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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Über den Einfluß der Wissenschaft ans die Literatur

Dichter zugänglichen Stoffe begrenzt. Da nun aber das Leben eine endlose
Menge von ooins umfaßt, so geht es in der Literatur, wie es in der Wissen¬
schaft gegangen ist: der einzelne Verfasser kann das Ganze nicht beherrschen,
und man teilt deshalb die Provinzen unter sich, oder mit andern Worten: es
entwickeln sich Spezialisten. Guy de Maupassant macht sich eine Spezialität
aus normannischen Bauern, Daudet bewegt sich am sichersten in Südfrankreich,
Pierre Loki segelt nach fremden Gestaden, wo er seine Bücher mit exotischen
Dufte füllt. Und wenn sich die meisten Schriftsteller auch nicht (das gilt auch
von den genannten) in die Beschränkung auf bestimmte Gebiete finde" wollen, so
sind sie doch Spezialisten in jedem einzelnen Buche; jeder Roman ist eine
Spezialstudie, eine Monographie. I^,"8nmrnoir ist eine Monographie über die
Trunksucht, I^!>. t'illo Mika und !^a,na sind Spezialstndicn über die Prostitution,
Osruuaiv Iiaoortoux wird von den Dichtern selbst uns oliniquo ä'amour ge¬
nannt, ^.ni. I'<in>u>ni' 60" >!<mu^ ist eine soziologische Studie über die Ernäh¬
rung einer Großstadt, IVMuvrv eine über den modernen Künstler, IZczl-^mi
eine über den modernen Journalisten usw.

Die naturalistischen Spezialisten nehmen die Wissenschaftlichkeit ihrer Werke
mit vollem Ernst; und es kommt auch vor, wenn auch das Gegenteil öfter der
Fall ist, daß die Wissenschaft ihre Prütensionen honoriert. Zola hat z. B.
wiederholt die Genugtuung erlebt, daß seine Bücher Gegenstand einer lebhaften
Erörterung in strengen Fachzeitschriften, wie 1^6 ('pi'r<3Kvon<1an.t mücliczkil und
^nnicks" mväi<ze>-p^/c;in>!un^ne;8 gewesen sind; und der Großmeister der italie
nischen Kriminalistenschule, Lombroso, hat unter anderm eine Abhandlung über
"Ibsens Gespenster und die Psychiatrie" geschrieben, worin er im wesentlichen
die wissenschaftliche Korrektheit der dichterischen Darstellung anerkennt.


2

Der Stoffwahl ganz nahe und von ihr beeinflußt liegt die schriftstellerische
Methode oder die Arbeitsweise der Dichter. Auch auf die Methode hat die
Wissenschaft großen Einfluß ausgeübt. Es ergibt sich übrigens aus den? Vorher¬
gehenden, daß, wenn sich die Dichtung auf die Darstellung der Wirklichkeits¬
objekte beschränkt hatte, ihr, wie der Wissenschaft, nur der Weg der Beobachtung
offen stand. Die Beobachtung ist für die Dichter wie für die Forscher die
unentbehrliche Grundlage aller methodischen Mittel. Es gilt seine Augen zu
benutzen, denn eine möglichst genaue Beobachtung ist die notwendige Bedingung
eines möglichst guten Resultats. Auch hier ist der Gegensatz zu den Roman¬
tikern sehr schroff; die Romantiker schlössen die Angen absichtlich zu, da sie von
dem bunten Lärm der üußcru Welt in ihren Traumen nicht gestört werdeu
wollten. Der norwegische Lhrikcr Henrik Wergeland (1808 bis 1845) sagt
hierüber:




Über den Einfluß der Wissenschaft ans die Literatur

Dichter zugänglichen Stoffe begrenzt. Da nun aber das Leben eine endlose
Menge von ooins umfaßt, so geht es in der Literatur, wie es in der Wissen¬
schaft gegangen ist: der einzelne Verfasser kann das Ganze nicht beherrschen,
und man teilt deshalb die Provinzen unter sich, oder mit andern Worten: es
entwickeln sich Spezialisten. Guy de Maupassant macht sich eine Spezialität
aus normannischen Bauern, Daudet bewegt sich am sichersten in Südfrankreich,
Pierre Loki segelt nach fremden Gestaden, wo er seine Bücher mit exotischen
Dufte füllt. Und wenn sich die meisten Schriftsteller auch nicht (das gilt auch
von den genannten) in die Beschränkung auf bestimmte Gebiete finde» wollen, so
sind sie doch Spezialisten in jedem einzelnen Buche; jeder Roman ist eine
Spezialstudie, eine Monographie. I^,»8nmrnoir ist eine Monographie über die
Trunksucht, I^!>. t'illo Mika und !^a,na sind Spezialstndicn über die Prostitution,
Osruuaiv Iiaoortoux wird von den Dichtern selbst uns oliniquo ä'amour ge¬
nannt, ^.ni. I'<in>u>ni' 60» >!<mu^ ist eine soziologische Studie über die Ernäh¬
rung einer Großstadt, IVMuvrv eine über den modernen Künstler, IZczl-^mi
eine über den modernen Journalisten usw.

Die naturalistischen Spezialisten nehmen die Wissenschaftlichkeit ihrer Werke
mit vollem Ernst; und es kommt auch vor, wenn auch das Gegenteil öfter der
Fall ist, daß die Wissenschaft ihre Prütensionen honoriert. Zola hat z. B.
wiederholt die Genugtuung erlebt, daß seine Bücher Gegenstand einer lebhaften
Erörterung in strengen Fachzeitschriften, wie 1^6 ('pi'r<3Kvon<1an.t mücliczkil und
^nnicks« mväi<ze>-p^/c;in>!un^ne;8 gewesen sind; und der Großmeister der italie
nischen Kriminalistenschule, Lombroso, hat unter anderm eine Abhandlung über
„Ibsens Gespenster und die Psychiatrie" geschrieben, worin er im wesentlichen
die wissenschaftliche Korrektheit der dichterischen Darstellung anerkennt.


2

Der Stoffwahl ganz nahe und von ihr beeinflußt liegt die schriftstellerische
Methode oder die Arbeitsweise der Dichter. Auch auf die Methode hat die
Wissenschaft großen Einfluß ausgeübt. Es ergibt sich übrigens aus den? Vorher¬
gehenden, daß, wenn sich die Dichtung auf die Darstellung der Wirklichkeits¬
objekte beschränkt hatte, ihr, wie der Wissenschaft, nur der Weg der Beobachtung
offen stand. Die Beobachtung ist für die Dichter wie für die Forscher die
unentbehrliche Grundlage aller methodischen Mittel. Es gilt seine Augen zu
benutzen, denn eine möglichst genaue Beobachtung ist die notwendige Bedingung
eines möglichst guten Resultats. Auch hier ist der Gegensatz zu den Roman¬
tikern sehr schroff; die Romantiker schlössen die Angen absichtlich zu, da sie von
dem bunten Lärm der üußcru Welt in ihren Traumen nicht gestört werdeu
wollten. Der norwegische Lhrikcr Henrik Wergeland (1808 bis 1845) sagt
hierüber:




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[0214] Über den Einfluß der Wissenschaft ans die Literatur Dichter zugänglichen Stoffe begrenzt. Da nun aber das Leben eine endlose Menge von ooins umfaßt, so geht es in der Literatur, wie es in der Wissen¬ schaft gegangen ist: der einzelne Verfasser kann das Ganze nicht beherrschen, und man teilt deshalb die Provinzen unter sich, oder mit andern Worten: es entwickeln sich Spezialisten. Guy de Maupassant macht sich eine Spezialität aus normannischen Bauern, Daudet bewegt sich am sichersten in Südfrankreich, Pierre Loki segelt nach fremden Gestaden, wo er seine Bücher mit exotischen Dufte füllt. Und wenn sich die meisten Schriftsteller auch nicht (das gilt auch von den genannten) in die Beschränkung auf bestimmte Gebiete finde» wollen, so sind sie doch Spezialisten in jedem einzelnen Buche; jeder Roman ist eine Spezialstudie, eine Monographie. I^,»8nmrnoir ist eine Monographie über die Trunksucht, I^!>. t'illo Mika und !^a,na sind Spezialstndicn über die Prostitution, Osruuaiv Iiaoortoux wird von den Dichtern selbst uns oliniquo ä'amour ge¬ nannt, ^.ni. I'<in>u>ni' 60» >!<mu^ ist eine soziologische Studie über die Ernäh¬ rung einer Großstadt, IVMuvrv eine über den modernen Künstler, IZczl-^mi eine über den modernen Journalisten usw. Die naturalistischen Spezialisten nehmen die Wissenschaftlichkeit ihrer Werke mit vollem Ernst; und es kommt auch vor, wenn auch das Gegenteil öfter der Fall ist, daß die Wissenschaft ihre Prütensionen honoriert. Zola hat z. B. wiederholt die Genugtuung erlebt, daß seine Bücher Gegenstand einer lebhaften Erörterung in strengen Fachzeitschriften, wie 1^6 ('pi'r<3Kvon<1an.t mücliczkil und ^nnicks« mväi<ze>-p^/c;in>!un^ne;8 gewesen sind; und der Großmeister der italie nischen Kriminalistenschule, Lombroso, hat unter anderm eine Abhandlung über „Ibsens Gespenster und die Psychiatrie" geschrieben, worin er im wesentlichen die wissenschaftliche Korrektheit der dichterischen Darstellung anerkennt. 2 Der Stoffwahl ganz nahe und von ihr beeinflußt liegt die schriftstellerische Methode oder die Arbeitsweise der Dichter. Auch auf die Methode hat die Wissenschaft großen Einfluß ausgeübt. Es ergibt sich übrigens aus den? Vorher¬ gehenden, daß, wenn sich die Dichtung auf die Darstellung der Wirklichkeits¬ objekte beschränkt hatte, ihr, wie der Wissenschaft, nur der Weg der Beobachtung offen stand. Die Beobachtung ist für die Dichter wie für die Forscher die unentbehrliche Grundlage aller methodischen Mittel. Es gilt seine Augen zu benutzen, denn eine möglichst genaue Beobachtung ist die notwendige Bedingung eines möglichst guten Resultats. Auch hier ist der Gegensatz zu den Roman¬ tikern sehr schroff; die Romantiker schlössen die Angen absichtlich zu, da sie von dem bunten Lärm der üußcru Welt in ihren Traumen nicht gestört werdeu wollten. Der norwegische Lhrikcr Henrik Wergeland (1808 bis 1845) sagt hierüber:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/214>, abgerufen am 22.07.2024.