Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Umuaß-zebllchcs der Ideale und für das Aufsteigen brutaler oder maskierter Jnteressenwirtschaft. Und nun haben wir die Wahlen zum neuen Reichstage hinter uns. Die Charakteristisch war es in den Vorbereitungen zur Neichstagswahl, wie in Wo liegt da die Wahrheit? Der Tyrann wird überthrannt. Teilweise find Maßgebliches und Umuaß-zebllchcs der Ideale und für das Aufsteigen brutaler oder maskierter Jnteressenwirtschaft. Und nun haben wir die Wahlen zum neuen Reichstage hinter uns. Die Charakteristisch war es in den Vorbereitungen zur Neichstagswahl, wie in Wo liegt da die Wahrheit? Der Tyrann wird überthrannt. Teilweise find <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0187" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241401"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Umuaß-zebllchcs</fw><lb/> <p xml:id="ID_805" prev="#ID_804"> der Ideale und für das Aufsteigen brutaler oder maskierter Jnteressenwirtschaft.<lb/> Sie erscheinen dann dem stillen Beobachter leicht als ein notwendiges Übel. Wen<lb/> überläuft nicht die Gänsehaut, wenn er an die Rhabarberhelden und Dauerredner<lb/> der Obstruktion im letzten Reichstage denkt, an alle die Verstopfungsvirtuosen.<lb/> Wozu der Lärm? Note und Bedürfnisse lassen sich nicht totreden und nicht über¬<lb/> schreien; sie wollen geprüft und gehoben sein. Der alte Chilon wird immer recht<lb/> behalten: „Der Staat befindet sich am besten, wo die Gesetze am meisten und die<lb/> Redner am wenigsten Gehör finden."</p><lb/> <p xml:id="ID_806"> Und nun haben wir die Wahlen zum neuen Reichstage hinter uns. Die<lb/> beiden extremen Parteien, die ihren Schwerpunkt außerhalb der nationalen Interessen-<lb/> kreise suchen, das römische Zentrum und die internationale Sozialdemokratie, werden<lb/> in ihm das große Wort haben, und, sei es mit „Nägeln und Zähnen," sei es mit<lb/> Glaceehandschuhen, ihre Ziele verfolgen. Die Gruppen, denen Deutschland seine<lb/> Einigung und seine neu begründete Weltstellung verdankt, sind teils zerrieben, teils<lb/> noch mehr als bisher zur Seite gedrängt. Ist das zum verwundern? Ich meine<lb/> nicht. Wo im Leben einer Nation keine große Not oder keine große Aufgabe das<lb/> Herz erfüllt und die Kräfte auflöst, wo mühsam Reizmittel zur Belebung herbei¬<lb/> geschafft und Begeisterungsreden ohne Begeisterung gehalten werden, da sind die<lb/> erhaltenden Kräfte immer im Nachteil gegenüber den unzufriednen und begehrlichen.<lb/> Diese haben etwas zu erobern. Ihre Schlagwörter erwachsen aus verbitterten Herzen.<lb/> Wer Bebel reden hört, wird fortgerissen. Man glaubt einen der alten Wieder¬<lb/> täufer aus der Reformationszeit zu hören, einen von den „Zwickauer Propheten,"<lb/> die den Himmel ans Erden malten für die „Enterbten." Was Wunder, daß uicht<lb/> allein die wohldisziplinierten und Wohl terrorisierten Parteigänger solchem Zuge<lb/> folgen, sondern daß sich auch die „verärgerten Biedermänner" anschließen.</p><lb/> <p xml:id="ID_807"> Charakteristisch war es in den Vorbereitungen zur Neichstagswahl, wie in<lb/> den Parteien, die sich selbst als „Ordnungsparteien" bezeichnen — auch ein un¬<lb/> billiges Schlagwort —, nach einer Wahlparole geseufzt wurde. Die Regierung<lb/> sollte sie ausgebe». Und die Regierung wollte wieder so korrekt sein, wie noch<lb/> nie. Die „Wahlzellen" und die blauen Wahlbriefdeckcu veranschaulichen ihren<lb/> Wille», den braven Wähler ganz der eignen Einsicht zu überlassen. Und wir<lb/> Deutschen sind gewiß ein sehr gebildetes Volk. Aber wie steht es schließlich doch<lb/> mit der Reife und dem Verantwortlichkeitsgefühl des Durchschnittswählers? Das<lb/> enthüllen zur Genüge der Inhalt und die Fassung der Wahlaufrufe. Leider muß<lb/> hier ohne alle Einschränkung gesprochen werden. An den Anschlagsäulen von Leipzig<lb/> Prangten am Tage vor der Wahl in allen Farbentönen vom rot zum lila, gelb<lb/> oder weiß diese äoeumonts wiwains der Parteien. Nach ihren zudringlichen Be¬<lb/> hauptungen nahm jede für sich allein Licht und Wahrheit in Anspruch, sonst schien<lb/> überall Lüge und Finsternis zu herrschen. Die Sozialdemokratie redete von „par¬<lb/> lamentarischem Rechtsbruch," von „vandalischem Einbruch in die Kunst und Wissen¬<lb/> schaft," von „pfäffischer Vergewaltigung," von „schamloser Answncherung des<lb/> Volks," von „Volkstribunen des Brvtwuchers," von „politischen Treberaktien des<lb/> Alldeutschtunis," ja von „organisierten Vaterlandsverrat." Der „echt liberale"<lb/> Politiker klagt über „Belastung des Volks," über „Verschleppung der Sozialpolitik,"<lb/> über „Krämerpolitik," über „reaktionären Antisemitismus," über den „Kotau der<lb/> Mittelstaudsbewegung," über „agrarisch-klerikale Reaktion." „Der Geist des Kartells<lb/> ist der Geist des politischen Hasses." Jeder nationalgesinnte Bürger, der nicht<lb/> für unsern Kandidaten eintritt, ist „Hassens — wert." Feine Wortspiele! Und<lb/> der Kartellkandidat bleibt den Gegnern nichts schuldig. Er wird gepriesen als der<lb/> allein nationale, als der allein parlamentarisch zurechnungsfähige, als der allein<lb/> einflußreiche.</p><lb/> <p xml:id="ID_808" next="#ID_809"> Wo liegt da die Wahrheit? Der Tyrann wird überthrannt. Teilweise find<lb/> es schon mehr Stinkbomben als Schlagworte, mit denen geworfen wird. Müßte<lb/> der Stnatsanwalt nicht gegen Parteien einschreiten, die solche Vorwürfe verdienen?</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0187]
Maßgebliches und Umuaß-zebllchcs
der Ideale und für das Aufsteigen brutaler oder maskierter Jnteressenwirtschaft.
Sie erscheinen dann dem stillen Beobachter leicht als ein notwendiges Übel. Wen
überläuft nicht die Gänsehaut, wenn er an die Rhabarberhelden und Dauerredner
der Obstruktion im letzten Reichstage denkt, an alle die Verstopfungsvirtuosen.
Wozu der Lärm? Note und Bedürfnisse lassen sich nicht totreden und nicht über¬
schreien; sie wollen geprüft und gehoben sein. Der alte Chilon wird immer recht
behalten: „Der Staat befindet sich am besten, wo die Gesetze am meisten und die
Redner am wenigsten Gehör finden."
Und nun haben wir die Wahlen zum neuen Reichstage hinter uns. Die
beiden extremen Parteien, die ihren Schwerpunkt außerhalb der nationalen Interessen-
kreise suchen, das römische Zentrum und die internationale Sozialdemokratie, werden
in ihm das große Wort haben, und, sei es mit „Nägeln und Zähnen," sei es mit
Glaceehandschuhen, ihre Ziele verfolgen. Die Gruppen, denen Deutschland seine
Einigung und seine neu begründete Weltstellung verdankt, sind teils zerrieben, teils
noch mehr als bisher zur Seite gedrängt. Ist das zum verwundern? Ich meine
nicht. Wo im Leben einer Nation keine große Not oder keine große Aufgabe das
Herz erfüllt und die Kräfte auflöst, wo mühsam Reizmittel zur Belebung herbei¬
geschafft und Begeisterungsreden ohne Begeisterung gehalten werden, da sind die
erhaltenden Kräfte immer im Nachteil gegenüber den unzufriednen und begehrlichen.
Diese haben etwas zu erobern. Ihre Schlagwörter erwachsen aus verbitterten Herzen.
Wer Bebel reden hört, wird fortgerissen. Man glaubt einen der alten Wieder¬
täufer aus der Reformationszeit zu hören, einen von den „Zwickauer Propheten,"
die den Himmel ans Erden malten für die „Enterbten." Was Wunder, daß uicht
allein die wohldisziplinierten und Wohl terrorisierten Parteigänger solchem Zuge
folgen, sondern daß sich auch die „verärgerten Biedermänner" anschließen.
Charakteristisch war es in den Vorbereitungen zur Neichstagswahl, wie in
den Parteien, die sich selbst als „Ordnungsparteien" bezeichnen — auch ein un¬
billiges Schlagwort —, nach einer Wahlparole geseufzt wurde. Die Regierung
sollte sie ausgebe». Und die Regierung wollte wieder so korrekt sein, wie noch
nie. Die „Wahlzellen" und die blauen Wahlbriefdeckcu veranschaulichen ihren
Wille», den braven Wähler ganz der eignen Einsicht zu überlassen. Und wir
Deutschen sind gewiß ein sehr gebildetes Volk. Aber wie steht es schließlich doch
mit der Reife und dem Verantwortlichkeitsgefühl des Durchschnittswählers? Das
enthüllen zur Genüge der Inhalt und die Fassung der Wahlaufrufe. Leider muß
hier ohne alle Einschränkung gesprochen werden. An den Anschlagsäulen von Leipzig
Prangten am Tage vor der Wahl in allen Farbentönen vom rot zum lila, gelb
oder weiß diese äoeumonts wiwains der Parteien. Nach ihren zudringlichen Be¬
hauptungen nahm jede für sich allein Licht und Wahrheit in Anspruch, sonst schien
überall Lüge und Finsternis zu herrschen. Die Sozialdemokratie redete von „par¬
lamentarischem Rechtsbruch," von „vandalischem Einbruch in die Kunst und Wissen¬
schaft," von „pfäffischer Vergewaltigung," von „schamloser Answncherung des
Volks," von „Volkstribunen des Brvtwuchers," von „politischen Treberaktien des
Alldeutschtunis," ja von „organisierten Vaterlandsverrat." Der „echt liberale"
Politiker klagt über „Belastung des Volks," über „Verschleppung der Sozialpolitik,"
über „Krämerpolitik," über „reaktionären Antisemitismus," über den „Kotau der
Mittelstaudsbewegung," über „agrarisch-klerikale Reaktion." „Der Geist des Kartells
ist der Geist des politischen Hasses." Jeder nationalgesinnte Bürger, der nicht
für unsern Kandidaten eintritt, ist „Hassens — wert." Feine Wortspiele! Und
der Kartellkandidat bleibt den Gegnern nichts schuldig. Er wird gepriesen als der
allein nationale, als der allein parlamentarisch zurechnungsfähige, als der allein
einflußreiche.
Wo liegt da die Wahrheit? Der Tyrann wird überthrannt. Teilweise find
es schon mehr Stinkbomben als Schlagworte, mit denen geworfen wird. Müßte
der Stnatsanwalt nicht gegen Parteien einschreiten, die solche Vorwürfe verdienen?
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