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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Parlamentarische Gxperimcntaljurisprndenz

zwar auf Grund der wiederholten Mahnung: der Entwurf zum Bürgerlichen
Gesetzbuch sei das Ergebnis einer zwanzigjährigen Arbeit der ganzen deutschen
Jnristenwelt, das zwar nicht vollkommen, aber doch einer Verbesserung durch
den Reichstag oder dessen Kommission nicht fähig oder bedürftig sei. -- Das
Vorgetragne genügt aber, die Behauptung zu begründen, daß die Behandlung
der Gesetzentwürfe durch die Volksvertretung vielfach zu wünschen übrig läßt.
So sicher die Abgeordneten verpflichtet sind, Bedenken gegen die Entwürfe vor¬
zubringen und zu vertreten, sofern beachtenswerte Interessen der Rechtsordnung
oder weiterer Volkskreise in Frage stehn, ebenso sollten sie doch nicht über¬
sehen, daß diese Entwürfe die Frucht mehrjähriger Arbeit der berufensten
Männer sind, daß sie nicht zusammenhanglose Bestimmungen, sondern eine
einheitliche Arbeit enthalten, sodaß die Tragweite auch der geringsten Ände-
rungen niemals im voraus zu übersehen ist, daß danach Änderungen in unter¬
geordneten Punkten überhaupt, aber auch besonders deshalb vermieden werden
sollten, weil die Fähigkeit, Rechtsgedanken in einer für das Gesetz geeigneten
Weise auszudrücken, eine schwer zu handhabende, seltne ist, die sich in stroxitu
fort -- der Kommission wie des vollen Hauses -- natürlich am wenigsten
bewährt. Erwägungen dieser Art sind aber sehr selten, und damit hängt die
Tatsache zusammen, daß zu den zahlreichen Streitfragen, deren auch das sorg¬
fältigst ausgearbeitete Gesetz immer eine Fülle bringt, noch besonders die
Verschlimmbesserungen beitragen, denen die Entwürfe in den Kommissionen
des Reichstags ausgesetzt sind.

Das große römische Rechtsbuch Corpus Juris, das bis vor wenig Jahren
für etwa fünfzehn Millionen Deutscher Gesetz war, enthielt viele Dutzend
Stellen, an denen sich die Anslegungsknnst der Juristen seit fast einem Jahr¬
tausend vergeblich abgemüht hatte; man bezeichnete diese Stellen als crnovs
.lurisvouLuItoruru und hätte damals singen können:

Ähnlich kann man auch heute sagen: Wer nie bei der Rechtsanwendung
auf die Schwierigkeiten gestoßen ist, die durch die unnötigen Änderungen ver¬
ursacht worden sind, die die Reichstagskommission lind der Reichstag ein den
Negierungsentwürfcn vorgenommen haben, der kennt sie nicht, die parlamen¬
tarische Experimentaljurisprudenz!




Parlamentarische Gxperimcntaljurisprndenz

zwar auf Grund der wiederholten Mahnung: der Entwurf zum Bürgerlichen
Gesetzbuch sei das Ergebnis einer zwanzigjährigen Arbeit der ganzen deutschen
Jnristenwelt, das zwar nicht vollkommen, aber doch einer Verbesserung durch
den Reichstag oder dessen Kommission nicht fähig oder bedürftig sei. — Das
Vorgetragne genügt aber, die Behauptung zu begründen, daß die Behandlung
der Gesetzentwürfe durch die Volksvertretung vielfach zu wünschen übrig läßt.
So sicher die Abgeordneten verpflichtet sind, Bedenken gegen die Entwürfe vor¬
zubringen und zu vertreten, sofern beachtenswerte Interessen der Rechtsordnung
oder weiterer Volkskreise in Frage stehn, ebenso sollten sie doch nicht über¬
sehen, daß diese Entwürfe die Frucht mehrjähriger Arbeit der berufensten
Männer sind, daß sie nicht zusammenhanglose Bestimmungen, sondern eine
einheitliche Arbeit enthalten, sodaß die Tragweite auch der geringsten Ände-
rungen niemals im voraus zu übersehen ist, daß danach Änderungen in unter¬
geordneten Punkten überhaupt, aber auch besonders deshalb vermieden werden
sollten, weil die Fähigkeit, Rechtsgedanken in einer für das Gesetz geeigneten
Weise auszudrücken, eine schwer zu handhabende, seltne ist, die sich in stroxitu
fort — der Kommission wie des vollen Hauses — natürlich am wenigsten
bewährt. Erwägungen dieser Art sind aber sehr selten, und damit hängt die
Tatsache zusammen, daß zu den zahlreichen Streitfragen, deren auch das sorg¬
fältigst ausgearbeitete Gesetz immer eine Fülle bringt, noch besonders die
Verschlimmbesserungen beitragen, denen die Entwürfe in den Kommissionen
des Reichstags ausgesetzt sind.

Das große römische Rechtsbuch Corpus Juris, das bis vor wenig Jahren
für etwa fünfzehn Millionen Deutscher Gesetz war, enthielt viele Dutzend
Stellen, an denen sich die Anslegungsknnst der Juristen seit fast einem Jahr¬
tausend vergeblich abgemüht hatte; man bezeichnete diese Stellen als crnovs
.lurisvouLuItoruru und hätte damals singen können:

Ähnlich kann man auch heute sagen: Wer nie bei der Rechtsanwendung
auf die Schwierigkeiten gestoßen ist, die durch die unnötigen Änderungen ver¬
ursacht worden sind, die die Reichstagskommission lind der Reichstag ein den
Negierungsentwürfcn vorgenommen haben, der kennt sie nicht, die parlamen¬
tarische Experimentaljurisprudenz!




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[0780] Parlamentarische Gxperimcntaljurisprndenz zwar auf Grund der wiederholten Mahnung: der Entwurf zum Bürgerlichen Gesetzbuch sei das Ergebnis einer zwanzigjährigen Arbeit der ganzen deutschen Jnristenwelt, das zwar nicht vollkommen, aber doch einer Verbesserung durch den Reichstag oder dessen Kommission nicht fähig oder bedürftig sei. — Das Vorgetragne genügt aber, die Behauptung zu begründen, daß die Behandlung der Gesetzentwürfe durch die Volksvertretung vielfach zu wünschen übrig läßt. So sicher die Abgeordneten verpflichtet sind, Bedenken gegen die Entwürfe vor¬ zubringen und zu vertreten, sofern beachtenswerte Interessen der Rechtsordnung oder weiterer Volkskreise in Frage stehn, ebenso sollten sie doch nicht über¬ sehen, daß diese Entwürfe die Frucht mehrjähriger Arbeit der berufensten Männer sind, daß sie nicht zusammenhanglose Bestimmungen, sondern eine einheitliche Arbeit enthalten, sodaß die Tragweite auch der geringsten Ände- rungen niemals im voraus zu übersehen ist, daß danach Änderungen in unter¬ geordneten Punkten überhaupt, aber auch besonders deshalb vermieden werden sollten, weil die Fähigkeit, Rechtsgedanken in einer für das Gesetz geeigneten Weise auszudrücken, eine schwer zu handhabende, seltne ist, die sich in stroxitu fort — der Kommission wie des vollen Hauses — natürlich am wenigsten bewährt. Erwägungen dieser Art sind aber sehr selten, und damit hängt die Tatsache zusammen, daß zu den zahlreichen Streitfragen, deren auch das sorg¬ fältigst ausgearbeitete Gesetz immer eine Fülle bringt, noch besonders die Verschlimmbesserungen beitragen, denen die Entwürfe in den Kommissionen des Reichstags ausgesetzt sind. Das große römische Rechtsbuch Corpus Juris, das bis vor wenig Jahren für etwa fünfzehn Millionen Deutscher Gesetz war, enthielt viele Dutzend Stellen, an denen sich die Anslegungsknnst der Juristen seit fast einem Jahr¬ tausend vergeblich abgemüht hatte; man bezeichnete diese Stellen als crnovs .lurisvouLuItoruru und hätte damals singen können: Ähnlich kann man auch heute sagen: Wer nie bei der Rechtsanwendung auf die Schwierigkeiten gestoßen ist, die durch die unnötigen Änderungen ver¬ ursacht worden sind, die die Reichstagskommission lind der Reichstag ein den Negierungsentwürfcn vorgenommen haben, der kennt sie nicht, die parlamen¬ tarische Experimentaljurisprudenz!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/780>, abgerufen am 25.08.2024.