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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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zum Sterben, müde bis in den Tod, was man so sagt, ist etwas ganz andres, als die
Erschöpfung des Aufgeregten, Sorgenvollen, dem kein Schlaf mehr naht; diese hat
den leeren Blick, das Trostlose und das Hoffnungslose in den Augen, die zwar
eingefallen sind, aber immer noch leuchten. Die Augen des in den Tod hinein¬
dämmernden schauen oft groß und voll Ergebung aus friedvollem Gesicht, öfter
sind sie verschleiert; ihr Blick trübt sich langsam, sie sehen nichts bestimmtes mehr,
sind der Welt der sichtbaren Dinge schon abgewandt; vielleicht sieht die Seele schon
innen mehr, oder es dämmert ihr innerlich zum Tag hin, während auf die Augen
der Schatten sinkt. So sterben die meisten todmüde, sie wollen nichts mehr von
der Welt wissen, lange ehe der erste kühle Hauch des niederschwebenden Todes sie
berührt hat. Bei Verwundeten habe ich Todesangst nur entstehn sehen, wenn das
Blut keinen Ausweg hat; beim Ausfließen des Bluts kehrt Ruhe und Heiterkeit
ein. So ruhig sterbende sollte man nicht mit Fragen stören. Man sieht dann in
dem verglasten Auge noch einen Willen, sich zu erinnern, festzuhalten; aber dieser
Blick irrt ab, zerfließt ins Weite. "Laßt mich doch ruhig sterben!" scheint er
zu sagen.

Was hast du gedacht, Gefreiter, als du den Bahndamm hinnnterrolltest?

Davon weiß ich nichts. Meine letzte Erinnerung war der Ton einer großen
Glocke, an die jemand in meinem Kopfe schlug; das war der Riß im Trommelfell.
Wenn ich nachdenke, verbindet sich dieser Ton mit dem grellen Licht des Gewehrs,
das mir gerade ins Gesicht hineingeschossen wurde. Aber es ist möglich, daß ich
mir das nur so hinzudenke. Dagegen ist mir ganz deutlich, daß mein erster Ge¬
danke beim Aufwachen aus der Ohnmacht das Bedauern über den Schmerz meiner
Mutter war. Merkwürdigerweise bedauerte ich gar uicht, daß ich sie uicht wieder sehen
würde; und doch glaubte ich in diesem Augenblick mit einem Schritt im Jenseits
zu stehn.

Das stimmt, sagte der bahrische Unteroffizier. Bei Kissingen erhielt mein
Junker, der den Zug führte, einen matten Granatsplitter, der ihm aber immerhin
noch einige Rippen eindrückte, und er erzählte, sein letzter Gedanke sei gewesen: Du
wirst deine Eltern nicht mehr sehen! Und von einem, der fast ertrunken wäre,
habe ich gehört, er habe sich zuletzt im Sarg liegen und seine Eltern davor betend
knieen sehen.

Man erzählt, daß manche Menschen sogar ihr ganzes Leben in den Paar
Sekunden haben vorüberziehn sehen, in denen sie von einem Berg stürzten oder
am Ertrinken waren. Sie beschreiben es wie ein ungeheuer rasches und langes
Defilieren der verschiedensten Eindrücke, bedeutender und unbedeutender, und wenn
sie aus der Todesnot erwachen, hat die ganze Vorstellung nur Sekunden, höchstens
eine Minute gedauert. Einige erzählen auch von dem Aufeinanderfolgen ganz be¬
stimmter, voneinander gesonderter Bilder einzelner Szenen aus ihrem Leben.
Ein württembergischer Unteroffizier war am Abend des 6. August bei Nieder-
braun von einer Kugel, er wußte nicht woher, in die Schulter getroffen worden;
er glaubte sogar, es sei eine verirrte deutsche Kugel gewesen; sie ging durch. Er
hätte sich verblutet, wenn er nicht zufällig vor der Nacht aufgehoben worden wäre.
Wie er nun so dalag und nur noch das Rollen der den fliehenden Franzosen
nachsetzenden Geschütze, das Pferdegetrappel und den Eilmarsch der Kolonnen horte,
aber nicht wie vom Boden, sondern als aus der Luft kommend, fühlte er sich
plötzlich ganz verwandelt und wie in eine andre Welt entrückt. Eben hatte er noch
mit Bedauern gedacht: Das Leben geht dahin, du wirst gleich tot sein, da sieht er
in einem lichten Raum, der sich ungeheuer weit auftut, alle Menschen vor sich, die
er jemals gekannt hatte, und zwar fast genau so, wie sie in sein Leben eingetreten
waren oder es gestreift hatten; alle tun das, was er sie einmal hatte tun sehen,
Ehepaare und Kinder stehn nebeneinander, der Lehrer unterrichtet, der Geistliche
segnet ein, und unser Halbtoter sieht sich selbst in der Kirche und in der Schule.
Es fehlt auch uicht an bekannten Landschaften, Hänser", Tieren. Gäste sieht er im


zum Sterben, müde bis in den Tod, was man so sagt, ist etwas ganz andres, als die
Erschöpfung des Aufgeregten, Sorgenvollen, dem kein Schlaf mehr naht; diese hat
den leeren Blick, das Trostlose und das Hoffnungslose in den Augen, die zwar
eingefallen sind, aber immer noch leuchten. Die Augen des in den Tod hinein¬
dämmernden schauen oft groß und voll Ergebung aus friedvollem Gesicht, öfter
sind sie verschleiert; ihr Blick trübt sich langsam, sie sehen nichts bestimmtes mehr,
sind der Welt der sichtbaren Dinge schon abgewandt; vielleicht sieht die Seele schon
innen mehr, oder es dämmert ihr innerlich zum Tag hin, während auf die Augen
der Schatten sinkt. So sterben die meisten todmüde, sie wollen nichts mehr von
der Welt wissen, lange ehe der erste kühle Hauch des niederschwebenden Todes sie
berührt hat. Bei Verwundeten habe ich Todesangst nur entstehn sehen, wenn das
Blut keinen Ausweg hat; beim Ausfließen des Bluts kehrt Ruhe und Heiterkeit
ein. So ruhig sterbende sollte man nicht mit Fragen stören. Man sieht dann in
dem verglasten Auge noch einen Willen, sich zu erinnern, festzuhalten; aber dieser
Blick irrt ab, zerfließt ins Weite. „Laßt mich doch ruhig sterben!" scheint er
zu sagen.

Was hast du gedacht, Gefreiter, als du den Bahndamm hinnnterrolltest?

Davon weiß ich nichts. Meine letzte Erinnerung war der Ton einer großen
Glocke, an die jemand in meinem Kopfe schlug; das war der Riß im Trommelfell.
Wenn ich nachdenke, verbindet sich dieser Ton mit dem grellen Licht des Gewehrs,
das mir gerade ins Gesicht hineingeschossen wurde. Aber es ist möglich, daß ich
mir das nur so hinzudenke. Dagegen ist mir ganz deutlich, daß mein erster Ge¬
danke beim Aufwachen aus der Ohnmacht das Bedauern über den Schmerz meiner
Mutter war. Merkwürdigerweise bedauerte ich gar uicht, daß ich sie uicht wieder sehen
würde; und doch glaubte ich in diesem Augenblick mit einem Schritt im Jenseits
zu stehn.

Das stimmt, sagte der bahrische Unteroffizier. Bei Kissingen erhielt mein
Junker, der den Zug führte, einen matten Granatsplitter, der ihm aber immerhin
noch einige Rippen eindrückte, und er erzählte, sein letzter Gedanke sei gewesen: Du
wirst deine Eltern nicht mehr sehen! Und von einem, der fast ertrunken wäre,
habe ich gehört, er habe sich zuletzt im Sarg liegen und seine Eltern davor betend
knieen sehen.

Man erzählt, daß manche Menschen sogar ihr ganzes Leben in den Paar
Sekunden haben vorüberziehn sehen, in denen sie von einem Berg stürzten oder
am Ertrinken waren. Sie beschreiben es wie ein ungeheuer rasches und langes
Defilieren der verschiedensten Eindrücke, bedeutender und unbedeutender, und wenn
sie aus der Todesnot erwachen, hat die ganze Vorstellung nur Sekunden, höchstens
eine Minute gedauert. Einige erzählen auch von dem Aufeinanderfolgen ganz be¬
stimmter, voneinander gesonderter Bilder einzelner Szenen aus ihrem Leben.
Ein württembergischer Unteroffizier war am Abend des 6. August bei Nieder-
braun von einer Kugel, er wußte nicht woher, in die Schulter getroffen worden;
er glaubte sogar, es sei eine verirrte deutsche Kugel gewesen; sie ging durch. Er
hätte sich verblutet, wenn er nicht zufällig vor der Nacht aufgehoben worden wäre.
Wie er nun so dalag und nur noch das Rollen der den fliehenden Franzosen
nachsetzenden Geschütze, das Pferdegetrappel und den Eilmarsch der Kolonnen horte,
aber nicht wie vom Boden, sondern als aus der Luft kommend, fühlte er sich
plötzlich ganz verwandelt und wie in eine andre Welt entrückt. Eben hatte er noch
mit Bedauern gedacht: Das Leben geht dahin, du wirst gleich tot sein, da sieht er
in einem lichten Raum, der sich ungeheuer weit auftut, alle Menschen vor sich, die
er jemals gekannt hatte, und zwar fast genau so, wie sie in sein Leben eingetreten
waren oder es gestreift hatten; alle tun das, was er sie einmal hatte tun sehen,
Ehepaare und Kinder stehn nebeneinander, der Lehrer unterrichtet, der Geistliche
segnet ein, und unser Halbtoter sieht sich selbst in der Kirche und in der Schule.
Es fehlt auch uicht an bekannten Landschaften, Hänser», Tieren. Gäste sieht er im


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[0228] zum Sterben, müde bis in den Tod, was man so sagt, ist etwas ganz andres, als die Erschöpfung des Aufgeregten, Sorgenvollen, dem kein Schlaf mehr naht; diese hat den leeren Blick, das Trostlose und das Hoffnungslose in den Augen, die zwar eingefallen sind, aber immer noch leuchten. Die Augen des in den Tod hinein¬ dämmernden schauen oft groß und voll Ergebung aus friedvollem Gesicht, öfter sind sie verschleiert; ihr Blick trübt sich langsam, sie sehen nichts bestimmtes mehr, sind der Welt der sichtbaren Dinge schon abgewandt; vielleicht sieht die Seele schon innen mehr, oder es dämmert ihr innerlich zum Tag hin, während auf die Augen der Schatten sinkt. So sterben die meisten todmüde, sie wollen nichts mehr von der Welt wissen, lange ehe der erste kühle Hauch des niederschwebenden Todes sie berührt hat. Bei Verwundeten habe ich Todesangst nur entstehn sehen, wenn das Blut keinen Ausweg hat; beim Ausfließen des Bluts kehrt Ruhe und Heiterkeit ein. So ruhig sterbende sollte man nicht mit Fragen stören. Man sieht dann in dem verglasten Auge noch einen Willen, sich zu erinnern, festzuhalten; aber dieser Blick irrt ab, zerfließt ins Weite. „Laßt mich doch ruhig sterben!" scheint er zu sagen. Was hast du gedacht, Gefreiter, als du den Bahndamm hinnnterrolltest? Davon weiß ich nichts. Meine letzte Erinnerung war der Ton einer großen Glocke, an die jemand in meinem Kopfe schlug; das war der Riß im Trommelfell. Wenn ich nachdenke, verbindet sich dieser Ton mit dem grellen Licht des Gewehrs, das mir gerade ins Gesicht hineingeschossen wurde. Aber es ist möglich, daß ich mir das nur so hinzudenke. Dagegen ist mir ganz deutlich, daß mein erster Ge¬ danke beim Aufwachen aus der Ohnmacht das Bedauern über den Schmerz meiner Mutter war. Merkwürdigerweise bedauerte ich gar uicht, daß ich sie uicht wieder sehen würde; und doch glaubte ich in diesem Augenblick mit einem Schritt im Jenseits zu stehn. Das stimmt, sagte der bahrische Unteroffizier. Bei Kissingen erhielt mein Junker, der den Zug führte, einen matten Granatsplitter, der ihm aber immerhin noch einige Rippen eindrückte, und er erzählte, sein letzter Gedanke sei gewesen: Du wirst deine Eltern nicht mehr sehen! Und von einem, der fast ertrunken wäre, habe ich gehört, er habe sich zuletzt im Sarg liegen und seine Eltern davor betend knieen sehen. Man erzählt, daß manche Menschen sogar ihr ganzes Leben in den Paar Sekunden haben vorüberziehn sehen, in denen sie von einem Berg stürzten oder am Ertrinken waren. Sie beschreiben es wie ein ungeheuer rasches und langes Defilieren der verschiedensten Eindrücke, bedeutender und unbedeutender, und wenn sie aus der Todesnot erwachen, hat die ganze Vorstellung nur Sekunden, höchstens eine Minute gedauert. Einige erzählen auch von dem Aufeinanderfolgen ganz be¬ stimmter, voneinander gesonderter Bilder einzelner Szenen aus ihrem Leben. Ein württembergischer Unteroffizier war am Abend des 6. August bei Nieder- braun von einer Kugel, er wußte nicht woher, in die Schulter getroffen worden; er glaubte sogar, es sei eine verirrte deutsche Kugel gewesen; sie ging durch. Er hätte sich verblutet, wenn er nicht zufällig vor der Nacht aufgehoben worden wäre. Wie er nun so dalag und nur noch das Rollen der den fliehenden Franzosen nachsetzenden Geschütze, das Pferdegetrappel und den Eilmarsch der Kolonnen horte, aber nicht wie vom Boden, sondern als aus der Luft kommend, fühlte er sich plötzlich ganz verwandelt und wie in eine andre Welt entrückt. Eben hatte er noch mit Bedauern gedacht: Das Leben geht dahin, du wirst gleich tot sein, da sieht er in einem lichten Raum, der sich ungeheuer weit auftut, alle Menschen vor sich, die er jemals gekannt hatte, und zwar fast genau so, wie sie in sein Leben eingetreten waren oder es gestreift hatten; alle tun das, was er sie einmal hatte tun sehen, Ehepaare und Kinder stehn nebeneinander, der Lehrer unterrichtet, der Geistliche segnet ein, und unser Halbtoter sieht sich selbst in der Kirche und in der Schule. Es fehlt auch uicht an bekannten Landschaften, Hänser», Tieren. Gäste sieht er im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/228>, abgerufen am 23.07.2024.