg, leitendem Arzt an der Beobachtungsabteilung für geisteskranke Ver¬
brecher in Halle an der Saale. Heidelberg, Carl Winter, 1903. — Lebensfragen und
Lebensbilder. Sozialethische Betrachtungen von Dr. Wilhelm Foerfter, Geh. Regierungs-
rat und Professor um der Universität Berlin. Berlin, Dr. John Edelheim, 1902.
Grenzboten III 1903 25
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[0201] [Abbildung] Das Verbrechen und seine Bekämpfung er Verfasser dieses Aufsatzes hat seine Theorie des Verbrechens und seine Ansicht über die Reformbestrebungen der Lisztschcn Schule, deuen er im wesentlichen beistimme, unter anderm im ersten Bande des Jahrgangs 1895 der Grenzboten Seite 108 und Seite 252 dargelegt. Wenn er noch einmal darauf zurück¬ kommt, so geschieht es, um an einigen Anführungen aus den unter genannten Büchern*) zu zeigen, wie sich Theorie und Praxis in immer weiteren Umfang dem Reformgedanken zuwenden, und um die Aufmerksamkeit auf einige die gegenwärtige Lage beleuchtende Ergebnisse der neusten Statistik zu lenken. Die Sühne- und Vergeltuugstheorie kaun kaum uoch ein Jurist der alten Schule aufrecht erhalten zu wollen den Mut haben. Allzu klar leuchtet jeder¬ mann die Erkenntnis ein, daß die heutigen Strafen schon an sich in keinem Sinn ein Äquivalent der Straftat sind, daß sie noch dazu, wie Aschaffenburg sagt, für den Verbrecher von Beruf gar kein Strafübel, sehr häufig eine er¬ strebte Wohltat sind, während sie den guten und edeln Meuschen, der mit den Gesetzen in Konflikt geraten ist, zermalmen, daß man, um ein vernünftiges Verhältnis zwischen Strafübcl und Straftat Herznsteilen, zu dem „Aug um Ang, Zahn nur Zahn" zurückkehren müßte, und daß man an die subjektive Schuld des Verbrechers die Strafe schon deswegen nicht anpassen kann, weil kein Sterblicher die Art und den Grad dieser Schuld zu ergründen vermag, weil kein Mensch ein Urteil über seine eigne oder irgend eines andern Menschen sittliche Würdigkeit oder UnWürdigkeit hat, und vor der Selbstbesinnung der mo¬ dernen Menschheit durch alle die Jahrtausende blutiger Justizgreuel und wahn¬ sinniger Irrungen uur ein Mensch, was auf diesem Gebiete Wahrheit ist, erkannt und mit dem Worte: Richtet nicht! ausgesprochen hat. Lange vor der Begründung der Krimiualanthropologie hat übrigens doch schon die preußische *) Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Kriminalvsuchologie für Mediziner, Juristen und Soziologen, ein Beitrag zur Reform der Strafgescligebung von Professor Dr. G. Aschaffenburg, leitendem Arzt an der Beobachtungsabteilung für geisteskranke Ver¬ brecher in Halle an der Saale. Heidelberg, Carl Winter, 1903. — Lebensfragen und Lebensbilder. Sozialethische Betrachtungen von Dr. Wilhelm Foerfter, Geh. Regierungs- rat und Professor um der Universität Berlin. Berlin, Dr. John Edelheim, 1902. Grenzboten III 1903 25

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/201>, abgerufen am 22.11.2024.