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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Leipziger Theaterplauderei

wurde so gut wie gar nicht unterbrochen, und neben einem sitzende Gesprächsauto¬
maten hatten gar nicht Zeit, für den kurzen Augenblick ihre Fagottwalze in Be¬
wegung zu setzen. Wie man es nun auch in solchen Dingen mit den berühmten
Reihen zu tun hat, bei denen eins aus dem andern folgt, und bei denen man, wenn
Irrtum aus Irrtum, Unerfreuliches ans Unerfreulichem entspringt, von einer Reihe
von Irrtümern, von einer Reihe von Schwierigkeiten, von einem virouins vitiosM
spricht, so hat anch die durch das Vollpacken der Bühne mit Versatzstücken und Möbeln
hervorgerufne Schwierigkeit der Verwandlungen zu der Unsitte geführt, den Ort
der Handlung verschiedner Szenen zusammenzulegen und dadurch die Arbeit in einer
für die szenische Wirkung in den seltensten Fällen vorteilhaften Weise zu vermindern.
So verlegt man Szenen, die im Freien spielen sollen, in ein Zimmer, das ohnehin
der vorhergehenden Szene dient oder doch für irgend einen Teil des Stücks herbei¬
geschafft und vorbereitet werden muß, oder man vereinigt, um einer unbequemen
Verwandlung aus dem Wege zu gehen, mehrere vom Dichter getrennt gehaltene Szenen
in eine einzige. Theaterintendanten und Literaten haben mit Faust, mit Shake-
spearischen und Calderonschen Dramen, ja sogar mit Lustspielen wie Freytags Journa¬
listen in diesem Sinne Umkreinplnngen vorgenommen, die dem ursprünglichen Stücke
so ins Bein schneiden, daß man von einem Sturm, von einem Hamlet, von einem
Wintermärchen in der Xschen Bearbeitung spricht. Glücklicherweise ist man in der
neuern Zeit, wie anderwärts, so auch bei uns in Deutschland von diesem Unwesen
mehr und mehr zurückgekommen. ,

Ich habe meiner Verwunderung über die Art, wie mau auch in Leipzig Resektionen
mit Schillerschen Stücken vornimmt, schon Worte gegeben, und was Maria Stuart
und den Tell anlangt, einige Beispiele angeführt: ich werde bei späterer Gelegenheit
für die Piccolominis und für Wallensteins Tod dasselbe tun. Ebenso unerfreulich ist
es für den Zuschauer, wenn bei einem Stücke wie dem Tell die szenischen Weisungen
als nicht vorhanden angesehen und einfach unbeachtet gelassen werden. Wenn es
dem Regisseur Vergnügen macht, die erste Szene des zweiten Akts, die vor Teils
Hause spielt, und die letzte des Stücks, die sich der Dichter inmitten der ausgedehntesten,
großartigsten Gebirgslandschaft wie eine Art volkstümlicher Apotheose gedacht hat,
in Teils Hausflur aufgeführt zu sehen, so ist ihm das unbenommen! er kann sich
dieses Vergnügen frühmorgens oder Nachts nach Schluß der Vorstellung bereiten:
das ist seine Sache, und niemand hat etwas darein zu rede". Aber bei einer nicht
als Privatissimum behandelten, sondern für das Publikum bestimmten Vorstellung eine
Szene, in der Tell, die Zimmeraxt in der Hand, das zu seinem Gehöfte führende
Tor ausbessere , ^ , . ^ , ^ , . ^
Jetzt, mem ich, halt das Tor auf Jahr und Tag.
Die Axt im Haus erspart den Zimmermann,
, "

und die große Schlußszene mir nichts dir nichts in Teils Hausflur abmachen zu
wollen, ist doch ein wenig sonderbar, und das Publikum müßte auf die Enttäuschungen,
die seiner harren, wenigstens dadurch vorbereitet werden, daß auf dem Zettel stünde:
Wilhelm Tell, Schauspiel von Schiller, in Xscher Bearbeitung.

Die vom Dichter für die Schlußszene erteilte Weisung lautet wörtlich wie folgt:

Pnrricida geht auf den Tell zu mit einer raschen Bewegung; dieser aber be¬
deutet thu mit der Hand und geht. Wenn beide zu verschiednen Seiten abgegangen,
verändert sich der Schauplatz, und mau sieht in der letzten Szene den ganzen Tal-
gruud vor Teils Wohnung nebst den Höhen, welche ihn einschließen, mit Landleuten
besetzt, welche sich zu einem malerischen Ganzen gruppieren. Andre kommen über
einen hohen Steg, der über den Schächer führt, gezogen. Walter Fürst mit den
beiden Knaben, Melchthal und Stanffacher kommen vorwärts, andre drängen nach;
wie Tell heraustritt, empfangen ihn alle mit lauten: Frohlocke". Indem sich die
vordersten um den Tell drängen und ihn umarmen, erscheinen noch Rudenz und
Berta, jener die Landleute, diese die Hedwig umnrmeud. Die Musik vom Berge
begleitet diese stumme Szene.


Grenzvoten !>> 1908 14
Leipziger Theaterplauderei

wurde so gut wie gar nicht unterbrochen, und neben einem sitzende Gesprächsauto¬
maten hatten gar nicht Zeit, für den kurzen Augenblick ihre Fagottwalze in Be¬
wegung zu setzen. Wie man es nun auch in solchen Dingen mit den berühmten
Reihen zu tun hat, bei denen eins aus dem andern folgt, und bei denen man, wenn
Irrtum aus Irrtum, Unerfreuliches ans Unerfreulichem entspringt, von einer Reihe
von Irrtümern, von einer Reihe von Schwierigkeiten, von einem virouins vitiosM
spricht, so hat anch die durch das Vollpacken der Bühne mit Versatzstücken und Möbeln
hervorgerufne Schwierigkeit der Verwandlungen zu der Unsitte geführt, den Ort
der Handlung verschiedner Szenen zusammenzulegen und dadurch die Arbeit in einer
für die szenische Wirkung in den seltensten Fällen vorteilhaften Weise zu vermindern.
So verlegt man Szenen, die im Freien spielen sollen, in ein Zimmer, das ohnehin
der vorhergehenden Szene dient oder doch für irgend einen Teil des Stücks herbei¬
geschafft und vorbereitet werden muß, oder man vereinigt, um einer unbequemen
Verwandlung aus dem Wege zu gehen, mehrere vom Dichter getrennt gehaltene Szenen
in eine einzige. Theaterintendanten und Literaten haben mit Faust, mit Shake-
spearischen und Calderonschen Dramen, ja sogar mit Lustspielen wie Freytags Journa¬
listen in diesem Sinne Umkreinplnngen vorgenommen, die dem ursprünglichen Stücke
so ins Bein schneiden, daß man von einem Sturm, von einem Hamlet, von einem
Wintermärchen in der Xschen Bearbeitung spricht. Glücklicherweise ist man in der
neuern Zeit, wie anderwärts, so auch bei uns in Deutschland von diesem Unwesen
mehr und mehr zurückgekommen. ,

Ich habe meiner Verwunderung über die Art, wie mau auch in Leipzig Resektionen
mit Schillerschen Stücken vornimmt, schon Worte gegeben, und was Maria Stuart
und den Tell anlangt, einige Beispiele angeführt: ich werde bei späterer Gelegenheit
für die Piccolominis und für Wallensteins Tod dasselbe tun. Ebenso unerfreulich ist
es für den Zuschauer, wenn bei einem Stücke wie dem Tell die szenischen Weisungen
als nicht vorhanden angesehen und einfach unbeachtet gelassen werden. Wenn es
dem Regisseur Vergnügen macht, die erste Szene des zweiten Akts, die vor Teils
Hause spielt, und die letzte des Stücks, die sich der Dichter inmitten der ausgedehntesten,
großartigsten Gebirgslandschaft wie eine Art volkstümlicher Apotheose gedacht hat,
in Teils Hausflur aufgeführt zu sehen, so ist ihm das unbenommen! er kann sich
dieses Vergnügen frühmorgens oder Nachts nach Schluß der Vorstellung bereiten:
das ist seine Sache, und niemand hat etwas darein zu rede«. Aber bei einer nicht
als Privatissimum behandelten, sondern für das Publikum bestimmten Vorstellung eine
Szene, in der Tell, die Zimmeraxt in der Hand, das zu seinem Gehöfte führende
Tor ausbessere , ^ , . ^ , ^ , . ^
Jetzt, mem ich, halt das Tor auf Jahr und Tag.
Die Axt im Haus erspart den Zimmermann,
, "

und die große Schlußszene mir nichts dir nichts in Teils Hausflur abmachen zu
wollen, ist doch ein wenig sonderbar, und das Publikum müßte auf die Enttäuschungen,
die seiner harren, wenigstens dadurch vorbereitet werden, daß auf dem Zettel stünde:
Wilhelm Tell, Schauspiel von Schiller, in Xscher Bearbeitung.

Die vom Dichter für die Schlußszene erteilte Weisung lautet wörtlich wie folgt:

Pnrricida geht auf den Tell zu mit einer raschen Bewegung; dieser aber be¬
deutet thu mit der Hand und geht. Wenn beide zu verschiednen Seiten abgegangen,
verändert sich der Schauplatz, und mau sieht in der letzten Szene den ganzen Tal-
gruud vor Teils Wohnung nebst den Höhen, welche ihn einschließen, mit Landleuten
besetzt, welche sich zu einem malerischen Ganzen gruppieren. Andre kommen über
einen hohen Steg, der über den Schächer führt, gezogen. Walter Fürst mit den
beiden Knaben, Melchthal und Stanffacher kommen vorwärts, andre drängen nach;
wie Tell heraustritt, empfangen ihn alle mit lauten: Frohlocke». Indem sich die
vordersten um den Tell drängen und ihn umarmen, erscheinen noch Rudenz und
Berta, jener die Landleute, diese die Hedwig umnrmeud. Die Musik vom Berge
begleitet diese stumme Szene.


Grenzvoten !>> 1908 14
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[0113] Leipziger Theaterplauderei wurde so gut wie gar nicht unterbrochen, und neben einem sitzende Gesprächsauto¬ maten hatten gar nicht Zeit, für den kurzen Augenblick ihre Fagottwalze in Be¬ wegung zu setzen. Wie man es nun auch in solchen Dingen mit den berühmten Reihen zu tun hat, bei denen eins aus dem andern folgt, und bei denen man, wenn Irrtum aus Irrtum, Unerfreuliches ans Unerfreulichem entspringt, von einer Reihe von Irrtümern, von einer Reihe von Schwierigkeiten, von einem virouins vitiosM spricht, so hat anch die durch das Vollpacken der Bühne mit Versatzstücken und Möbeln hervorgerufne Schwierigkeit der Verwandlungen zu der Unsitte geführt, den Ort der Handlung verschiedner Szenen zusammenzulegen und dadurch die Arbeit in einer für die szenische Wirkung in den seltensten Fällen vorteilhaften Weise zu vermindern. So verlegt man Szenen, die im Freien spielen sollen, in ein Zimmer, das ohnehin der vorhergehenden Szene dient oder doch für irgend einen Teil des Stücks herbei¬ geschafft und vorbereitet werden muß, oder man vereinigt, um einer unbequemen Verwandlung aus dem Wege zu gehen, mehrere vom Dichter getrennt gehaltene Szenen in eine einzige. Theaterintendanten und Literaten haben mit Faust, mit Shake- spearischen und Calderonschen Dramen, ja sogar mit Lustspielen wie Freytags Journa¬ listen in diesem Sinne Umkreinplnngen vorgenommen, die dem ursprünglichen Stücke so ins Bein schneiden, daß man von einem Sturm, von einem Hamlet, von einem Wintermärchen in der Xschen Bearbeitung spricht. Glücklicherweise ist man in der neuern Zeit, wie anderwärts, so auch bei uns in Deutschland von diesem Unwesen mehr und mehr zurückgekommen. , Ich habe meiner Verwunderung über die Art, wie mau auch in Leipzig Resektionen mit Schillerschen Stücken vornimmt, schon Worte gegeben, und was Maria Stuart und den Tell anlangt, einige Beispiele angeführt: ich werde bei späterer Gelegenheit für die Piccolominis und für Wallensteins Tod dasselbe tun. Ebenso unerfreulich ist es für den Zuschauer, wenn bei einem Stücke wie dem Tell die szenischen Weisungen als nicht vorhanden angesehen und einfach unbeachtet gelassen werden. Wenn es dem Regisseur Vergnügen macht, die erste Szene des zweiten Akts, die vor Teils Hause spielt, und die letzte des Stücks, die sich der Dichter inmitten der ausgedehntesten, großartigsten Gebirgslandschaft wie eine Art volkstümlicher Apotheose gedacht hat, in Teils Hausflur aufgeführt zu sehen, so ist ihm das unbenommen! er kann sich dieses Vergnügen frühmorgens oder Nachts nach Schluß der Vorstellung bereiten: das ist seine Sache, und niemand hat etwas darein zu rede«. Aber bei einer nicht als Privatissimum behandelten, sondern für das Publikum bestimmten Vorstellung eine Szene, in der Tell, die Zimmeraxt in der Hand, das zu seinem Gehöfte führende Tor ausbessere , ^ , . ^ , ^ , . ^ Jetzt, mem ich, halt das Tor auf Jahr und Tag. Die Axt im Haus erspart den Zimmermann, , " und die große Schlußszene mir nichts dir nichts in Teils Hausflur abmachen zu wollen, ist doch ein wenig sonderbar, und das Publikum müßte auf die Enttäuschungen, die seiner harren, wenigstens dadurch vorbereitet werden, daß auf dem Zettel stünde: Wilhelm Tell, Schauspiel von Schiller, in Xscher Bearbeitung. Die vom Dichter für die Schlußszene erteilte Weisung lautet wörtlich wie folgt: Pnrricida geht auf den Tell zu mit einer raschen Bewegung; dieser aber be¬ deutet thu mit der Hand und geht. Wenn beide zu verschiednen Seiten abgegangen, verändert sich der Schauplatz, und mau sieht in der letzten Szene den ganzen Tal- gruud vor Teils Wohnung nebst den Höhen, welche ihn einschließen, mit Landleuten besetzt, welche sich zu einem malerischen Ganzen gruppieren. Andre kommen über einen hohen Steg, der über den Schächer führt, gezogen. Walter Fürst mit den beiden Knaben, Melchthal und Stanffacher kommen vorwärts, andre drängen nach; wie Tell heraustritt, empfangen ihn alle mit lauten: Frohlocke». Indem sich die vordersten um den Tell drängen und ihn umarmen, erscheinen noch Rudenz und Berta, jener die Landleute, diese die Hedwig umnrmeud. Die Musik vom Berge begleitet diese stumme Szene. Grenzvoten !>> 1908 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/113>, abgerufen am 26.11.2024.