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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Im Lazarett

Denselben Abend sah ich einen andern Mann vor meinem Bett sitzen, der
meine Hände mit den seinen zusammenlegte. Ich meinte, es sei eine vou den
vielen Gestalten, die ich im Fieber gesehen hatte, glaubte ihn aber beten zu hören,
und als er gegangen war, lag ein kleines Buch ans meinen" Bett, ein Neues Testa¬
ment, Ich habe es ans dem Lazarett hinausgetragen und in der Welt umher-
getragen und habe es bis heute in Ehren gehalten. An diesem Abend war es zu
spät, darin zu lesen, doch gewährte mir schon das, daß ich es in der Hand hielt,
eine eigentümliche Befriedigung; es war mir, wie wenn ans dem kleinen Buch
eine Hoffnung in mich übergegangen sei, die diese Stunde unmittelbar an die ersten
schönen Stunden des Morgens knüpfte, wo ich mit dem Händedruck des Haupt-
manns von Les Versoix weg und in den Sonnenmorgen hineingefahren war, und
vergaß, wie mich damals der Frost durchschnitten und starr gemacht hatte, und wie
schlecht ich zuerst im Lazarett aufgenommen worden war.

Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, ich sei als gläubiger Christ in den
Krieg gezogen, war vielmehr, wie meine ganze Generation, vom Zweifel gründlich
angesteckt. Aber schon beim ersten Feldgvttesdienst hatte ich erfahren, daß, wenn
vieles im Kriege zum Fluch -wird, vieles auch die Hände zum Gebet zusammen¬
zwingt. Wieviele Gebetsstimmnngen in stillen Nächten, an friedlichen Abenden, die
laute Kämpfe beschließen! Hätte doch das gewöhnliche Friedensleben soviel davon.
Man muß es erfahren, wie eine andächtige Stimmung unser ganzes Dasein und unsre
Mitwelt in eine reinere Sphäre weit über Blut und Neues hinaushebt, und wie in
großer einfacher Stille einer Sternenuncht Kleines und Störendes verschwindet.

Heute senkte sich diese Stimmung über mich wie das Abendrot dieser Tage
voll verzehrender innerer Hitze, freundlich klangen deren wilde Phantasien in die
goldne Stimmung dieses Abends ans. Den nächsten Morgen, nach dem ersten
tiefen erquickenden Schlaf, Abnahme und Erneuerung des Verbandes, wobei der
Generalarzt, der zugegen war, mir die Frage vorlegte, ob ich das schöne Loch in
der Ohrmuschel behalten wollte, um künftig eine Zigarre darin zu tragen, oder
ob das Ohr an den Kopf angeheilt werden sollte? Ohr für Nichtraucher wäre
mir lieber. Gut; aber den Kopfschuß, der den l^roosssus maswiclous glatt mitgenommen
hat, wollen wir sehr sorgfältig behandeln, denn da ist nnr noch ein knrtendickes
Knochenblntt zwischen der Luft und dem Gehirn. Ein Millimeter tiefer, und Sie
lägen jetzt wo anders.

Wieviel Schmerz, Sehnsucht, Enttäuschung bis zur Verzweiflung, aber auch
Hoffnung bis zur kühnsten Illusion lebt und strebt zusammen, wühlt und bohrt in
einem solchen Laznrettsaal! Aber so wie, rein körperlich und äußerlich genommen,
wenig von dem allen sich lant Luft macht, sodaß eine gewisse gedrückte Stille, in
der jedes laute Wort ans Furcht, hier doppelt laut zu klinge", zum Flüstern wird,
für gewöhnlich über dem Krankensaale liegt: so ist anch in den Seelen dieser vielen
Kranken mehr Ergebung, als der vermuten möchte, der ihre Leiden kennt oder
ihre Wunden sieht. Es ist ein Bild des Lebens und eine Lehre fürs Leben, wie
jeder Einzelne das Beste ans seiner Lage, anch ans dieser Lage, zu zieh" sucht.
Man begreift nun erst, daß der Mensch leben will, was es anch koste, und in welche
Zukunft hinein anch immer sein Leben gerichtet sei. Das Leben des Menschen ist
eine von den Pflanzen der 1'Iora. snbtsiiAllvk, die auch in dunkeln Kellern und Berg-
Werksschächten so gut wie im goldnen Sonnenlicht gedeiht; aber aus dein Licht wie
""s der Dunkelheit treibt und' rankt es nach oben,' nirgends wächst es zur Wurzel
zurück; und wenn seine Blüten so klein und unscheinbar sind, daß man sie kaum
hohe, und seine Früchte nie zur Reife kommen zu wollen scheinen: es knospen die
Blüten und reifen die Früchte, und die Hoffnung sorgt, daß es nie aufhöre.
Hier haben sie sich mit ihrem Schicksal auseinandergesetzt, manche sogar mit dem
Leben abgeschlossen. Die Zeit heilt! Welcher Gegensatz zu dem Stöhnen, Seufzer
und den Jammerrufen derer, die der Tod auf dem Schlachtfeld überrascht oder
burt gestreift hat. Auch das Schrecklichste der Schlachtfelder und der Feldlazarette,


Grenzboton 11 1903 21
Im Lazarett

Denselben Abend sah ich einen andern Mann vor meinem Bett sitzen, der
meine Hände mit den seinen zusammenlegte. Ich meinte, es sei eine vou den
vielen Gestalten, die ich im Fieber gesehen hatte, glaubte ihn aber beten zu hören,
und als er gegangen war, lag ein kleines Buch ans meinen« Bett, ein Neues Testa¬
ment, Ich habe es ans dem Lazarett hinausgetragen und in der Welt umher-
getragen und habe es bis heute in Ehren gehalten. An diesem Abend war es zu
spät, darin zu lesen, doch gewährte mir schon das, daß ich es in der Hand hielt,
eine eigentümliche Befriedigung; es war mir, wie wenn ans dem kleinen Buch
eine Hoffnung in mich übergegangen sei, die diese Stunde unmittelbar an die ersten
schönen Stunden des Morgens knüpfte, wo ich mit dem Händedruck des Haupt-
manns von Les Versoix weg und in den Sonnenmorgen hineingefahren war, und
vergaß, wie mich damals der Frost durchschnitten und starr gemacht hatte, und wie
schlecht ich zuerst im Lazarett aufgenommen worden war.

Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, ich sei als gläubiger Christ in den
Krieg gezogen, war vielmehr, wie meine ganze Generation, vom Zweifel gründlich
angesteckt. Aber schon beim ersten Feldgvttesdienst hatte ich erfahren, daß, wenn
vieles im Kriege zum Fluch -wird, vieles auch die Hände zum Gebet zusammen¬
zwingt. Wieviele Gebetsstimmnngen in stillen Nächten, an friedlichen Abenden, die
laute Kämpfe beschließen! Hätte doch das gewöhnliche Friedensleben soviel davon.
Man muß es erfahren, wie eine andächtige Stimmung unser ganzes Dasein und unsre
Mitwelt in eine reinere Sphäre weit über Blut und Neues hinaushebt, und wie in
großer einfacher Stille einer Sternenuncht Kleines und Störendes verschwindet.

Heute senkte sich diese Stimmung über mich wie das Abendrot dieser Tage
voll verzehrender innerer Hitze, freundlich klangen deren wilde Phantasien in die
goldne Stimmung dieses Abends ans. Den nächsten Morgen, nach dem ersten
tiefen erquickenden Schlaf, Abnahme und Erneuerung des Verbandes, wobei der
Generalarzt, der zugegen war, mir die Frage vorlegte, ob ich das schöne Loch in
der Ohrmuschel behalten wollte, um künftig eine Zigarre darin zu tragen, oder
ob das Ohr an den Kopf angeheilt werden sollte? Ohr für Nichtraucher wäre
mir lieber. Gut; aber den Kopfschuß, der den l^roosssus maswiclous glatt mitgenommen
hat, wollen wir sehr sorgfältig behandeln, denn da ist nnr noch ein knrtendickes
Knochenblntt zwischen der Luft und dem Gehirn. Ein Millimeter tiefer, und Sie
lägen jetzt wo anders.

Wieviel Schmerz, Sehnsucht, Enttäuschung bis zur Verzweiflung, aber auch
Hoffnung bis zur kühnsten Illusion lebt und strebt zusammen, wühlt und bohrt in
einem solchen Laznrettsaal! Aber so wie, rein körperlich und äußerlich genommen,
wenig von dem allen sich lant Luft macht, sodaß eine gewisse gedrückte Stille, in
der jedes laute Wort ans Furcht, hier doppelt laut zu klinge», zum Flüstern wird,
für gewöhnlich über dem Krankensaale liegt: so ist anch in den Seelen dieser vielen
Kranken mehr Ergebung, als der vermuten möchte, der ihre Leiden kennt oder
ihre Wunden sieht. Es ist ein Bild des Lebens und eine Lehre fürs Leben, wie
jeder Einzelne das Beste ans seiner Lage, anch ans dieser Lage, zu zieh» sucht.
Man begreift nun erst, daß der Mensch leben will, was es anch koste, und in welche
Zukunft hinein anch immer sein Leben gerichtet sei. Das Leben des Menschen ist
eine von den Pflanzen der 1'Iora. snbtsiiAllvk, die auch in dunkeln Kellern und Berg-
Werksschächten so gut wie im goldnen Sonnenlicht gedeiht; aber aus dein Licht wie
"»s der Dunkelheit treibt und' rankt es nach oben,' nirgends wächst es zur Wurzel
zurück; und wenn seine Blüten so klein und unscheinbar sind, daß man sie kaum
hohe, und seine Früchte nie zur Reife kommen zu wollen scheinen: es knospen die
Blüten und reifen die Früchte, und die Hoffnung sorgt, daß es nie aufhöre.
Hier haben sie sich mit ihrem Schicksal auseinandergesetzt, manche sogar mit dem
Leben abgeschlossen. Die Zeit heilt! Welcher Gegensatz zu dem Stöhnen, Seufzer
und den Jammerrufen derer, die der Tod auf dem Schlachtfeld überrascht oder
burt gestreift hat. Auch das Schrecklichste der Schlachtfelder und der Feldlazarette,


Grenzboton 11 1903 21
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[0165] Im Lazarett Denselben Abend sah ich einen andern Mann vor meinem Bett sitzen, der meine Hände mit den seinen zusammenlegte. Ich meinte, es sei eine vou den vielen Gestalten, die ich im Fieber gesehen hatte, glaubte ihn aber beten zu hören, und als er gegangen war, lag ein kleines Buch ans meinen« Bett, ein Neues Testa¬ ment, Ich habe es ans dem Lazarett hinausgetragen und in der Welt umher- getragen und habe es bis heute in Ehren gehalten. An diesem Abend war es zu spät, darin zu lesen, doch gewährte mir schon das, daß ich es in der Hand hielt, eine eigentümliche Befriedigung; es war mir, wie wenn ans dem kleinen Buch eine Hoffnung in mich übergegangen sei, die diese Stunde unmittelbar an die ersten schönen Stunden des Morgens knüpfte, wo ich mit dem Händedruck des Haupt- manns von Les Versoix weg und in den Sonnenmorgen hineingefahren war, und vergaß, wie mich damals der Frost durchschnitten und starr gemacht hatte, und wie schlecht ich zuerst im Lazarett aufgenommen worden war. Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, ich sei als gläubiger Christ in den Krieg gezogen, war vielmehr, wie meine ganze Generation, vom Zweifel gründlich angesteckt. Aber schon beim ersten Feldgvttesdienst hatte ich erfahren, daß, wenn vieles im Kriege zum Fluch -wird, vieles auch die Hände zum Gebet zusammen¬ zwingt. Wieviele Gebetsstimmnngen in stillen Nächten, an friedlichen Abenden, die laute Kämpfe beschließen! Hätte doch das gewöhnliche Friedensleben soviel davon. Man muß es erfahren, wie eine andächtige Stimmung unser ganzes Dasein und unsre Mitwelt in eine reinere Sphäre weit über Blut und Neues hinaushebt, und wie in großer einfacher Stille einer Sternenuncht Kleines und Störendes verschwindet. Heute senkte sich diese Stimmung über mich wie das Abendrot dieser Tage voll verzehrender innerer Hitze, freundlich klangen deren wilde Phantasien in die goldne Stimmung dieses Abends ans. Den nächsten Morgen, nach dem ersten tiefen erquickenden Schlaf, Abnahme und Erneuerung des Verbandes, wobei der Generalarzt, der zugegen war, mir die Frage vorlegte, ob ich das schöne Loch in der Ohrmuschel behalten wollte, um künftig eine Zigarre darin zu tragen, oder ob das Ohr an den Kopf angeheilt werden sollte? Ohr für Nichtraucher wäre mir lieber. Gut; aber den Kopfschuß, der den l^roosssus maswiclous glatt mitgenommen hat, wollen wir sehr sorgfältig behandeln, denn da ist nnr noch ein knrtendickes Knochenblntt zwischen der Luft und dem Gehirn. Ein Millimeter tiefer, und Sie lägen jetzt wo anders. Wieviel Schmerz, Sehnsucht, Enttäuschung bis zur Verzweiflung, aber auch Hoffnung bis zur kühnsten Illusion lebt und strebt zusammen, wühlt und bohrt in einem solchen Laznrettsaal! Aber so wie, rein körperlich und äußerlich genommen, wenig von dem allen sich lant Luft macht, sodaß eine gewisse gedrückte Stille, in der jedes laute Wort ans Furcht, hier doppelt laut zu klinge», zum Flüstern wird, für gewöhnlich über dem Krankensaale liegt: so ist anch in den Seelen dieser vielen Kranken mehr Ergebung, als der vermuten möchte, der ihre Leiden kennt oder ihre Wunden sieht. Es ist ein Bild des Lebens und eine Lehre fürs Leben, wie jeder Einzelne das Beste ans seiner Lage, anch ans dieser Lage, zu zieh» sucht. Man begreift nun erst, daß der Mensch leben will, was es anch koste, und in welche Zukunft hinein anch immer sein Leben gerichtet sei. Das Leben des Menschen ist eine von den Pflanzen der 1'Iora. snbtsiiAllvk, die auch in dunkeln Kellern und Berg- Werksschächten so gut wie im goldnen Sonnenlicht gedeiht; aber aus dein Licht wie "»s der Dunkelheit treibt und' rankt es nach oben,' nirgends wächst es zur Wurzel zurück; und wenn seine Blüten so klein und unscheinbar sind, daß man sie kaum hohe, und seine Früchte nie zur Reife kommen zu wollen scheinen: es knospen die Blüten und reifen die Früchte, und die Hoffnung sorgt, daß es nie aufhöre. Hier haben sie sich mit ihrem Schicksal auseinandergesetzt, manche sogar mit dem Leben abgeschlossen. Die Zeit heilt! Welcher Gegensatz zu dem Stöhnen, Seufzer und den Jammerrufen derer, die der Tod auf dem Schlachtfeld überrascht oder burt gestreift hat. Auch das Schrecklichste der Schlachtfelder und der Feldlazarette, Grenzboton 11 1903 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/165>, abgerufen am 22.07.2024.