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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Nationalität und Kultur

Ein seltsamer Widerspruch in der Tat in unsrer an Widersprüchen so
reichen Zeit! Auf der einen Seite diese Absonderungsbestrebungen, die die
Schranken zwischen den Völkern immer höher auftürmen möchten, auf der
andern der wachsende Verkehr, der keine Entfernungen und keine Grenzen mehr
kennt, der uns in einer Nacht durch das ganze Gebiet einer selbstbewußten
Völkerschaft trägt, ohne daß wir es merken, der auch die geistigen Erzeugnisse
aller Nationen zum Gemeingut ihrer Gebildeten macht. Hier das allgemeine
Bedürfnis nach Frieden, der von den meisten als der Güter höchstes gepriesen
wird, und ein Friedenszustand von solcher Dauer, wie ihn die Welt noch
niemals erlebt hat, dort die ungeheuern Heere und Flotten der Gegenwart, die
doch diesen Frieden sichern sollen und ihn in der Tat erhalten, weil jeder,
auch der mächtigste Staat den riesigen Einsatz bei einem Kriege scheut, Natio¬
nalität und Kultur widerstreiten nicht selten einander; was jener förderlich
erscheint, das ist dieser oft feindlich; was die Kultur fordert, das stößt häufig
auf den Widerstand nationaler Interessen, Wie ist solcher Widerspruch zu
lösen? Wie weit reicht das Recht der einen und der andern Seite? Wo
fängt das Unrecht an? Oder liegt etwa das Recht ganz ans der einen, das
Unrecht ganz auf der andern Seite?

So viel kann jeder aus der Geschichte gelernt haben, daß der Begriff der
Nationalität sehr jung, sehr modern ist, ein Begriff, der sich aus der Bedeutung
des Wurzelworts, einer durch die gemeinsame Abkunft verbundnen großen
Menschengemeinschaft, nicht ohne weiteres entwickeln läßt. Diese gemeinsame Ab¬
kunft und die daraus folgende Gemeinschaft der Sprache und Sitte machen
allerdings die Grundlage einer Nation im modernen Sinne aus, aber sie er¬
schöpfen keineswegs den Begriff. Hinzu kommen muß die Gemeinsamkeit der
historischen Erinnerungen und der sittlichen Grundanschauungen, endlich das
sich daraus ergebende Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, der Verschieden¬
heit von andern Nationen und der gemeinsamen Ziele. Also ist die Nation
im modernen Sinne weder eine rein natürliche, noch vollends eine künst¬
liche, sondern eine historische Bildung; sie kann deshalb nur unter mannig¬
fachen Schwierigkeiten, in langer Zeit und unter bestimmten Voraussetzungen
zustande kommen, und sie ist erst dann ganz vollendet, wenn sie auch einen
nationalen Staat, der Seele den Leib geschaffen hat; sie ist demnach selbst
ein Kulturerzeugnis.

Nationen in diesem Sinne find erst in der neuern Zeit entstanden, und
im Grunde fast nur in Europa. In England, Frankreich, Spanien hat erst
der nationale Staat, der die verwandten Stämme zusammenfaßte, und indem
er sie auf gemeinsame Ziele hinwies, ihnen das Bewußtsein der Zusammen¬
gehörigkeit anerzog, die Nation geschaffen; in Deutschland und Italien erwuchs
umgekehrt der nationale Staat aus diesem Bewußtsein, das er nun wieder
vertiefen und erweitern muß. Im ganzen Orient gibt es nationale Staaten
noch heute nur im äußersten Osten, in China und Japan; sonst sind dort
nicht nur Völker sondern auch Rassen meist so in- und übereinander geschoben,
daß die Anwendung des Nationalitätsprinzips nicht staatenbildend sondern


Nationalität und Kultur

Ein seltsamer Widerspruch in der Tat in unsrer an Widersprüchen so
reichen Zeit! Auf der einen Seite diese Absonderungsbestrebungen, die die
Schranken zwischen den Völkern immer höher auftürmen möchten, auf der
andern der wachsende Verkehr, der keine Entfernungen und keine Grenzen mehr
kennt, der uns in einer Nacht durch das ganze Gebiet einer selbstbewußten
Völkerschaft trägt, ohne daß wir es merken, der auch die geistigen Erzeugnisse
aller Nationen zum Gemeingut ihrer Gebildeten macht. Hier das allgemeine
Bedürfnis nach Frieden, der von den meisten als der Güter höchstes gepriesen
wird, und ein Friedenszustand von solcher Dauer, wie ihn die Welt noch
niemals erlebt hat, dort die ungeheuern Heere und Flotten der Gegenwart, die
doch diesen Frieden sichern sollen und ihn in der Tat erhalten, weil jeder,
auch der mächtigste Staat den riesigen Einsatz bei einem Kriege scheut, Natio¬
nalität und Kultur widerstreiten nicht selten einander; was jener förderlich
erscheint, das ist dieser oft feindlich; was die Kultur fordert, das stößt häufig
auf den Widerstand nationaler Interessen, Wie ist solcher Widerspruch zu
lösen? Wie weit reicht das Recht der einen und der andern Seite? Wo
fängt das Unrecht an? Oder liegt etwa das Recht ganz ans der einen, das
Unrecht ganz auf der andern Seite?

So viel kann jeder aus der Geschichte gelernt haben, daß der Begriff der
Nationalität sehr jung, sehr modern ist, ein Begriff, der sich aus der Bedeutung
des Wurzelworts, einer durch die gemeinsame Abkunft verbundnen großen
Menschengemeinschaft, nicht ohne weiteres entwickeln läßt. Diese gemeinsame Ab¬
kunft und die daraus folgende Gemeinschaft der Sprache und Sitte machen
allerdings die Grundlage einer Nation im modernen Sinne aus, aber sie er¬
schöpfen keineswegs den Begriff. Hinzu kommen muß die Gemeinsamkeit der
historischen Erinnerungen und der sittlichen Grundanschauungen, endlich das
sich daraus ergebende Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, der Verschieden¬
heit von andern Nationen und der gemeinsamen Ziele. Also ist die Nation
im modernen Sinne weder eine rein natürliche, noch vollends eine künst¬
liche, sondern eine historische Bildung; sie kann deshalb nur unter mannig¬
fachen Schwierigkeiten, in langer Zeit und unter bestimmten Voraussetzungen
zustande kommen, und sie ist erst dann ganz vollendet, wenn sie auch einen
nationalen Staat, der Seele den Leib geschaffen hat; sie ist demnach selbst
ein Kulturerzeugnis.

Nationen in diesem Sinne find erst in der neuern Zeit entstanden, und
im Grunde fast nur in Europa. In England, Frankreich, Spanien hat erst
der nationale Staat, der die verwandten Stämme zusammenfaßte, und indem
er sie auf gemeinsame Ziele hinwies, ihnen das Bewußtsein der Zusammen¬
gehörigkeit anerzog, die Nation geschaffen; in Deutschland und Italien erwuchs
umgekehrt der nationale Staat aus diesem Bewußtsein, das er nun wieder
vertiefen und erweitern muß. Im ganzen Orient gibt es nationale Staaten
noch heute nur im äußersten Osten, in China und Japan; sonst sind dort
nicht nur Völker sondern auch Rassen meist so in- und übereinander geschoben,
daß die Anwendung des Nationalitätsprinzips nicht staatenbildend sondern


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[0066] Nationalität und Kultur Ein seltsamer Widerspruch in der Tat in unsrer an Widersprüchen so reichen Zeit! Auf der einen Seite diese Absonderungsbestrebungen, die die Schranken zwischen den Völkern immer höher auftürmen möchten, auf der andern der wachsende Verkehr, der keine Entfernungen und keine Grenzen mehr kennt, der uns in einer Nacht durch das ganze Gebiet einer selbstbewußten Völkerschaft trägt, ohne daß wir es merken, der auch die geistigen Erzeugnisse aller Nationen zum Gemeingut ihrer Gebildeten macht. Hier das allgemeine Bedürfnis nach Frieden, der von den meisten als der Güter höchstes gepriesen wird, und ein Friedenszustand von solcher Dauer, wie ihn die Welt noch niemals erlebt hat, dort die ungeheuern Heere und Flotten der Gegenwart, die doch diesen Frieden sichern sollen und ihn in der Tat erhalten, weil jeder, auch der mächtigste Staat den riesigen Einsatz bei einem Kriege scheut, Natio¬ nalität und Kultur widerstreiten nicht selten einander; was jener förderlich erscheint, das ist dieser oft feindlich; was die Kultur fordert, das stößt häufig auf den Widerstand nationaler Interessen, Wie ist solcher Widerspruch zu lösen? Wie weit reicht das Recht der einen und der andern Seite? Wo fängt das Unrecht an? Oder liegt etwa das Recht ganz ans der einen, das Unrecht ganz auf der andern Seite? So viel kann jeder aus der Geschichte gelernt haben, daß der Begriff der Nationalität sehr jung, sehr modern ist, ein Begriff, der sich aus der Bedeutung des Wurzelworts, einer durch die gemeinsame Abkunft verbundnen großen Menschengemeinschaft, nicht ohne weiteres entwickeln läßt. Diese gemeinsame Ab¬ kunft und die daraus folgende Gemeinschaft der Sprache und Sitte machen allerdings die Grundlage einer Nation im modernen Sinne aus, aber sie er¬ schöpfen keineswegs den Begriff. Hinzu kommen muß die Gemeinsamkeit der historischen Erinnerungen und der sittlichen Grundanschauungen, endlich das sich daraus ergebende Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, der Verschieden¬ heit von andern Nationen und der gemeinsamen Ziele. Also ist die Nation im modernen Sinne weder eine rein natürliche, noch vollends eine künst¬ liche, sondern eine historische Bildung; sie kann deshalb nur unter mannig¬ fachen Schwierigkeiten, in langer Zeit und unter bestimmten Voraussetzungen zustande kommen, und sie ist erst dann ganz vollendet, wenn sie auch einen nationalen Staat, der Seele den Leib geschaffen hat; sie ist demnach selbst ein Kulturerzeugnis. Nationen in diesem Sinne find erst in der neuern Zeit entstanden, und im Grunde fast nur in Europa. In England, Frankreich, Spanien hat erst der nationale Staat, der die verwandten Stämme zusammenfaßte, und indem er sie auf gemeinsame Ziele hinwies, ihnen das Bewußtsein der Zusammen¬ gehörigkeit anerzog, die Nation geschaffen; in Deutschland und Italien erwuchs umgekehrt der nationale Staat aus diesem Bewußtsein, das er nun wieder vertiefen und erweitern muß. Im ganzen Orient gibt es nationale Staaten noch heute nur im äußersten Osten, in China und Japan; sonst sind dort nicht nur Völker sondern auch Rassen meist so in- und übereinander geschoben, daß die Anwendung des Nationalitätsprinzips nicht staatenbildend sondern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/66>, abgerufen am 23.07.2024.