rischer, ethnologischer, anthropologischer und volkswirtschaftlicher Beziehung hoch¬ interessante Erscheinung. Nicht am wenigsten interessant ist die Art und Weise, wie gebildete Juden das rätselhafte Wunder ihres eignen Daseins auffassen. Im sieb¬ zehnten Jahrhundert hat ein gelehrter und feingebildeter venetianischer Rabbi dem Talmud schon so ziemlich alles nachgesagt, was ihm heute die Antisemiten nach¬ sagen, nur die Aufforderung zum Ritualmord nicht; der Glaube an diesen beruht wirklich auf ganz grundloser Verleumdung. Dr. Simon Stern, Rabbiner in Saaz, gibt die alte Anklageschrift in deutscher Übersetzung heraus und widerlegt sie; nicht Punkt für Punkt, sondern durch eine positive Darstellung der Talmudlehre, die den Talmud als die Frucht edelster Humanität und reinster, höchster Sittlichkeit hin¬ stellt. (Der Kampf des Rabbiners gegen den Talmud im siebzehnten Jahrhundert. Vorhergeht: Religion des Individuums und Religion des Volkes. Breslnn, S. Schottlaender, 1902.) Die Abhandlung Sterns enthält gute religionsphilosophische Betrachtungen. Der Glaube wird aus dem tiefsten Bedürfnis des Menschenherzens abgeleitet. Er stille die Sehnsucht der Meuscheu, aus der platte" Alltäglichkeit hinauszukommen in eine bessere Welt; denn in unsrer schlechten Welt ergehe es dem Guten selten gut, dem Ruchlosen selten schlecht, weil dieser der Rücksichtslosere und darum der Stärkere sei. Ohne den Glauben an Über¬ vernünftiges gebe es keine Religion. Den Völkern sei ihre Religion eine Waffe und Rüstung zur Selbstbehauptung im Kampfe ums Dasein. Der Judenhaß unter¬ scheide sich nicht seinem Wesen nach von jedem andern Nativualitäts- und Religions¬ haß, sondern nur dadurch, daß er allgemein sei, weil die Juden mit allen Völkern unmittelbar in Berührung kommen, während von den andern Völkern immer nur je eins oder zwei als Grenznachbarn Gegenstand des Hasses werden. Was die Kasuistik des Talmud betreffe, so sei sie in der mosaischen Religion begründet, weil diese eine Gesetzesreligivn sei, jedes Gesetz aber zu kasuistischer Auslegung einlade. In: Judentum sei diese Tendenz durch den Gegensatz zum Christentum verstärkt worden, das als Erlösung vom Gesetze auftrat. Gerade weil das Christentum die jüdische Religion und das jüdische Volkstum durch die Aufhebung des Gesetzes zer¬ stören wollte, wurde im Judentum auf deu Ausbau des Gesetzes das Hauptgewicht gelegt, und so fällt denn in die ersten christlichen Jahrhunderte die Blütezeit des Talmudismns. (Darin tritt eine sehr wichtige Wahrheit von allgemeiner Bedeutung hervor. Will mau einem Menschen, einer Gemeinschaft, einem Volke ein Besitztum entreißen, so wird dieses auf einmal sein Teuerstes. Bei Erlaß des Jesuitengesetzes schrieen Weiber, die in ihrem Leben keinen Jesuiten gesehen und noch nie ein Buch von einem gelesen hatten, man raube ihnen ihr Teuerstes; und Leute polnischer oder tschechischer Abstammung, die ein sehr gutes Deutsch spreche" und schreiben, ihre sogenannte Muttersprache aber kaum radebrechen können, fühlen sich im Lebens¬ mark getroffen, wenn man ihnen verbietet, ihre slawische Sprache überall zu ge¬ brauchen, wo es ihnen beliebt.) Stern wirft zwei interessante Fragen aus. "Das Christentum ist mehr als autitraditionell; es bedeutet die Aufhebung des Gesetzes und ist nicht nur der talmudischen Tradition, sondern dem ganzen Judentum, der Religion des Gesetzes entgegengesetzt. Dadurch trägt es zur Verwirklichung des prophetischen Ideals bei, daß der Gott Israels von allen Völkern anerkannt werde. Zugleich wurden aber die Religion Israels und sein Gottesbegriff vom Christentum allen äußern Einflüssen preisgegeben, indem es die das Judentum schützende Scheide¬ wand zu einer Zeit eingerissen hat, als die reine Gottesidee und das jüdische Sittengesetz uoch gar sehr des Schutzes bedurften. Welchen Verlauf aber die Ge¬ schichte des Judentums genommen hätte, wenn schon zur Zeit der Entstehung des Christentums das jüdische Volt an eine maßvolle und zweckentsprechende Umformung des Zeremonialgesetzes gegangen wäre, anstatt aus Opposition gegen das Christen¬ tum sei" Zercmoninlgesetz noch weiter auszubauen, das läßt sich nicht ausdenken. Vielleicht wäre dadurch das Judentum gänzlich aufgelöst worden, vielleicht aber hätte es viele Völker zu seinem reinen Monotheismus und seinem erhabnen und doch praktischen Sittengesetz und zu seinem Optimismus bekehrt und das Propheten- ideal des friedlichen messianischen Reichs verwirklicht, das allen .Kämpfen ums Dnsein
Maßgebliches und UmnasMblichcs
rischer, ethnologischer, anthropologischer und volkswirtschaftlicher Beziehung hoch¬ interessante Erscheinung. Nicht am wenigsten interessant ist die Art und Weise, wie gebildete Juden das rätselhafte Wunder ihres eignen Daseins auffassen. Im sieb¬ zehnten Jahrhundert hat ein gelehrter und feingebildeter venetianischer Rabbi dem Talmud schon so ziemlich alles nachgesagt, was ihm heute die Antisemiten nach¬ sagen, nur die Aufforderung zum Ritualmord nicht; der Glaube an diesen beruht wirklich auf ganz grundloser Verleumdung. Dr. Simon Stern, Rabbiner in Saaz, gibt die alte Anklageschrift in deutscher Übersetzung heraus und widerlegt sie; nicht Punkt für Punkt, sondern durch eine positive Darstellung der Talmudlehre, die den Talmud als die Frucht edelster Humanität und reinster, höchster Sittlichkeit hin¬ stellt. (Der Kampf des Rabbiners gegen den Talmud im siebzehnten Jahrhundert. Vorhergeht: Religion des Individuums und Religion des Volkes. Breslnn, S. Schottlaender, 1902.) Die Abhandlung Sterns enthält gute religionsphilosophische Betrachtungen. Der Glaube wird aus dem tiefsten Bedürfnis des Menschenherzens abgeleitet. Er stille die Sehnsucht der Meuscheu, aus der platte» Alltäglichkeit hinauszukommen in eine bessere Welt; denn in unsrer schlechten Welt ergehe es dem Guten selten gut, dem Ruchlosen selten schlecht, weil dieser der Rücksichtslosere und darum der Stärkere sei. Ohne den Glauben an Über¬ vernünftiges gebe es keine Religion. Den Völkern sei ihre Religion eine Waffe und Rüstung zur Selbstbehauptung im Kampfe ums Dasein. Der Judenhaß unter¬ scheide sich nicht seinem Wesen nach von jedem andern Nativualitäts- und Religions¬ haß, sondern nur dadurch, daß er allgemein sei, weil die Juden mit allen Völkern unmittelbar in Berührung kommen, während von den andern Völkern immer nur je eins oder zwei als Grenznachbarn Gegenstand des Hasses werden. Was die Kasuistik des Talmud betreffe, so sei sie in der mosaischen Religion begründet, weil diese eine Gesetzesreligivn sei, jedes Gesetz aber zu kasuistischer Auslegung einlade. In: Judentum sei diese Tendenz durch den Gegensatz zum Christentum verstärkt worden, das als Erlösung vom Gesetze auftrat. Gerade weil das Christentum die jüdische Religion und das jüdische Volkstum durch die Aufhebung des Gesetzes zer¬ stören wollte, wurde im Judentum auf deu Ausbau des Gesetzes das Hauptgewicht gelegt, und so fällt denn in die ersten christlichen Jahrhunderte die Blütezeit des Talmudismns. (Darin tritt eine sehr wichtige Wahrheit von allgemeiner Bedeutung hervor. Will mau einem Menschen, einer Gemeinschaft, einem Volke ein Besitztum entreißen, so wird dieses auf einmal sein Teuerstes. Bei Erlaß des Jesuitengesetzes schrieen Weiber, die in ihrem Leben keinen Jesuiten gesehen und noch nie ein Buch von einem gelesen hatten, man raube ihnen ihr Teuerstes; und Leute polnischer oder tschechischer Abstammung, die ein sehr gutes Deutsch spreche» und schreiben, ihre sogenannte Muttersprache aber kaum radebrechen können, fühlen sich im Lebens¬ mark getroffen, wenn man ihnen verbietet, ihre slawische Sprache überall zu ge¬ brauchen, wo es ihnen beliebt.) Stern wirft zwei interessante Fragen aus. „Das Christentum ist mehr als autitraditionell; es bedeutet die Aufhebung des Gesetzes und ist nicht nur der talmudischen Tradition, sondern dem ganzen Judentum, der Religion des Gesetzes entgegengesetzt. Dadurch trägt es zur Verwirklichung des prophetischen Ideals bei, daß der Gott Israels von allen Völkern anerkannt werde. Zugleich wurden aber die Religion Israels und sein Gottesbegriff vom Christentum allen äußern Einflüssen preisgegeben, indem es die das Judentum schützende Scheide¬ wand zu einer Zeit eingerissen hat, als die reine Gottesidee und das jüdische Sittengesetz uoch gar sehr des Schutzes bedurften. Welchen Verlauf aber die Ge¬ schichte des Judentums genommen hätte, wenn schon zur Zeit der Entstehung des Christentums das jüdische Volt an eine maßvolle und zweckentsprechende Umformung des Zeremonialgesetzes gegangen wäre, anstatt aus Opposition gegen das Christen¬ tum sei» Zercmoninlgesetz noch weiter auszubauen, das läßt sich nicht ausdenken. Vielleicht wäre dadurch das Judentum gänzlich aufgelöst worden, vielleicht aber hätte es viele Völker zu seinem reinen Monotheismus und seinem erhabnen und doch praktischen Sittengesetz und zu seinem Optimismus bekehrt und das Propheten- ideal des friedlichen messianischen Reichs verwirklicht, das allen .Kämpfen ums Dnsein
<TEI><text><body><div><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0118"corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/240500"/><fwtype="header"place="top"> Maßgebliches und UmnasMblichcs</fw><lb/><pxml:id="ID_659"prev="#ID_658"next="#ID_660"> rischer, ethnologischer, anthropologischer und volkswirtschaftlicher Beziehung hoch¬<lb/>
interessante Erscheinung. Nicht am wenigsten interessant ist die Art und Weise, wie<lb/>
gebildete Juden das rätselhafte Wunder ihres eignen Daseins auffassen. Im sieb¬<lb/>
zehnten Jahrhundert hat ein gelehrter und feingebildeter venetianischer Rabbi dem<lb/>
Talmud schon so ziemlich alles nachgesagt, was ihm heute die Antisemiten nach¬<lb/>
sagen, nur die Aufforderung zum Ritualmord nicht; der Glaube an diesen beruht<lb/>
wirklich auf ganz grundloser Verleumdung. Dr. Simon Stern, Rabbiner in Saaz,<lb/>
gibt die alte Anklageschrift in deutscher Übersetzung heraus und widerlegt sie; nicht<lb/>
Punkt für Punkt, sondern durch eine positive Darstellung der Talmudlehre, die den<lb/>
Talmud als die Frucht edelster Humanität und reinster, höchster Sittlichkeit hin¬<lb/>
stellt. (Der Kampf des Rabbiners gegen den Talmud im siebzehnten<lb/>
Jahrhundert. Vorhergeht: Religion des Individuums und Religion des<lb/>
Volkes. Breslnn, S. Schottlaender, 1902.) Die Abhandlung Sterns enthält gute<lb/>
religionsphilosophische Betrachtungen. Der Glaube wird aus dem tiefsten Bedürfnis<lb/>
des Menschenherzens abgeleitet. Er stille die Sehnsucht der Meuscheu, aus der<lb/>
platte» Alltäglichkeit hinauszukommen in eine bessere Welt; denn in unsrer schlechten<lb/>
Welt ergehe es dem Guten selten gut, dem Ruchlosen selten schlecht, weil dieser<lb/>
der Rücksichtslosere und darum der Stärkere sei. Ohne den Glauben an Über¬<lb/>
vernünftiges gebe es keine Religion. Den Völkern sei ihre Religion eine Waffe<lb/>
und Rüstung zur Selbstbehauptung im Kampfe ums Dasein. Der Judenhaß unter¬<lb/>
scheide sich nicht seinem Wesen nach von jedem andern Nativualitäts- und Religions¬<lb/>
haß, sondern nur dadurch, daß er allgemein sei, weil die Juden mit allen Völkern<lb/>
unmittelbar in Berührung kommen, während von den andern Völkern immer nur<lb/>
je eins oder zwei als Grenznachbarn Gegenstand des Hasses werden. Was die<lb/>
Kasuistik des Talmud betreffe, so sei sie in der mosaischen Religion begründet, weil<lb/>
diese eine Gesetzesreligivn sei, jedes Gesetz aber zu kasuistischer Auslegung einlade.<lb/>
In: Judentum sei diese Tendenz durch den Gegensatz zum Christentum verstärkt<lb/>
worden, das als Erlösung vom Gesetze auftrat. Gerade weil das Christentum die<lb/>
jüdische Religion und das jüdische Volkstum durch die Aufhebung des Gesetzes zer¬<lb/>
stören wollte, wurde im Judentum auf deu Ausbau des Gesetzes das Hauptgewicht<lb/>
gelegt, und so fällt denn in die ersten christlichen Jahrhunderte die Blütezeit des<lb/>
Talmudismns. (Darin tritt eine sehr wichtige Wahrheit von allgemeiner Bedeutung<lb/>
hervor. Will mau einem Menschen, einer Gemeinschaft, einem Volke ein Besitztum<lb/>
entreißen, so wird dieses auf einmal sein Teuerstes. Bei Erlaß des Jesuitengesetzes<lb/>
schrieen Weiber, die in ihrem Leben keinen Jesuiten gesehen und noch nie ein Buch<lb/>
von einem gelesen hatten, man raube ihnen ihr Teuerstes; und Leute polnischer<lb/>
oder tschechischer Abstammung, die ein sehr gutes Deutsch spreche» und schreiben,<lb/>
ihre sogenannte Muttersprache aber kaum radebrechen können, fühlen sich im Lebens¬<lb/>
mark getroffen, wenn man ihnen verbietet, ihre slawische Sprache überall zu ge¬<lb/>
brauchen, wo es ihnen beliebt.) Stern wirft zwei interessante Fragen aus. „Das<lb/>
Christentum ist mehr als autitraditionell; es bedeutet die Aufhebung des Gesetzes<lb/>
und ist nicht nur der talmudischen Tradition, sondern dem ganzen Judentum, der<lb/>
Religion des Gesetzes entgegengesetzt. Dadurch trägt es zur Verwirklichung des<lb/>
prophetischen Ideals bei, daß der Gott Israels von allen Völkern anerkannt werde.<lb/>
Zugleich wurden aber die Religion Israels und sein Gottesbegriff vom Christentum<lb/>
allen äußern Einflüssen preisgegeben, indem es die das Judentum schützende Scheide¬<lb/>
wand zu einer Zeit eingerissen hat, als die reine Gottesidee und das jüdische<lb/>
Sittengesetz uoch gar sehr des Schutzes bedurften. Welchen Verlauf aber die Ge¬<lb/>
schichte des Judentums genommen hätte, wenn schon zur Zeit der Entstehung des<lb/>
Christentums das jüdische Volt an eine maßvolle und zweckentsprechende Umformung<lb/>
des Zeremonialgesetzes gegangen wäre, anstatt aus Opposition gegen das Christen¬<lb/>
tum sei» Zercmoninlgesetz noch weiter auszubauen, das läßt sich nicht ausdenken.<lb/>
Vielleicht wäre dadurch das Judentum gänzlich aufgelöst worden, vielleicht aber<lb/>
hätte es viele Völker zu seinem reinen Monotheismus und seinem erhabnen und<lb/>
doch praktischen Sittengesetz und zu seinem Optimismus bekehrt und das Propheten-<lb/>
ideal des friedlichen messianischen Reichs verwirklicht, das allen .Kämpfen ums Dnsein</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[0118]
Maßgebliches und UmnasMblichcs
rischer, ethnologischer, anthropologischer und volkswirtschaftlicher Beziehung hoch¬
interessante Erscheinung. Nicht am wenigsten interessant ist die Art und Weise, wie
gebildete Juden das rätselhafte Wunder ihres eignen Daseins auffassen. Im sieb¬
zehnten Jahrhundert hat ein gelehrter und feingebildeter venetianischer Rabbi dem
Talmud schon so ziemlich alles nachgesagt, was ihm heute die Antisemiten nach¬
sagen, nur die Aufforderung zum Ritualmord nicht; der Glaube an diesen beruht
wirklich auf ganz grundloser Verleumdung. Dr. Simon Stern, Rabbiner in Saaz,
gibt die alte Anklageschrift in deutscher Übersetzung heraus und widerlegt sie; nicht
Punkt für Punkt, sondern durch eine positive Darstellung der Talmudlehre, die den
Talmud als die Frucht edelster Humanität und reinster, höchster Sittlichkeit hin¬
stellt. (Der Kampf des Rabbiners gegen den Talmud im siebzehnten
Jahrhundert. Vorhergeht: Religion des Individuums und Religion des
Volkes. Breslnn, S. Schottlaender, 1902.) Die Abhandlung Sterns enthält gute
religionsphilosophische Betrachtungen. Der Glaube wird aus dem tiefsten Bedürfnis
des Menschenherzens abgeleitet. Er stille die Sehnsucht der Meuscheu, aus der
platte» Alltäglichkeit hinauszukommen in eine bessere Welt; denn in unsrer schlechten
Welt ergehe es dem Guten selten gut, dem Ruchlosen selten schlecht, weil dieser
der Rücksichtslosere und darum der Stärkere sei. Ohne den Glauben an Über¬
vernünftiges gebe es keine Religion. Den Völkern sei ihre Religion eine Waffe
und Rüstung zur Selbstbehauptung im Kampfe ums Dasein. Der Judenhaß unter¬
scheide sich nicht seinem Wesen nach von jedem andern Nativualitäts- und Religions¬
haß, sondern nur dadurch, daß er allgemein sei, weil die Juden mit allen Völkern
unmittelbar in Berührung kommen, während von den andern Völkern immer nur
je eins oder zwei als Grenznachbarn Gegenstand des Hasses werden. Was die
Kasuistik des Talmud betreffe, so sei sie in der mosaischen Religion begründet, weil
diese eine Gesetzesreligivn sei, jedes Gesetz aber zu kasuistischer Auslegung einlade.
In: Judentum sei diese Tendenz durch den Gegensatz zum Christentum verstärkt
worden, das als Erlösung vom Gesetze auftrat. Gerade weil das Christentum die
jüdische Religion und das jüdische Volkstum durch die Aufhebung des Gesetzes zer¬
stören wollte, wurde im Judentum auf deu Ausbau des Gesetzes das Hauptgewicht
gelegt, und so fällt denn in die ersten christlichen Jahrhunderte die Blütezeit des
Talmudismns. (Darin tritt eine sehr wichtige Wahrheit von allgemeiner Bedeutung
hervor. Will mau einem Menschen, einer Gemeinschaft, einem Volke ein Besitztum
entreißen, so wird dieses auf einmal sein Teuerstes. Bei Erlaß des Jesuitengesetzes
schrieen Weiber, die in ihrem Leben keinen Jesuiten gesehen und noch nie ein Buch
von einem gelesen hatten, man raube ihnen ihr Teuerstes; und Leute polnischer
oder tschechischer Abstammung, die ein sehr gutes Deutsch spreche» und schreiben,
ihre sogenannte Muttersprache aber kaum radebrechen können, fühlen sich im Lebens¬
mark getroffen, wenn man ihnen verbietet, ihre slawische Sprache überall zu ge¬
brauchen, wo es ihnen beliebt.) Stern wirft zwei interessante Fragen aus. „Das
Christentum ist mehr als autitraditionell; es bedeutet die Aufhebung des Gesetzes
und ist nicht nur der talmudischen Tradition, sondern dem ganzen Judentum, der
Religion des Gesetzes entgegengesetzt. Dadurch trägt es zur Verwirklichung des
prophetischen Ideals bei, daß der Gott Israels von allen Völkern anerkannt werde.
Zugleich wurden aber die Religion Israels und sein Gottesbegriff vom Christentum
allen äußern Einflüssen preisgegeben, indem es die das Judentum schützende Scheide¬
wand zu einer Zeit eingerissen hat, als die reine Gottesidee und das jüdische
Sittengesetz uoch gar sehr des Schutzes bedurften. Welchen Verlauf aber die Ge¬
schichte des Judentums genommen hätte, wenn schon zur Zeit der Entstehung des
Christentums das jüdische Volt an eine maßvolle und zweckentsprechende Umformung
des Zeremonialgesetzes gegangen wäre, anstatt aus Opposition gegen das Christen¬
tum sei» Zercmoninlgesetz noch weiter auszubauen, das läßt sich nicht ausdenken.
Vielleicht wäre dadurch das Judentum gänzlich aufgelöst worden, vielleicht aber
hätte es viele Völker zu seinem reinen Monotheismus und seinem erhabnen und
doch praktischen Sittengesetz und zu seinem Optimismus bekehrt und das Propheten-
ideal des friedlichen messianischen Reichs verwirklicht, das allen .Kämpfen ums Dnsein
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;
Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/118>, abgerufen am 05.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.