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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

viel sanfter verrichtet, wenn man für gehörige Entkräftung des Körpers Sorge ge¬
tragen hat -- so sei es ein Wassersüpplein. Zwei Eßlöffel voll Mehl, einen Tee¬
kopf voll Wasser, eine Messerspitze Butter und ein Prischen Salz, Aber beileibe
nicht mehr! Nur kein Fleisch und keine Eier!

Hinter den Gardinen des Alkovens begann es sich zu regen.

Sehen Sie, sagte Madame Haßlacher, nachdem beide eine Weile gelauscht
hatten, so gehts nun jeden Abend, So fängts immer an. Zuerst stöhnt sie, und
denn wälzt sie sich umher, und daun redet sie im Fieber und schreit, daß man am
liebsten auf und davon laufen möcht.

Damit würde Sie unsrer Patientin einen schlechten Dienst erweisen. Sorge
Sie lieber, daß sich das Fräulein beruhigt. Reden Sie ihr zu wie einem
kleinen Kinde!

In der Tat ließ sich jetzt Marguerites Stimme vernehmen, anfangs nur in
abgebrochnen Worten, zuletzt in zusammenhängenden Sätzen.

Bitte, liebe gute Schwester CÄestine, lassen Sie mich in den Kreuzgang!
Phantasierte die Kranke; ich werde nicht länger als eine einzige Minute bleiben
und dann sogleich zum Ave kommen. . . . Was ich im Kreuzgang will? Ein wenig
Luft schöpfen, liebe gute Schwester CÄestine, Sie dürfen mir glauben: Luft
schöpfen -- nichts weiter. Es ist ja zum Ersticken schwül hier im Arbeitssnal. . . .
O, das ist nur eine Gießkanne. Sie haben Luchsaugen, Schwester, und ich glaubte,
ich hätte sie so gut "meer der Schürze versteckt. Ja ich will es gestehn, ich wollte
zur Fontäne und Wasser holen. Seit drei Tagen vergaß ich die Reseden zu be-
gießen und die Balsaminen. Die armen, armen Blumen werden die Köpfchen
hängen lassen und dem Verschmachten nahe sein. . . . Und verdursten ist schrecklich,
ich weiß es. Nein nein nein, lassen Sie mich, ich will gewiß nicht von dem
Wasser trinken, das habt ihr mir ja verboten, ich will mir nur die Lippen damit
bestreichen und ein einziges kleines Tröpfchen kosten -- o das muß köstlich sein!
Nur ein einziges kleines Tröpfchen. Ach, ihr tut mir weh, aber reißt und zerrt,
soviel ihr wollt -- ich laste die Schale nicht mehr los -- ah -- wie das er¬
quickt! -- jeder Tropfen eine Seligkeit, jeder Strahl ein Strom des Paradieses!
Tötet mich, wenn ihr wollt, aber zuvor will ich mich satt trinken -- was sind die
Qualen der Hölle gegen solch ein Labsal!

Am Sprechgitter jemand? Weshalb lächeln Sie so bedeutsam, Schwester
Celestine? Jsts der Vater? Ach nein, er war ja erst am Sonntag da. Ein junger
Kavalier? Grüße aus Aigremont? Ach -- ich weiß schon! Herr von Villeroi.
Rosen hat er mitgebracht? Nun wohl, ich werde sie in Empfang nehmen und ans
den Altar unter das Bild unsrer Heiligen stellen. Ich glaube, Sainte-Madeleine hat
die Rosen geliebt, mehr geliebt als die kalten Lilien.

Sie sehen so finster aus, Henri -- o mein Gott -- was ist geschehn? Wen
suchen Sie? Hinter mir steht niemand als Schwester Celestine. Wer der alte
Mann dort im Winkel ist? Ich weiß es nicht, Henri, ich kann doch nicht alle
Menschen kennen. Was willst du tun? Wozu lockerst du den Degen in der Scheide?
Henri, ich fürchte mich vor dir -- ich lese deine Absicht in deinen Augen -- tus
nicht -- Henri, Henri! -- du mordest meinen Vater! Zu Hilfe, Leute, zu
Hilfe -- da seht -- er hat ihn erstochen -- Vater, nicht sterben, nicht sterben! --
Henri! -- er ist tot, komm laß uns fliehen, fliehen weit weg von hier -- hier
tröpfelt Blut aus der Fontäne, statt des eiskalten Wassers sprudelt aus dem
Brunnen warmes Blut -- o Henri -- welches entsetzliche Land, wo Blut statt
Wassers fließt!

Die Gardinen des Alkovens taten sich auf, und Marguerite stürzte mit bebenden
Gliedern und aufgelöstem Haare heraus und sank zu Füßen der beiden Lauschenden
nuf den Boden nieder. Mit großen, glänzenden Augen starrte sie bald Madame
Haßlacher und bald den Arzt an. Beide hoben sie sanft empor und ließe" sie be¬
hutsam in einen Sessel gleiten. Jetzt strich sich die Kranke mit dem Rücken ihrer


Der Marquis von Marigny

viel sanfter verrichtet, wenn man für gehörige Entkräftung des Körpers Sorge ge¬
tragen hat — so sei es ein Wassersüpplein. Zwei Eßlöffel voll Mehl, einen Tee¬
kopf voll Wasser, eine Messerspitze Butter und ein Prischen Salz, Aber beileibe
nicht mehr! Nur kein Fleisch und keine Eier!

Hinter den Gardinen des Alkovens begann es sich zu regen.

Sehen Sie, sagte Madame Haßlacher, nachdem beide eine Weile gelauscht
hatten, so gehts nun jeden Abend, So fängts immer an. Zuerst stöhnt sie, und
denn wälzt sie sich umher, und daun redet sie im Fieber und schreit, daß man am
liebsten auf und davon laufen möcht.

Damit würde Sie unsrer Patientin einen schlechten Dienst erweisen. Sorge
Sie lieber, daß sich das Fräulein beruhigt. Reden Sie ihr zu wie einem
kleinen Kinde!

In der Tat ließ sich jetzt Marguerites Stimme vernehmen, anfangs nur in
abgebrochnen Worten, zuletzt in zusammenhängenden Sätzen.

Bitte, liebe gute Schwester CÄestine, lassen Sie mich in den Kreuzgang!
Phantasierte die Kranke; ich werde nicht länger als eine einzige Minute bleiben
und dann sogleich zum Ave kommen. . . . Was ich im Kreuzgang will? Ein wenig
Luft schöpfen, liebe gute Schwester CÄestine, Sie dürfen mir glauben: Luft
schöpfen — nichts weiter. Es ist ja zum Ersticken schwül hier im Arbeitssnal. . . .
O, das ist nur eine Gießkanne. Sie haben Luchsaugen, Schwester, und ich glaubte,
ich hätte sie so gut »meer der Schürze versteckt. Ja ich will es gestehn, ich wollte
zur Fontäne und Wasser holen. Seit drei Tagen vergaß ich die Reseden zu be-
gießen und die Balsaminen. Die armen, armen Blumen werden die Köpfchen
hängen lassen und dem Verschmachten nahe sein. . . . Und verdursten ist schrecklich,
ich weiß es. Nein nein nein, lassen Sie mich, ich will gewiß nicht von dem
Wasser trinken, das habt ihr mir ja verboten, ich will mir nur die Lippen damit
bestreichen und ein einziges kleines Tröpfchen kosten — o das muß köstlich sein!
Nur ein einziges kleines Tröpfchen. Ach, ihr tut mir weh, aber reißt und zerrt,
soviel ihr wollt — ich laste die Schale nicht mehr los — ah — wie das er¬
quickt! — jeder Tropfen eine Seligkeit, jeder Strahl ein Strom des Paradieses!
Tötet mich, wenn ihr wollt, aber zuvor will ich mich satt trinken — was sind die
Qualen der Hölle gegen solch ein Labsal!

Am Sprechgitter jemand? Weshalb lächeln Sie so bedeutsam, Schwester
Celestine? Jsts der Vater? Ach nein, er war ja erst am Sonntag da. Ein junger
Kavalier? Grüße aus Aigremont? Ach — ich weiß schon! Herr von Villeroi.
Rosen hat er mitgebracht? Nun wohl, ich werde sie in Empfang nehmen und ans
den Altar unter das Bild unsrer Heiligen stellen. Ich glaube, Sainte-Madeleine hat
die Rosen geliebt, mehr geliebt als die kalten Lilien.

Sie sehen so finster aus, Henri — o mein Gott — was ist geschehn? Wen
suchen Sie? Hinter mir steht niemand als Schwester Celestine. Wer der alte
Mann dort im Winkel ist? Ich weiß es nicht, Henri, ich kann doch nicht alle
Menschen kennen. Was willst du tun? Wozu lockerst du den Degen in der Scheide?
Henri, ich fürchte mich vor dir — ich lese deine Absicht in deinen Augen — tus
nicht — Henri, Henri! — du mordest meinen Vater! Zu Hilfe, Leute, zu
Hilfe — da seht — er hat ihn erstochen — Vater, nicht sterben, nicht sterben! —
Henri! — er ist tot, komm laß uns fliehen, fliehen weit weg von hier — hier
tröpfelt Blut aus der Fontäne, statt des eiskalten Wassers sprudelt aus dem
Brunnen warmes Blut — o Henri — welches entsetzliche Land, wo Blut statt
Wassers fließt!

Die Gardinen des Alkovens taten sich auf, und Marguerite stürzte mit bebenden
Gliedern und aufgelöstem Haare heraus und sank zu Füßen der beiden Lauschenden
nuf den Boden nieder. Mit großen, glänzenden Augen starrte sie bald Madame
Haßlacher und bald den Arzt an. Beide hoben sie sanft empor und ließe» sie be¬
hutsam in einen Sessel gleiten. Jetzt strich sich die Kranke mit dem Rücken ihrer


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[0679] Der Marquis von Marigny viel sanfter verrichtet, wenn man für gehörige Entkräftung des Körpers Sorge ge¬ tragen hat — so sei es ein Wassersüpplein. Zwei Eßlöffel voll Mehl, einen Tee¬ kopf voll Wasser, eine Messerspitze Butter und ein Prischen Salz, Aber beileibe nicht mehr! Nur kein Fleisch und keine Eier! Hinter den Gardinen des Alkovens begann es sich zu regen. Sehen Sie, sagte Madame Haßlacher, nachdem beide eine Weile gelauscht hatten, so gehts nun jeden Abend, So fängts immer an. Zuerst stöhnt sie, und denn wälzt sie sich umher, und daun redet sie im Fieber und schreit, daß man am liebsten auf und davon laufen möcht. Damit würde Sie unsrer Patientin einen schlechten Dienst erweisen. Sorge Sie lieber, daß sich das Fräulein beruhigt. Reden Sie ihr zu wie einem kleinen Kinde! In der Tat ließ sich jetzt Marguerites Stimme vernehmen, anfangs nur in abgebrochnen Worten, zuletzt in zusammenhängenden Sätzen. Bitte, liebe gute Schwester CÄestine, lassen Sie mich in den Kreuzgang! Phantasierte die Kranke; ich werde nicht länger als eine einzige Minute bleiben und dann sogleich zum Ave kommen. . . . Was ich im Kreuzgang will? Ein wenig Luft schöpfen, liebe gute Schwester CÄestine, Sie dürfen mir glauben: Luft schöpfen — nichts weiter. Es ist ja zum Ersticken schwül hier im Arbeitssnal. . . . O, das ist nur eine Gießkanne. Sie haben Luchsaugen, Schwester, und ich glaubte, ich hätte sie so gut »meer der Schürze versteckt. Ja ich will es gestehn, ich wollte zur Fontäne und Wasser holen. Seit drei Tagen vergaß ich die Reseden zu be- gießen und die Balsaminen. Die armen, armen Blumen werden die Köpfchen hängen lassen und dem Verschmachten nahe sein. . . . Und verdursten ist schrecklich, ich weiß es. Nein nein nein, lassen Sie mich, ich will gewiß nicht von dem Wasser trinken, das habt ihr mir ja verboten, ich will mir nur die Lippen damit bestreichen und ein einziges kleines Tröpfchen kosten — o das muß köstlich sein! Nur ein einziges kleines Tröpfchen. Ach, ihr tut mir weh, aber reißt und zerrt, soviel ihr wollt — ich laste die Schale nicht mehr los — ah — wie das er¬ quickt! — jeder Tropfen eine Seligkeit, jeder Strahl ein Strom des Paradieses! Tötet mich, wenn ihr wollt, aber zuvor will ich mich satt trinken — was sind die Qualen der Hölle gegen solch ein Labsal! Am Sprechgitter jemand? Weshalb lächeln Sie so bedeutsam, Schwester Celestine? Jsts der Vater? Ach nein, er war ja erst am Sonntag da. Ein junger Kavalier? Grüße aus Aigremont? Ach — ich weiß schon! Herr von Villeroi. Rosen hat er mitgebracht? Nun wohl, ich werde sie in Empfang nehmen und ans den Altar unter das Bild unsrer Heiligen stellen. Ich glaube, Sainte-Madeleine hat die Rosen geliebt, mehr geliebt als die kalten Lilien. Sie sehen so finster aus, Henri — o mein Gott — was ist geschehn? Wen suchen Sie? Hinter mir steht niemand als Schwester Celestine. Wer der alte Mann dort im Winkel ist? Ich weiß es nicht, Henri, ich kann doch nicht alle Menschen kennen. Was willst du tun? Wozu lockerst du den Degen in der Scheide? Henri, ich fürchte mich vor dir — ich lese deine Absicht in deinen Augen — tus nicht — Henri, Henri! — du mordest meinen Vater! Zu Hilfe, Leute, zu Hilfe — da seht — er hat ihn erstochen — Vater, nicht sterben, nicht sterben! — Henri! — er ist tot, komm laß uns fliehen, fliehen weit weg von hier — hier tröpfelt Blut aus der Fontäne, statt des eiskalten Wassers sprudelt aus dem Brunnen warmes Blut — o Henri — welches entsetzliche Land, wo Blut statt Wassers fließt! Die Gardinen des Alkovens taten sich auf, und Marguerite stürzte mit bebenden Gliedern und aufgelöstem Haare heraus und sank zu Füßen der beiden Lauschenden nuf den Boden nieder. Mit großen, glänzenden Augen starrte sie bald Madame Haßlacher und bald den Arzt an. Beide hoben sie sanft empor und ließe» sie be¬ hutsam in einen Sessel gleiten. Jetzt strich sich die Kranke mit dem Rücken ihrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/679>, abgerufen am 28.07.2024.