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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Skizzen ans unserm heutigen Volksleben

und Stützen bewahrt bleiben können, damit es nicht mit einemmal über Nacht
zusammenstürze, müssen auch sie die Beendigung unsrer Anschauungen nicht ver¬
wehren wollen. Solange wir unter bürgerlichen Verhältnissen in einem christ¬
lichen Staate leben, ist es in der Ordnung, daß nach christlichen und bürger¬
lichen Anschauungen empfunden, gehandelt und regiert wird. Wenn, was
der Himmel verhüten wolle, der Vorwärts und seine Freunde je ans ^egunent
kommen sollten, so wird dabei so vieles in die Brüche gehn, daß der Vcrlns
von Staat, Kirche und Familie ohnehin nur einen Teil der von der Gesellschaft
erlittenen Einbuße ausmachen wird.

Und nun uoch ein Wort an die Klatschsüchtigen. Daß Dresden als ern
elendes, seit der Zeit der Polenkönige unverbesserliches Klatschnest bezeichnet
wird, ist ja allerdings ein zu hartes Urteil, da auch dort die Zahl derer, denen
jede über Hintertreppen hinab und hinauf gelangte, ins Ohr geblasene Nach¬
richt süßer schmeckt als hymettischer Honig, doch nur eine Minderheit ist. Freilich,
u> diesem beklagenswerten Falle reichten die Urteilslosigkeit und die Verwirrung
des sittlichen Gefühls bis in die höchsten Kreise der Residenz hinauf, und was
die Sensationslüsternheit in den Schaufenstern Dresdens ungehindert leistete,
das war ebenso beschämend wie unbegreiflich. Diese Stimmung seiner Haupt¬
stadt, die im Lande keineswegs die herrschende war. ist es besonders gewesen,
was dem König Georg seinen Erlaß abgezwungen hat. Es fehlt eben vielen
das rechte Rückgrat, das uns unter Briihl und Konsorten abhanden gekommen ist.
und das wir brauchen, um jedem, der uns gemeinen Klatsch auf irgend welche
Weise, geschrieben, gedruckt oder gesprochen, zutrüge, zu zeigen, wo der Zimmer-
mann das Loch gelassen hat. Wenn einmal nicht mehr jede, auch die un¬
wahrscheinlichste Verdächtigung mit gläubigem Entgegenkommen und höflicher
Freundlichkeit aufgenommen werden wird, dann werden auch pemluhe Berich¬
tigungen, deren Freimut Wunden schlägt, entbehrlich sein.




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
Fritz Anders von Dritte Reihe
^. Der Mutterwitz

ibd es wohl einen trostloser" Anblick als den einer kleinen Eisen¬
bahnstation beim Anbruch eines trüben Wintertags? Ich denke dabei
besonders an den Bahnhof zu Sägebock, einem großen Dorfe, das in
der Nähe von Maßenburg liegt. An andern Tagen mag es vielleicht
anders aussehen, aber an einem solchen Morgen liegen die Schienen
---!so zwecklos und verloren am Boden, als hätte sie jemand vor tausend
liegen lassen. Die Weichenlaternen haben nicht ausgeschlafen und blicken
v ^über Augen in deu grauen Morgen. Das Stationsgebäude, wo noch Licht
u Nachtdienst her brennt, gleicht einer verglimmenden großen Nachtlcunpe bei Tages-
' ^Ä-' alles rings umher macht einen fröstelnden und verdrossenen Eindruck.

Ras f unzufrieden sehen auch die paar Beamten ans, die auf dem leeren
^nhvfe hernmstehn, als seien sie mit sich noch nicht im klaren, ob sie ans Tage-


Skizzen ans unserm heutigen Volksleben

und Stützen bewahrt bleiben können, damit es nicht mit einemmal über Nacht
zusammenstürze, müssen auch sie die Beendigung unsrer Anschauungen nicht ver¬
wehren wollen. Solange wir unter bürgerlichen Verhältnissen in einem christ¬
lichen Staate leben, ist es in der Ordnung, daß nach christlichen und bürger¬
lichen Anschauungen empfunden, gehandelt und regiert wird. Wenn, was
der Himmel verhüten wolle, der Vorwärts und seine Freunde je ans ^egunent
kommen sollten, so wird dabei so vieles in die Brüche gehn, daß der Vcrlns
von Staat, Kirche und Familie ohnehin nur einen Teil der von der Gesellschaft
erlittenen Einbuße ausmachen wird.

Und nun uoch ein Wort an die Klatschsüchtigen. Daß Dresden als ern
elendes, seit der Zeit der Polenkönige unverbesserliches Klatschnest bezeichnet
wird, ist ja allerdings ein zu hartes Urteil, da auch dort die Zahl derer, denen
jede über Hintertreppen hinab und hinauf gelangte, ins Ohr geblasene Nach¬
richt süßer schmeckt als hymettischer Honig, doch nur eine Minderheit ist. Freilich,
u> diesem beklagenswerten Falle reichten die Urteilslosigkeit und die Verwirrung
des sittlichen Gefühls bis in die höchsten Kreise der Residenz hinauf, und was
die Sensationslüsternheit in den Schaufenstern Dresdens ungehindert leistete,
das war ebenso beschämend wie unbegreiflich. Diese Stimmung seiner Haupt¬
stadt, die im Lande keineswegs die herrschende war. ist es besonders gewesen,
was dem König Georg seinen Erlaß abgezwungen hat. Es fehlt eben vielen
das rechte Rückgrat, das uns unter Briihl und Konsorten abhanden gekommen ist.
und das wir brauchen, um jedem, der uns gemeinen Klatsch auf irgend welche
Weise, geschrieben, gedruckt oder gesprochen, zutrüge, zu zeigen, wo der Zimmer-
mann das Loch gelassen hat. Wenn einmal nicht mehr jede, auch die un¬
wahrscheinlichste Verdächtigung mit gläubigem Entgegenkommen und höflicher
Freundlichkeit aufgenommen werden wird, dann werden auch pemluhe Berich¬
tigungen, deren Freimut Wunden schlägt, entbehrlich sein.




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
Fritz Anders von Dritte Reihe
^. Der Mutterwitz

ibd es wohl einen trostloser» Anblick als den einer kleinen Eisen¬
bahnstation beim Anbruch eines trüben Wintertags? Ich denke dabei
besonders an den Bahnhof zu Sägebock, einem großen Dorfe, das in
der Nähe von Maßenburg liegt. An andern Tagen mag es vielleicht
anders aussehen, aber an einem solchen Morgen liegen die Schienen
---!so zwecklos und verloren am Boden, als hätte sie jemand vor tausend
liegen lassen. Die Weichenlaternen haben nicht ausgeschlafen und blicken
v ^über Augen in deu grauen Morgen. Das Stationsgebäude, wo noch Licht
u Nachtdienst her brennt, gleicht einer verglimmenden großen Nachtlcunpe bei Tages-
' ^Ä-' alles rings umher macht einen fröstelnden und verdrossenen Eindruck.

Ras f unzufrieden sehen auch die paar Beamten ans, die auf dem leeren
^nhvfe hernmstehn, als seien sie mit sich noch nicht im klaren, ob sie ans Tage-


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[0039] Skizzen ans unserm heutigen Volksleben und Stützen bewahrt bleiben können, damit es nicht mit einemmal über Nacht zusammenstürze, müssen auch sie die Beendigung unsrer Anschauungen nicht ver¬ wehren wollen. Solange wir unter bürgerlichen Verhältnissen in einem christ¬ lichen Staate leben, ist es in der Ordnung, daß nach christlichen und bürger¬ lichen Anschauungen empfunden, gehandelt und regiert wird. Wenn, was der Himmel verhüten wolle, der Vorwärts und seine Freunde je ans ^egunent kommen sollten, so wird dabei so vieles in die Brüche gehn, daß der Vcrlns von Staat, Kirche und Familie ohnehin nur einen Teil der von der Gesellschaft erlittenen Einbuße ausmachen wird. Und nun uoch ein Wort an die Klatschsüchtigen. Daß Dresden als ern elendes, seit der Zeit der Polenkönige unverbesserliches Klatschnest bezeichnet wird, ist ja allerdings ein zu hartes Urteil, da auch dort die Zahl derer, denen jede über Hintertreppen hinab und hinauf gelangte, ins Ohr geblasene Nach¬ richt süßer schmeckt als hymettischer Honig, doch nur eine Minderheit ist. Freilich, u> diesem beklagenswerten Falle reichten die Urteilslosigkeit und die Verwirrung des sittlichen Gefühls bis in die höchsten Kreise der Residenz hinauf, und was die Sensationslüsternheit in den Schaufenstern Dresdens ungehindert leistete, das war ebenso beschämend wie unbegreiflich. Diese Stimmung seiner Haupt¬ stadt, die im Lande keineswegs die herrschende war. ist es besonders gewesen, was dem König Georg seinen Erlaß abgezwungen hat. Es fehlt eben vielen das rechte Rückgrat, das uns unter Briihl und Konsorten abhanden gekommen ist. und das wir brauchen, um jedem, der uns gemeinen Klatsch auf irgend welche Weise, geschrieben, gedruckt oder gesprochen, zutrüge, zu zeigen, wo der Zimmer- mann das Loch gelassen hat. Wenn einmal nicht mehr jede, auch die un¬ wahrscheinlichste Verdächtigung mit gläubigem Entgegenkommen und höflicher Freundlichkeit aufgenommen werden wird, dann werden auch pemluhe Berich¬ tigungen, deren Freimut Wunden schlägt, entbehrlich sein. Skizzen aus unserm heutigen Volksleben Fritz Anders von Dritte Reihe ^. Der Mutterwitz ibd es wohl einen trostloser» Anblick als den einer kleinen Eisen¬ bahnstation beim Anbruch eines trüben Wintertags? Ich denke dabei besonders an den Bahnhof zu Sägebock, einem großen Dorfe, das in der Nähe von Maßenburg liegt. An andern Tagen mag es vielleicht anders aussehen, aber an einem solchen Morgen liegen die Schienen ---!so zwecklos und verloren am Boden, als hätte sie jemand vor tausend liegen lassen. Die Weichenlaternen haben nicht ausgeschlafen und blicken v ^über Augen in deu grauen Morgen. Das Stationsgebäude, wo noch Licht u Nachtdienst her brennt, gleicht einer verglimmenden großen Nachtlcunpe bei Tages- ' ^Ä-' alles rings umher macht einen fröstelnden und verdrossenen Eindruck. Ras f unzufrieden sehen auch die paar Beamten ans, die auf dem leeren ^nhvfe hernmstehn, als seien sie mit sich noch nicht im klaren, ob sie ans Tage-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/39>, abgerufen am 24.07.2024.