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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Umnaszgel'liebes

Es fiel ihm ein. daß diese Verse nicht eigentlich em Kinderlied seien und so
begnügte er sich damit, anstatt der zweiten Strophe nur die Melodie zu trällern.
Aber der Enkel deutete ihm in nicht mißverstehender We.se an daß er Worte zu
hören wünsche. und so mußte sich der alte Herr denn wohl oder übel dazu bequemen
den nicht ganz einwandfreien Text der Romanze ans den entlegenste Winkeln s nes
Gedächtnisses zusammenzusuchen. Beider zehnten oder elften Srophc heuere
Marigny nicht ohne Befriedigung, daß der Kleine müde zu werden begann und ich
dem Versuche des Großvater, ihn wieder in den Korb zu legen, nicht widersetzte.
Der Gesang wurde nun immer leiser und eintöniger; bei der vierzehnten ^-tropye
fielen dem Büblein die Augen zu. und bei der fünfzehnten verrieten tiefe und regel¬
mäßige Atemzüge, daß der Stammhalter des Hauses Villeroi in jenen Zustand der
Unschuld und Bedürfnislosigkeit zurückversunken war, worin ihn der Großvater an¬
getroffen hatte. . .

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Dieser entzog nun, so behutsam er es vermochte, den kleinen Handen die ver¬
locken, befestigte sie wieder an der Uhr und schickte sich an. die Kammer zu verlassen.
Ehe er aber diesen Entschluß ausführte, holte er seine Börse heraus. entnahm ihr
sechs blanke Louisdor. wickelte die Münzen in ein Stückchen Papier und schob sie
besichtig unter das Kopfkissen des schlafenden Kindes. Dann stellte er den Schemel
wieder an seinen Platz und machte sich auf den Heimweg. Er hatte kaum hundert
Schritte tu der menschenleeren Gasse zurückgelegt, als er eine weibliche Gestalt von
der Mvselbrücke her in schnellem Lauf ans sich zukommen sah. Es war die Nach¬
barin oder Hausgenossin des Villeroischen Paares, die er schon öfters in dessen
Wohnung getroffen, und die seiner Tochter mit kleinen Dienstleistungen zur Hand
zu gehn pflegte.

Das drückende Bewußtsein, das ihrer Obhut anvertraute Kind so lange allein
gelassen zu haben, mochte die junge Person zur Eile antreibe". Sie nahm von dein
alten Herrn, der sie mit seinen Blicken verfolgte, deshalb auch nicht die geringste
Notiz. Als sie im Hause verschwunden war, ging der Marquis weiter und murmelte
dabei vor sich hin: Gott sei Dank, nun kaun er nicht mehr gestohlen werden!
Wenn der Name nur nicht wäre! Aber mag er auch Villeroi heißen, so lange er
will -- ein echter Mnrigny ists doch!

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Gründe und Folgen der Neichstagswahlen.
1.

Nachdem die Wahlen
0 und 25. Juni die sozialdemokratische Partei mit 81 statt 58 Abgeordneten
zur zweitstärksten des Reichstags gemacht haben, sucht namentlich die liberale
Presse alle möglichen und unmöglichen Gründe ausfindig zu machen, die dieses
si^v^s.i!^" um^t'-t........"vom^>. v^.l..^ x," Il>^t^>>, >^>^>."-
bedrohliche Wachstum erklären sollen. Vor allem macht sie die Reichsregicrung
dafür verantwortlich. Da füllen gelegentliche Äußerungen des Kaisers über die
Sozialdemokratie ihr mehr Stimmen zugeführt haben, ein wahrhaft kindlicher Ge¬
danke, da doch kein Sozialdemokrat über die Gesinnung des Mvnnrcheu in dieser
Beziehung im Zweifel sein kann, und ihm doch wohl das Recht jedes Staats¬
bürgers, seine Meinung zu äußern, nicht bestritten werden darf. Da wird ihm
törichterweise vorgerückt, daß seine persönliche Meinung über Bismarcks Stellung
zu Kaiser Wilhelm dem Ersten der volkstümlichen Anschauung ganz und gar ent¬
gegenlaufe und viel Verstimmung errege, als ob die siegreiche Sozialdemokratin;
jemals für Bismarck geschwärmt hätte! Da wird die auswärtige Politik des Grafen


Maßgebliches und Umnaszgel'liebes

Es fiel ihm ein. daß diese Verse nicht eigentlich em Kinderlied seien und so
begnügte er sich damit, anstatt der zweiten Strophe nur die Melodie zu trällern.
Aber der Enkel deutete ihm in nicht mißverstehender We.se an daß er Worte zu
hören wünsche. und so mußte sich der alte Herr denn wohl oder übel dazu bequemen
den nicht ganz einwandfreien Text der Romanze ans den entlegenste Winkeln s nes
Gedächtnisses zusammenzusuchen. Beider zehnten oder elften Srophc heuere
Marigny nicht ohne Befriedigung, daß der Kleine müde zu werden begann und ich
dem Versuche des Großvater, ihn wieder in den Korb zu legen, nicht widersetzte.
Der Gesang wurde nun immer leiser und eintöniger; bei der vierzehnten ^-tropye
fielen dem Büblein die Augen zu. und bei der fünfzehnten verrieten tiefe und regel¬
mäßige Atemzüge, daß der Stammhalter des Hauses Villeroi in jenen Zustand der
Unschuld und Bedürfnislosigkeit zurückversunken war, worin ihn der Großvater an¬
getroffen hatte. . .

^^
Dieser entzog nun, so behutsam er es vermochte, den kleinen Handen die ver¬
locken, befestigte sie wieder an der Uhr und schickte sich an. die Kammer zu verlassen.
Ehe er aber diesen Entschluß ausführte, holte er seine Börse heraus. entnahm ihr
sechs blanke Louisdor. wickelte die Münzen in ein Stückchen Papier und schob sie
besichtig unter das Kopfkissen des schlafenden Kindes. Dann stellte er den Schemel
wieder an seinen Platz und machte sich auf den Heimweg. Er hatte kaum hundert
Schritte tu der menschenleeren Gasse zurückgelegt, als er eine weibliche Gestalt von
der Mvselbrücke her in schnellem Lauf ans sich zukommen sah. Es war die Nach¬
barin oder Hausgenossin des Villeroischen Paares, die er schon öfters in dessen
Wohnung getroffen, und die seiner Tochter mit kleinen Dienstleistungen zur Hand
zu gehn pflegte.

Das drückende Bewußtsein, das ihrer Obhut anvertraute Kind so lange allein
gelassen zu haben, mochte die junge Person zur Eile antreibe». Sie nahm von dein
alten Herrn, der sie mit seinen Blicken verfolgte, deshalb auch nicht die geringste
Notiz. Als sie im Hause verschwunden war, ging der Marquis weiter und murmelte
dabei vor sich hin: Gott sei Dank, nun kaun er nicht mehr gestohlen werden!
Wenn der Name nur nicht wäre! Aber mag er auch Villeroi heißen, so lange er
will — ein echter Mnrigny ists doch!

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Gründe und Folgen der Neichstagswahlen.
1.

Nachdem die Wahlen
0 und 25. Juni die sozialdemokratische Partei mit 81 statt 58 Abgeordneten
zur zweitstärksten des Reichstags gemacht haben, sucht namentlich die liberale
Presse alle möglichen und unmöglichen Gründe ausfindig zu machen, die dieses
si^v^s.i!^» um^t'-t........"vom^>. v^.l..^ x," Il>^t^>>, >^>^>.»-
bedrohliche Wachstum erklären sollen. Vor allem macht sie die Reichsregicrung
dafür verantwortlich. Da füllen gelegentliche Äußerungen des Kaisers über die
Sozialdemokratie ihr mehr Stimmen zugeführt haben, ein wahrhaft kindlicher Ge¬
danke, da doch kein Sozialdemokrat über die Gesinnung des Mvnnrcheu in dieser
Beziehung im Zweifel sein kann, und ihm doch wohl das Recht jedes Staats¬
bürgers, seine Meinung zu äußern, nicht bestritten werden darf. Da wird ihm
törichterweise vorgerückt, daß seine persönliche Meinung über Bismarcks Stellung
zu Kaiser Wilhelm dem Ersten der volkstümlichen Anschauung ganz und gar ent¬
gegenlaufe und viel Verstimmung errege, als ob die siegreiche Sozialdemokratin;
jemals für Bismarck geschwärmt hätte! Da wird die auswärtige Politik des Grafen


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[0123] Maßgebliches und Umnaszgel'liebes Es fiel ihm ein. daß diese Verse nicht eigentlich em Kinderlied seien und so begnügte er sich damit, anstatt der zweiten Strophe nur die Melodie zu trällern. Aber der Enkel deutete ihm in nicht mißverstehender We.se an daß er Worte zu hören wünsche. und so mußte sich der alte Herr denn wohl oder übel dazu bequemen den nicht ganz einwandfreien Text der Romanze ans den entlegenste Winkeln s nes Gedächtnisses zusammenzusuchen. Beider zehnten oder elften Srophc heuere Marigny nicht ohne Befriedigung, daß der Kleine müde zu werden begann und ich dem Versuche des Großvater, ihn wieder in den Korb zu legen, nicht widersetzte. Der Gesang wurde nun immer leiser und eintöniger; bei der vierzehnten ^-tropye fielen dem Büblein die Augen zu. und bei der fünfzehnten verrieten tiefe und regel¬ mäßige Atemzüge, daß der Stammhalter des Hauses Villeroi in jenen Zustand der Unschuld und Bedürfnislosigkeit zurückversunken war, worin ihn der Großvater an¬ getroffen hatte. . . ^^ Dieser entzog nun, so behutsam er es vermochte, den kleinen Handen die ver¬ locken, befestigte sie wieder an der Uhr und schickte sich an. die Kammer zu verlassen. Ehe er aber diesen Entschluß ausführte, holte er seine Börse heraus. entnahm ihr sechs blanke Louisdor. wickelte die Münzen in ein Stückchen Papier und schob sie besichtig unter das Kopfkissen des schlafenden Kindes. Dann stellte er den Schemel wieder an seinen Platz und machte sich auf den Heimweg. Er hatte kaum hundert Schritte tu der menschenleeren Gasse zurückgelegt, als er eine weibliche Gestalt von der Mvselbrücke her in schnellem Lauf ans sich zukommen sah. Es war die Nach¬ barin oder Hausgenossin des Villeroischen Paares, die er schon öfters in dessen Wohnung getroffen, und die seiner Tochter mit kleinen Dienstleistungen zur Hand zu gehn pflegte. Das drückende Bewußtsein, das ihrer Obhut anvertraute Kind so lange allein gelassen zu haben, mochte die junge Person zur Eile antreibe». Sie nahm von dein alten Herrn, der sie mit seinen Blicken verfolgte, deshalb auch nicht die geringste Notiz. Als sie im Hause verschwunden war, ging der Marquis weiter und murmelte dabei vor sich hin: Gott sei Dank, nun kaun er nicht mehr gestohlen werden! Wenn der Name nur nicht wäre! Aber mag er auch Villeroi heißen, so lange er will — ein echter Mnrigny ists doch! (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Gründe und Folgen der Neichstagswahlen. 1. Nachdem die Wahlen 0 und 25. Juni die sozialdemokratische Partei mit 81 statt 58 Abgeordneten zur zweitstärksten des Reichstags gemacht haben, sucht namentlich die liberale Presse alle möglichen und unmöglichen Gründe ausfindig zu machen, die dieses si^v^s.i!^» um^t'-t........"vom^>. v^.l..^ x," Il>^t^>>, >^>^>.»- bedrohliche Wachstum erklären sollen. Vor allem macht sie die Reichsregicrung dafür verantwortlich. Da füllen gelegentliche Äußerungen des Kaisers über die Sozialdemokratie ihr mehr Stimmen zugeführt haben, ein wahrhaft kindlicher Ge¬ danke, da doch kein Sozialdemokrat über die Gesinnung des Mvnnrcheu in dieser Beziehung im Zweifel sein kann, und ihm doch wohl das Recht jedes Staats¬ bürgers, seine Meinung zu äußern, nicht bestritten werden darf. Da wird ihm törichterweise vorgerückt, daß seine persönliche Meinung über Bismarcks Stellung zu Kaiser Wilhelm dem Ersten der volkstümlichen Anschauung ganz und gar ent¬ gegenlaufe und viel Verstimmung errege, als ob die siegreiche Sozialdemokratin; jemals für Bismarck geschwärmt hätte! Da wird die auswärtige Politik des Grafen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/123>, abgerufen am 25.11.2024.