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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Eduard Mörike als Künstler

hinderlich war, kam dem Epiker zu statten: die milde Menschlichkeit, die dem
tragischen Konflikt abgeneigt ist, die unablässige Lust am Fabulieren, die sich auf
dem epischen Boden in allen Gestalten tummeln kann, die feinste Ziselierarbeit
in der psychologischen Charakteristik, die in der Welt des Epischen so will¬
kommen ist, das sich Einspinnen in einen Stoff, um ihn künstlerisch bis ins
feinste zu durchdringen und aufs wärmste zu beleben. In der Epik, die frei
ist von der Gebundenheit der dramatischen Handlung, konnte der Humor seine
kecksten Sprünge wagen: sein Schelmengesicht lugt aus der Ackerfurche wie
aus dem Sternenhimmel, er schwebt mit Elfentritt und donnert im Urwald¬
stiefel. Der Künstler Mörike aber wußte dabei mit gefälliger Anmut allem
sein Maß und seine Harmonie aufzulegen, er wußte alles in feste Umrisse zu
bannen und in starke Rahmen zu spannen.

Vergegenwärtigt man sich nun Mörikes reiche Persönlichkeit und die Tiefe
seines Seelenlebens, seine leidenschaftliche Erregbarkeit und seine überaus feine
und zarte Empfindung, sein sicheres musikalisches Gefühl und seine Treffsicher¬
heit in der Sprache sowie die überreiche Mannigfaltigkeit seiner Ausdrucks-
mittel, so leuchtet ohne weiteres ein, daß sein eigenstes künstlerisches Gebiet
die Lyrik ist. Als Lyriker erhält er deshalb in voller Eigentümlichkeit neben
Goethe seinen Platz.

Der Künstler muß mit dem Stück Natur, das er beobachtend in sich auf¬
genommen hat, gewisse Veränderungen vornehmen, wenn er entsprechende
Wirkungen hervorbringen will; solche Veränderungen bezeichnet man als Stil.
Diese Veränderungen beruhen im wesentlichen darauf, daß der Künstler bewußt
oder unbewußt mit dem von ihm Beobachteten oder dem seiner Erinnerung
Einverleibten eine Art von Reinigungsprozeß vornimmt,*) der darauf hinaus¬
läuft, das Wesentliche, das künstlerisch Wirksame festzuhalten und auszugestalten,
das Nebensächliche aber zu beseitigen, da es jenes verhüllen und abschwächen,
also den Eindruck trüben und verwirren würde. Wer die Natur ohne Aus¬
wahl, ohne Reinigung, ohne Verkürzung und Verdichtung wiedergibt, ver¬
fährt stillos. Wenn in den bildenden Künsten das Material, in der Musik
die Besonderheit der Instrumente den Stil beeinflußt, so tut dies in der
Dichtkunst das im wesentlichen unsinnliche Darstellungsmittel, die Sprache.
Und wie kirchliche, heroische, genrehafte Stoffe verschiedne Stilarten fordern,
so spricht man auch von einem dramatischen, epischen und lyrischen Stil. Da
aber der künstlerische Schöpfungsakt von der Persönlichkeit des Künstlers aus¬
geht, so muß man als das Wesen des Stils die persönliche Ausdrucksform
des schaffenden Künstlers ansehen. Je charakteristischer und individueller einer¬
seits der Stil ist, und je mehr anderseits eine lebendige und eindrucksvolle
Vorstellung des vom Künstler ausgewählten und gereinigten Stücks hervor¬
gebracht wird, um so reiner und stärker wird die künstlerische Wirkung sein.

Nach all dem darf gesagt werden, daß bei Mörike von einem dramatischen
Stil nicht gesprochen werden kann; groß ist er dagegen im epischen, am größten
w lyrischen Stil.



*) Vergl. L. Volkmann, Naturprodukt und Kunstwerk. 1902.
Grenzboten I 1903 92
Eduard Mörike als Künstler

hinderlich war, kam dem Epiker zu statten: die milde Menschlichkeit, die dem
tragischen Konflikt abgeneigt ist, die unablässige Lust am Fabulieren, die sich auf
dem epischen Boden in allen Gestalten tummeln kann, die feinste Ziselierarbeit
in der psychologischen Charakteristik, die in der Welt des Epischen so will¬
kommen ist, das sich Einspinnen in einen Stoff, um ihn künstlerisch bis ins
feinste zu durchdringen und aufs wärmste zu beleben. In der Epik, die frei
ist von der Gebundenheit der dramatischen Handlung, konnte der Humor seine
kecksten Sprünge wagen: sein Schelmengesicht lugt aus der Ackerfurche wie
aus dem Sternenhimmel, er schwebt mit Elfentritt und donnert im Urwald¬
stiefel. Der Künstler Mörike aber wußte dabei mit gefälliger Anmut allem
sein Maß und seine Harmonie aufzulegen, er wußte alles in feste Umrisse zu
bannen und in starke Rahmen zu spannen.

Vergegenwärtigt man sich nun Mörikes reiche Persönlichkeit und die Tiefe
seines Seelenlebens, seine leidenschaftliche Erregbarkeit und seine überaus feine
und zarte Empfindung, sein sicheres musikalisches Gefühl und seine Treffsicher¬
heit in der Sprache sowie die überreiche Mannigfaltigkeit seiner Ausdrucks-
mittel, so leuchtet ohne weiteres ein, daß sein eigenstes künstlerisches Gebiet
die Lyrik ist. Als Lyriker erhält er deshalb in voller Eigentümlichkeit neben
Goethe seinen Platz.

Der Künstler muß mit dem Stück Natur, das er beobachtend in sich auf¬
genommen hat, gewisse Veränderungen vornehmen, wenn er entsprechende
Wirkungen hervorbringen will; solche Veränderungen bezeichnet man als Stil.
Diese Veränderungen beruhen im wesentlichen darauf, daß der Künstler bewußt
oder unbewußt mit dem von ihm Beobachteten oder dem seiner Erinnerung
Einverleibten eine Art von Reinigungsprozeß vornimmt,*) der darauf hinaus¬
läuft, das Wesentliche, das künstlerisch Wirksame festzuhalten und auszugestalten,
das Nebensächliche aber zu beseitigen, da es jenes verhüllen und abschwächen,
also den Eindruck trüben und verwirren würde. Wer die Natur ohne Aus¬
wahl, ohne Reinigung, ohne Verkürzung und Verdichtung wiedergibt, ver¬
fährt stillos. Wenn in den bildenden Künsten das Material, in der Musik
die Besonderheit der Instrumente den Stil beeinflußt, so tut dies in der
Dichtkunst das im wesentlichen unsinnliche Darstellungsmittel, die Sprache.
Und wie kirchliche, heroische, genrehafte Stoffe verschiedne Stilarten fordern,
so spricht man auch von einem dramatischen, epischen und lyrischen Stil. Da
aber der künstlerische Schöpfungsakt von der Persönlichkeit des Künstlers aus¬
geht, so muß man als das Wesen des Stils die persönliche Ausdrucksform
des schaffenden Künstlers ansehen. Je charakteristischer und individueller einer¬
seits der Stil ist, und je mehr anderseits eine lebendige und eindrucksvolle
Vorstellung des vom Künstler ausgewählten und gereinigten Stücks hervor¬
gebracht wird, um so reiner und stärker wird die künstlerische Wirkung sein.

Nach all dem darf gesagt werden, daß bei Mörike von einem dramatischen
Stil nicht gesprochen werden kann; groß ist er dagegen im epischen, am größten
w lyrischen Stil.



*) Vergl. L. Volkmann, Naturprodukt und Kunstwerk. 1902.
Grenzboten I 1903 92
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[0729] Eduard Mörike als Künstler hinderlich war, kam dem Epiker zu statten: die milde Menschlichkeit, die dem tragischen Konflikt abgeneigt ist, die unablässige Lust am Fabulieren, die sich auf dem epischen Boden in allen Gestalten tummeln kann, die feinste Ziselierarbeit in der psychologischen Charakteristik, die in der Welt des Epischen so will¬ kommen ist, das sich Einspinnen in einen Stoff, um ihn künstlerisch bis ins feinste zu durchdringen und aufs wärmste zu beleben. In der Epik, die frei ist von der Gebundenheit der dramatischen Handlung, konnte der Humor seine kecksten Sprünge wagen: sein Schelmengesicht lugt aus der Ackerfurche wie aus dem Sternenhimmel, er schwebt mit Elfentritt und donnert im Urwald¬ stiefel. Der Künstler Mörike aber wußte dabei mit gefälliger Anmut allem sein Maß und seine Harmonie aufzulegen, er wußte alles in feste Umrisse zu bannen und in starke Rahmen zu spannen. Vergegenwärtigt man sich nun Mörikes reiche Persönlichkeit und die Tiefe seines Seelenlebens, seine leidenschaftliche Erregbarkeit und seine überaus feine und zarte Empfindung, sein sicheres musikalisches Gefühl und seine Treffsicher¬ heit in der Sprache sowie die überreiche Mannigfaltigkeit seiner Ausdrucks- mittel, so leuchtet ohne weiteres ein, daß sein eigenstes künstlerisches Gebiet die Lyrik ist. Als Lyriker erhält er deshalb in voller Eigentümlichkeit neben Goethe seinen Platz. Der Künstler muß mit dem Stück Natur, das er beobachtend in sich auf¬ genommen hat, gewisse Veränderungen vornehmen, wenn er entsprechende Wirkungen hervorbringen will; solche Veränderungen bezeichnet man als Stil. Diese Veränderungen beruhen im wesentlichen darauf, daß der Künstler bewußt oder unbewußt mit dem von ihm Beobachteten oder dem seiner Erinnerung Einverleibten eine Art von Reinigungsprozeß vornimmt,*) der darauf hinaus¬ läuft, das Wesentliche, das künstlerisch Wirksame festzuhalten und auszugestalten, das Nebensächliche aber zu beseitigen, da es jenes verhüllen und abschwächen, also den Eindruck trüben und verwirren würde. Wer die Natur ohne Aus¬ wahl, ohne Reinigung, ohne Verkürzung und Verdichtung wiedergibt, ver¬ fährt stillos. Wenn in den bildenden Künsten das Material, in der Musik die Besonderheit der Instrumente den Stil beeinflußt, so tut dies in der Dichtkunst das im wesentlichen unsinnliche Darstellungsmittel, die Sprache. Und wie kirchliche, heroische, genrehafte Stoffe verschiedne Stilarten fordern, so spricht man auch von einem dramatischen, epischen und lyrischen Stil. Da aber der künstlerische Schöpfungsakt von der Persönlichkeit des Künstlers aus¬ geht, so muß man als das Wesen des Stils die persönliche Ausdrucksform des schaffenden Künstlers ansehen. Je charakteristischer und individueller einer¬ seits der Stil ist, und je mehr anderseits eine lebendige und eindrucksvolle Vorstellung des vom Künstler ausgewählten und gereinigten Stücks hervor¬ gebracht wird, um so reiner und stärker wird die künstlerische Wirkung sein. Nach all dem darf gesagt werden, daß bei Mörike von einem dramatischen Stil nicht gesprochen werden kann; groß ist er dagegen im epischen, am größten w lyrischen Stil. *) Vergl. L. Volkmann, Naturprodukt und Kunstwerk. 1902. Grenzboten I 1903 92

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/729>, abgerufen am 27.11.2024.