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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Über den Einfluß der Wissenschaft ans die Titeratnr

sie werden Lebensdilettanten, Zuschauer, nicht Teilnehmer, wie die Gebrüder
Goncourt, Paul Bourget u. a.

Es gibt aber auch Menschen, deren ungeborne Kraft zu groß ist, als daß
sie sich von der Lehre der unbedingten Notwendigkeit totschlagen ließen; vor
"lieu muß man hier Emile Zola nennen. Ohne tieferes Verständnis der
feinern psychologischen Vorgänge hat er mit größerer Einfachheit als irgend
jemand alle Folgerungen aus der unbedingten Herrschaft des Determinismus über
alle Erscheinungen gezogen. Erkennt er aber auch die Bestimmtheit aller Dinge,
so ist er auf der andern Seite auch damit völlig im reinen, daß er selber durch
seine große natürliche Kraft nud Begabung eine der wesentlich bestimmenden
Ursache" seiner Zeit sein will.

Man hat Zola oft einen Pessimisten genannt, und wegen der finstern
Bilder, die er von seiner Zeit gegeben hat, ist man hierzu auch berechtigt, aber
nur mit einer Einschränkung. Seine Auffassung von seiner eignen Arbeit und
der der Kameraden, von der Bedeutung des naturalistischen Romans ist nämlich
von einem fast kindlichen Optimismus. Die Hoffnungen, die er an die Wirkungen
dieser Literatur knüpft, sind ganz naiv; er meint, daß wenn auch jetzt alles in
der Welt so häßlich sei, wenn Krankheit und Dummheit und Unglück die treuesten
Gefährten des Menschenlebens seien, so beruhe dies lediglich auf Unwissenheit.
Wenn einmal der experimentelle Roman das ganze Material des Menschenlebens
dargelegt habe, wenn Staatsmänner dieses Material studiert hätten, dann werde
Man die Ursachen des Unglücks klar einsehen und auch die Mittel, sie zu be¬
seitigen



Zola trat in seiner Polemik der siebziger Jahre den romantischen Gegnern
gegenüber mit großem Hochmut ans. Namentlich gefiel er sich darin, sie wegen
ihrer kurzen Lebenszeit zu verhöhnen. Der Klassizismus habe mehrere Jahr¬
hunderte gelebt, der romantische Traum sei aber schon nach fünfzig Jahren ent¬
schwunden. Nun werde die Romantik von allen Seiten durch die wissenschaft¬
lichen Entdeckungen und durch den Naturalismus verdrängt; und dieser habe kraft
seiner soliden Grundlage das Leben in sich und werde bis in die Ewigkeit leben.
Aber spätere Zeiten haben sein Wort nicht wahr gemacht. Moderne Literar¬
historiker betrachten die naturalistische Periode schon als abgeschlossen; sie
ist von einer Richtung abgelöst worden, die sich in ihren Bestrebungen der ver¬
achteten Romantik vielfach nähert. Man fängt wieder an, die berühmten Shake-
spearischen Worte anzuführen- Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden,
als sich unsre Schulweisheit träumen läßt. Man fängt wieder an. den uner¬
klärlichen unbewußten und halbbewußten Regungen der menschlichen Seele zu
tuschen, und Ideen und Träume werden nicht mehr völlig verachtet. Dies
ist gewiß nur eine natürliche Reaktion; aber bedenklich bleibt es doch, daß solche
großen Genies, wie sie am romantischen Himmel strahlten, daß solche großen
Talente, wie sie ans dem fruchtbaren Boden des Naturalismus emporwuchsen, in
dieser neuesten Richtung noch immer auf sich warten lassen.




Über den Einfluß der Wissenschaft ans die Titeratnr

sie werden Lebensdilettanten, Zuschauer, nicht Teilnehmer, wie die Gebrüder
Goncourt, Paul Bourget u. a.

Es gibt aber auch Menschen, deren ungeborne Kraft zu groß ist, als daß
sie sich von der Lehre der unbedingten Notwendigkeit totschlagen ließen; vor
«lieu muß man hier Emile Zola nennen. Ohne tieferes Verständnis der
feinern psychologischen Vorgänge hat er mit größerer Einfachheit als irgend
jemand alle Folgerungen aus der unbedingten Herrschaft des Determinismus über
alle Erscheinungen gezogen. Erkennt er aber auch die Bestimmtheit aller Dinge,
so ist er auf der andern Seite auch damit völlig im reinen, daß er selber durch
seine große natürliche Kraft nud Begabung eine der wesentlich bestimmenden
Ursache» seiner Zeit sein will.

Man hat Zola oft einen Pessimisten genannt, und wegen der finstern
Bilder, die er von seiner Zeit gegeben hat, ist man hierzu auch berechtigt, aber
nur mit einer Einschränkung. Seine Auffassung von seiner eignen Arbeit und
der der Kameraden, von der Bedeutung des naturalistischen Romans ist nämlich
von einem fast kindlichen Optimismus. Die Hoffnungen, die er an die Wirkungen
dieser Literatur knüpft, sind ganz naiv; er meint, daß wenn auch jetzt alles in
der Welt so häßlich sei, wenn Krankheit und Dummheit und Unglück die treuesten
Gefährten des Menschenlebens seien, so beruhe dies lediglich auf Unwissenheit.
Wenn einmal der experimentelle Roman das ganze Material des Menschenlebens
dargelegt habe, wenn Staatsmänner dieses Material studiert hätten, dann werde
Man die Ursachen des Unglücks klar einsehen und auch die Mittel, sie zu be¬
seitigen



Zola trat in seiner Polemik der siebziger Jahre den romantischen Gegnern
gegenüber mit großem Hochmut ans. Namentlich gefiel er sich darin, sie wegen
ihrer kurzen Lebenszeit zu verhöhnen. Der Klassizismus habe mehrere Jahr¬
hunderte gelebt, der romantische Traum sei aber schon nach fünfzig Jahren ent¬
schwunden. Nun werde die Romantik von allen Seiten durch die wissenschaft¬
lichen Entdeckungen und durch den Naturalismus verdrängt; und dieser habe kraft
seiner soliden Grundlage das Leben in sich und werde bis in die Ewigkeit leben.
Aber spätere Zeiten haben sein Wort nicht wahr gemacht. Moderne Literar¬
historiker betrachten die naturalistische Periode schon als abgeschlossen; sie
ist von einer Richtung abgelöst worden, die sich in ihren Bestrebungen der ver¬
achteten Romantik vielfach nähert. Man fängt wieder an, die berühmten Shake-
spearischen Worte anzuführen- Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden,
als sich unsre Schulweisheit träumen läßt. Man fängt wieder an. den uner¬
klärlichen unbewußten und halbbewußten Regungen der menschlichen Seele zu
tuschen, und Ideen und Träume werden nicht mehr völlig verachtet. Dies
ist gewiß nur eine natürliche Reaktion; aber bedenklich bleibt es doch, daß solche
großen Genies, wie sie am romantischen Himmel strahlten, daß solche großen
Talente, wie sie ans dem fruchtbaren Boden des Naturalismus emporwuchsen, in
dieser neuesten Richtung noch immer auf sich warten lassen.




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[0221] Über den Einfluß der Wissenschaft ans die Titeratnr sie werden Lebensdilettanten, Zuschauer, nicht Teilnehmer, wie die Gebrüder Goncourt, Paul Bourget u. a. Es gibt aber auch Menschen, deren ungeborne Kraft zu groß ist, als daß sie sich von der Lehre der unbedingten Notwendigkeit totschlagen ließen; vor «lieu muß man hier Emile Zola nennen. Ohne tieferes Verständnis der feinern psychologischen Vorgänge hat er mit größerer Einfachheit als irgend jemand alle Folgerungen aus der unbedingten Herrschaft des Determinismus über alle Erscheinungen gezogen. Erkennt er aber auch die Bestimmtheit aller Dinge, so ist er auf der andern Seite auch damit völlig im reinen, daß er selber durch seine große natürliche Kraft nud Begabung eine der wesentlich bestimmenden Ursache» seiner Zeit sein will. Man hat Zola oft einen Pessimisten genannt, und wegen der finstern Bilder, die er von seiner Zeit gegeben hat, ist man hierzu auch berechtigt, aber nur mit einer Einschränkung. Seine Auffassung von seiner eignen Arbeit und der der Kameraden, von der Bedeutung des naturalistischen Romans ist nämlich von einem fast kindlichen Optimismus. Die Hoffnungen, die er an die Wirkungen dieser Literatur knüpft, sind ganz naiv; er meint, daß wenn auch jetzt alles in der Welt so häßlich sei, wenn Krankheit und Dummheit und Unglück die treuesten Gefährten des Menschenlebens seien, so beruhe dies lediglich auf Unwissenheit. Wenn einmal der experimentelle Roman das ganze Material des Menschenlebens dargelegt habe, wenn Staatsmänner dieses Material studiert hätten, dann werde Man die Ursachen des Unglücks klar einsehen und auch die Mittel, sie zu be¬ seitigen Zola trat in seiner Polemik der siebziger Jahre den romantischen Gegnern gegenüber mit großem Hochmut ans. Namentlich gefiel er sich darin, sie wegen ihrer kurzen Lebenszeit zu verhöhnen. Der Klassizismus habe mehrere Jahr¬ hunderte gelebt, der romantische Traum sei aber schon nach fünfzig Jahren ent¬ schwunden. Nun werde die Romantik von allen Seiten durch die wissenschaft¬ lichen Entdeckungen und durch den Naturalismus verdrängt; und dieser habe kraft seiner soliden Grundlage das Leben in sich und werde bis in die Ewigkeit leben. Aber spätere Zeiten haben sein Wort nicht wahr gemacht. Moderne Literar¬ historiker betrachten die naturalistische Periode schon als abgeschlossen; sie ist von einer Richtung abgelöst worden, die sich in ihren Bestrebungen der ver¬ achteten Romantik vielfach nähert. Man fängt wieder an, die berühmten Shake- spearischen Worte anzuführen- Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als sich unsre Schulweisheit träumen läßt. Man fängt wieder an. den uner¬ klärlichen unbewußten und halbbewußten Regungen der menschlichen Seele zu tuschen, und Ideen und Träume werden nicht mehr völlig verachtet. Dies ist gewiß nur eine natürliche Reaktion; aber bedenklich bleibt es doch, daß solche großen Genies, wie sie am romantischen Himmel strahlten, daß solche großen Talente, wie sie ans dem fruchtbaren Boden des Naturalismus emporwuchsen, in dieser neuesten Richtung noch immer auf sich warten lassen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/221>, abgerufen am 23.07.2024.