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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die mittelalterliche Religwnsanscha.arg und ihr^^surge^^gen^

Gegenstande fleißiger Forschung gemacht. Von großem Interesse und Wert
ist das Studium des Mittelalters für die theologische Forschung. Das Dunkel,
das uoch über dem Mittelalter richt, hat seine Ursache hauptsächlich darin, daß
das staatliche und das bürgerliche Leben des Mittelalters eigentümliche Formen
zeigt, daß das ganze "Milieu" dieser Zeit uus so fremd anmutet, daß wir
uns erst geistig hineinleben müssen, bevor wir uus ein Urteil bilden tonnen.
Dann werden wir aber anch finden, daß sich die Geister jener Zeit fast mit
denselben religiösen Problemen beschäftigten wie die unsrer Tage, daß die
religiösen Fragen und die Versuche zu ihrer Lösung aber in einem viel größern
Stil behandelt wurden. Besonders in Rücksicht auf den psychologischen Charakter
der Religion.

Sofern man die Religion als eine den Willen bindende Macht betrachtet,
bietet die mittelalterliche Frömmigkeit in dieser Beziehung eine in der Welt¬
geschichte geradezu einzig dastehende Erscheinung, die die lebenskräftigsten Völker
Europas unter eine religiöse Idee zu zwingen, sie uuter die Allmacht des
Papsttums zu beugen vermochte. Und als ein Versuch im großen, den Inhalt
der Religion in die Form des Gedankens zu gießen. zeigt sich die mittelalter¬
liche Scholastik; in ihr ist eine wahre Riesenarbeit niedergelegt, die wohl mit
demselben Recht als ein zusammenhängendes Ganze betrachtet werden kann,
wie mau die Arbeit der modernen Wissenschaft als ein Ganzes betrachtet; denn
Denker schließt sich um Denker, ein Lehrgebäude greift ius andre. Und will
man das Suchen nach der Zusammengehörigkeit mit Gott auf dein Wege der
unmittelbaren Erfahrung, des Gefühls -- oder wie mau es nennen will --
verfolgen, so bietet das Mittelalter Gelegenheit, eine Vielhundertjührige, historisch
zusammenhängende und wechselreiche Mystik zu studieren von des alten Scotus
^riMna mystisch-spekulativer Emauatiouslehre bis zu dem asketisch-mystischen
Geologen Thomas a Kempis. Im folgenden soll das religiöse Leben des
^ittetalters jedoch von einen, andern Standpunkt aus betrachtet werden,
nämlich vou seinem Verhältnisse zu andern Lebeusgebieten. da diese Zeit
aucy in dieser Beziehung typische, sozusagen in großem Stil ausgeprägte
Formen aufweise" kann. > a ! u " p

s-^'?^ anschliche Leben ist eine geistige Einheit, weshalb man nur im
bildlichen Sinne vou verschiednen Lebcnsgebieten sprechen kann. da ja jedes
^ebensinteresse in gewissem Maße das ganze Leben umfaßt. Gleichwohl läßt
M) z. B. das "Sittliche" gewissermaßen als etwas Selbständiges im Leben
betrachten, und man kann dieses Gebiet von andern Gebiete" abzugrenzen ver¬
suchen. In einem nahen Verhältnisse zur Sittlichkeit steht das Rechtsleben,
wie es sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Von grundlegender Bedeutung
auch, wie man vom religiösen Standpunkt aus die Berechtigung und die
Aufgabe des Staats und der bürgerlichen Gesellschaft beurteilt. Von großer
Bedeutung ist ferner das Verhältnis der Religion (die Religion als Verhalten
des Menschen zu Gott aufgefaßt) zu Wissenschaft und Kunst. Und da auch
der religiöse Mensch ein körperliches Leben lebt, bekommt sogar die Beurteilung
dieses Lebens eine keineswegs geringe Bedeutung für die Charakterisierung
einer Religionsform. Das religiöse Leben muß also in vielseitiger Wechsel-
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Grenzlwten IU 1903
Die mittelalterliche Religwnsanscha.arg und ihr^^surge^^gen^

Gegenstande fleißiger Forschung gemacht. Von großem Interesse und Wert
ist das Studium des Mittelalters für die theologische Forschung. Das Dunkel,
das uoch über dem Mittelalter richt, hat seine Ursache hauptsächlich darin, daß
das staatliche und das bürgerliche Leben des Mittelalters eigentümliche Formen
zeigt, daß das ganze „Milieu" dieser Zeit uus so fremd anmutet, daß wir
uns erst geistig hineinleben müssen, bevor wir uus ein Urteil bilden tonnen.
Dann werden wir aber anch finden, daß sich die Geister jener Zeit fast mit
denselben religiösen Problemen beschäftigten wie die unsrer Tage, daß die
religiösen Fragen und die Versuche zu ihrer Lösung aber in einem viel größern
Stil behandelt wurden. Besonders in Rücksicht auf den psychologischen Charakter
der Religion.

Sofern man die Religion als eine den Willen bindende Macht betrachtet,
bietet die mittelalterliche Frömmigkeit in dieser Beziehung eine in der Welt¬
geschichte geradezu einzig dastehende Erscheinung, die die lebenskräftigsten Völker
Europas unter eine religiöse Idee zu zwingen, sie uuter die Allmacht des
Papsttums zu beugen vermochte. Und als ein Versuch im großen, den Inhalt
der Religion in die Form des Gedankens zu gießen. zeigt sich die mittelalter¬
liche Scholastik; in ihr ist eine wahre Riesenarbeit niedergelegt, die wohl mit
demselben Recht als ein zusammenhängendes Ganze betrachtet werden kann,
wie mau die Arbeit der modernen Wissenschaft als ein Ganzes betrachtet; denn
Denker schließt sich um Denker, ein Lehrgebäude greift ius andre. Und will
man das Suchen nach der Zusammengehörigkeit mit Gott auf dein Wege der
unmittelbaren Erfahrung, des Gefühls — oder wie mau es nennen will —
verfolgen, so bietet das Mittelalter Gelegenheit, eine Vielhundertjührige, historisch
zusammenhängende und wechselreiche Mystik zu studieren von des alten Scotus
^riMna mystisch-spekulativer Emauatiouslehre bis zu dem asketisch-mystischen
Geologen Thomas a Kempis. Im folgenden soll das religiöse Leben des
^ittetalters jedoch von einen, andern Standpunkt aus betrachtet werden,
nämlich vou seinem Verhältnisse zu andern Lebeusgebieten. da diese Zeit
aucy in dieser Beziehung typische, sozusagen in großem Stil ausgeprägte
Formen aufweise» kann. > a ! u » p

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bildlichen Sinne vou verschiednen Lebcnsgebieten sprechen kann. da ja jedes
^ebensinteresse in gewissem Maße das ganze Leben umfaßt. Gleichwohl läßt
M) z. B. das „Sittliche" gewissermaßen als etwas Selbständiges im Leben
betrachten, und man kann dieses Gebiet von andern Gebiete» abzugrenzen ver¬
suchen. In einem nahen Verhältnisse zur Sittlichkeit steht das Rechtsleben,
wie es sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Von grundlegender Bedeutung
auch, wie man vom religiösen Standpunkt aus die Berechtigung und die
Aufgabe des Staats und der bürgerlichen Gesellschaft beurteilt. Von großer
Bedeutung ist ferner das Verhältnis der Religion (die Religion als Verhalten
des Menschen zu Gott aufgefaßt) zu Wissenschaft und Kunst. Und da auch
der religiöse Mensch ein körperliches Leben lebt, bekommt sogar die Beurteilung
dieses Lebens eine keineswegs geringe Bedeutung für die Charakterisierung
einer Religionsform. Das religiöse Leben muß also in vielseitiger Wechsel-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/153>, abgerufen am 30.11.2024.