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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

lord. Der Knabe hatte keinen einzigen Stich erhalten. Vielleicht ist der Haust
auch ein zukünftiger Ambrosius und Pindar? -- Daß solche Geschichten nachträglich
gemacht und erfunden worden sind, verrät einmal der Umstand, daß die Bienen
gerade den Mund des schlafenden Knaben ausgewählt habe" sollen, was höchst un¬
wahrscheinlich ist. Sodann ist eben das verdächtig, daß es solche Wunderkinder
gewesen sind, denen die Auszeichnung widerfuhr. Die Bienchen fragen viel nach
einem Plate,, und der Haust liegt ihnen genan so wie der Ambrvs, der Leitungs-
draht einer elektrischen Straßenbahn ist ihnen so willkommen wie die Lippe Pindars.

Auch andern Tieren gewähren unsre oberirdischen Leitungen Nutzen und Ver¬
gnügen. In Ostindien sieht man die Affen an den Telegraphendrcihten turnen
und allerhand äquilibristische Kunststücke ausführen; abschießen darf man sie nicht,
da die Affen den Hindus heilig sind. Ein findiger englischer Telegraphenbeamter
kam deshalb ans den Gedanken, zur Vertreibung der ebenso mißtranischen wie über¬
mütigen Gesellen die Telegraphenstangen wie Vogelscheuchen mit abgetragnen
Kleidungsstücken zu behängen; der Erfolg war anfänglich überraschend. Aber bald
hatten die Affen ihr Mißtrauen gegen deu sonderbaren Schmuck der Pfähle über¬
wunden, und eines schönen Morgens setzten sie sogar die alten Hüte auf und tanzten,
angetan mit den bunten Fetzen, toller denn je auf deu schwankende" Drähten
herum, zum ungeheuern Jnbel der Eingebornen und zum großen Verdrusse des
erfinderischen Schlnukopfes. Daß sich Sperlinge, Schwalben, Bachstelzen und Meisen
auf die Drähte setzen, ist ja etwas Alltägliches; die Schwalben versammeln sich hier
nicht selten, ehe sie abziehn. Es giebt aber anch Vögel, die direkt auf die Drähte
bauen und sie zur Anlage ihrer Nester benutzen, ganz so wie die Bienen.

Die britische Kolonie Natal, an der Ostküste von Südafrika, hat ein ziemlich
ausgedehntes Telegraphennetz, dessen Linien eine Länge von 1101 Kilometern aus¬
füllen. Diese Drähte hat sich nun eine Art von Webervögeln zum Aufhängen ihrer
künstlichen, beutelförmigen Nester ausersehen. Sie hängen sonst ihre Nester zum
^hutz gegen Raubtiere gewöhnlich an schwanken Baumzweigen auf, aber sie sind
hier doch noch den Angriffen von Schlangen ausgesetzt. Deshalb haben sie sich
nenerdings zur Sicherung ihrer Brut entschlossen, die Nester an den Telegraphen¬
leitungen zu befestigen. Da die Webervögel immer in größern Gesellschaften zu¬
sammen leben, so sind die Drähte außerhalb der Städte auf lange Strecken hin mit
Nestern dicht besetzt. Wenn der alte Simson hente wiederkäme, könnte er vielleicht
ein neues Rätsel machen, das die Philister vermutlich ebensowenig raten würden:
Speise ging von dem Leiter und Süßigkeit vou dem Dünnen! -- Als ein Kuriosum
sei noch erwähnt, daß bei deu alten Römern Bienen, wenn sie sich an einen un¬
gewöhnlichen Ort setzten, Unglück bedeutete"; da werden abergläubische Leute be¬
friedigt sein, wenn sie hören, daß die Verirrung der Bienen auf den Draht der
Straßenbahn in Leipzig mit dem großen Krach der Leipziger Bank zusammentraf.


Rudolf Aleinpaul
Modern.

Als meine kleine Tochter gestern aus der Schule kam, fragte sie
muh: Vater, was ist ein moderner Mensch? -- Wie kommst du darauf? -- Ach,
"h las einen Anschlag: Was bedeutet für uus moderne Menschen die Gestalt Jesu?
Das verstehe ich nicht. Sind wir auch moderne Menschen? -- Diese Frage machte
mich beklommen. Modern -- überall umschwirrt uus modern, moderne Kleider,
moderne Barttracht, moderne Weltanschauung, moderner Jesus. Es soll deu neuen
Geist bezeichnen, den Geist "der Moderne." Ist der Ausdruck dazu geeignet? "Die
Sturm- und Drangperiode," darunter kann ich mir etwas denken. "Die romantische
Strömung," das gibt mir eine Anschauung. "Das junge Deutschland," da spüre ich
den vorwärtsstrebender Jngendmut. Aber'"die Moderne" -- wie anspruchslos und
wie amuaßlich ist diese Bezeichnung! Anspruchslos: die Moden wechseln ja so schnell;
ihnen kommts nicht ans den Gehalt an, sondern ans die Erscheinung. Die neue
Mode begnügt sich, zu überraschen, Aufsehen zu erregen, beneidet zu werden; damit
ist sie zufrieden. Und doch, wie anmaßend. Der Moderne ist geschichtslos. Auch
wenn er Altes bringt, ignoriert er die schon getane Arbeit. Er sieht auf die Un¬
moderne" herab. Moder" -- i" seiner Anwendung ans Geisteserzeugnisse und ans


Maßgebliches und Unmaßgebliches

lord. Der Knabe hatte keinen einzigen Stich erhalten. Vielleicht ist der Haust
auch ein zukünftiger Ambrosius und Pindar? — Daß solche Geschichten nachträglich
gemacht und erfunden worden sind, verrät einmal der Umstand, daß die Bienen
gerade den Mund des schlafenden Knaben ausgewählt habe» sollen, was höchst un¬
wahrscheinlich ist. Sodann ist eben das verdächtig, daß es solche Wunderkinder
gewesen sind, denen die Auszeichnung widerfuhr. Die Bienchen fragen viel nach
einem Plate,, und der Haust liegt ihnen genan so wie der Ambrvs, der Leitungs-
draht einer elektrischen Straßenbahn ist ihnen so willkommen wie die Lippe Pindars.

Auch andern Tieren gewähren unsre oberirdischen Leitungen Nutzen und Ver¬
gnügen. In Ostindien sieht man die Affen an den Telegraphendrcihten turnen
und allerhand äquilibristische Kunststücke ausführen; abschießen darf man sie nicht,
da die Affen den Hindus heilig sind. Ein findiger englischer Telegraphenbeamter
kam deshalb ans den Gedanken, zur Vertreibung der ebenso mißtranischen wie über¬
mütigen Gesellen die Telegraphenstangen wie Vogelscheuchen mit abgetragnen
Kleidungsstücken zu behängen; der Erfolg war anfänglich überraschend. Aber bald
hatten die Affen ihr Mißtrauen gegen deu sonderbaren Schmuck der Pfähle über¬
wunden, und eines schönen Morgens setzten sie sogar die alten Hüte auf und tanzten,
angetan mit den bunten Fetzen, toller denn je auf deu schwankende« Drähten
herum, zum ungeheuern Jnbel der Eingebornen und zum großen Verdrusse des
erfinderischen Schlnukopfes. Daß sich Sperlinge, Schwalben, Bachstelzen und Meisen
auf die Drähte setzen, ist ja etwas Alltägliches; die Schwalben versammeln sich hier
nicht selten, ehe sie abziehn. Es giebt aber anch Vögel, die direkt auf die Drähte
bauen und sie zur Anlage ihrer Nester benutzen, ganz so wie die Bienen.

Die britische Kolonie Natal, an der Ostküste von Südafrika, hat ein ziemlich
ausgedehntes Telegraphennetz, dessen Linien eine Länge von 1101 Kilometern aus¬
füllen. Diese Drähte hat sich nun eine Art von Webervögeln zum Aufhängen ihrer
künstlichen, beutelförmigen Nester ausersehen. Sie hängen sonst ihre Nester zum
^hutz gegen Raubtiere gewöhnlich an schwanken Baumzweigen auf, aber sie sind
hier doch noch den Angriffen von Schlangen ausgesetzt. Deshalb haben sie sich
nenerdings zur Sicherung ihrer Brut entschlossen, die Nester an den Telegraphen¬
leitungen zu befestigen. Da die Webervögel immer in größern Gesellschaften zu¬
sammen leben, so sind die Drähte außerhalb der Städte auf lange Strecken hin mit
Nestern dicht besetzt. Wenn der alte Simson hente wiederkäme, könnte er vielleicht
ein neues Rätsel machen, das die Philister vermutlich ebensowenig raten würden:
Speise ging von dem Leiter und Süßigkeit vou dem Dünnen! — Als ein Kuriosum
sei noch erwähnt, daß bei deu alten Römern Bienen, wenn sie sich an einen un¬
gewöhnlichen Ort setzten, Unglück bedeutete»; da werden abergläubische Leute be¬
friedigt sein, wenn sie hören, daß die Verirrung der Bienen auf den Draht der
Straßenbahn in Leipzig mit dem großen Krach der Leipziger Bank zusammentraf.


Rudolf Aleinpaul
Modern.

Als meine kleine Tochter gestern aus der Schule kam, fragte sie
muh: Vater, was ist ein moderner Mensch? — Wie kommst du darauf? — Ach,
"h las einen Anschlag: Was bedeutet für uus moderne Menschen die Gestalt Jesu?
Das verstehe ich nicht. Sind wir auch moderne Menschen? — Diese Frage machte
mich beklommen. Modern — überall umschwirrt uus modern, moderne Kleider,
moderne Barttracht, moderne Weltanschauung, moderner Jesus. Es soll deu neuen
Geist bezeichnen, den Geist „der Moderne." Ist der Ausdruck dazu geeignet? „Die
Sturm- und Drangperiode," darunter kann ich mir etwas denken. „Die romantische
Strömung," das gibt mir eine Anschauung. „Das junge Deutschland," da spüre ich
den vorwärtsstrebender Jngendmut. Aber'„die Moderne" — wie anspruchslos und
wie amuaßlich ist diese Bezeichnung! Anspruchslos: die Moden wechseln ja so schnell;
ihnen kommts nicht ans den Gehalt an, sondern ans die Erscheinung. Die neue
Mode begnügt sich, zu überraschen, Aufsehen zu erregen, beneidet zu werden; damit
ist sie zufrieden. Und doch, wie anmaßend. Der Moderne ist geschichtslos. Auch
wenn er Altes bringt, ignoriert er die schon getane Arbeit. Er sieht auf die Un¬
moderne» herab. Moder» — i» seiner Anwendung ans Geisteserzeugnisse und ans


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[0067] Maßgebliches und Unmaßgebliches lord. Der Knabe hatte keinen einzigen Stich erhalten. Vielleicht ist der Haust auch ein zukünftiger Ambrosius und Pindar? — Daß solche Geschichten nachträglich gemacht und erfunden worden sind, verrät einmal der Umstand, daß die Bienen gerade den Mund des schlafenden Knaben ausgewählt habe» sollen, was höchst un¬ wahrscheinlich ist. Sodann ist eben das verdächtig, daß es solche Wunderkinder gewesen sind, denen die Auszeichnung widerfuhr. Die Bienchen fragen viel nach einem Plate,, und der Haust liegt ihnen genan so wie der Ambrvs, der Leitungs- draht einer elektrischen Straßenbahn ist ihnen so willkommen wie die Lippe Pindars. Auch andern Tieren gewähren unsre oberirdischen Leitungen Nutzen und Ver¬ gnügen. In Ostindien sieht man die Affen an den Telegraphendrcihten turnen und allerhand äquilibristische Kunststücke ausführen; abschießen darf man sie nicht, da die Affen den Hindus heilig sind. Ein findiger englischer Telegraphenbeamter kam deshalb ans den Gedanken, zur Vertreibung der ebenso mißtranischen wie über¬ mütigen Gesellen die Telegraphenstangen wie Vogelscheuchen mit abgetragnen Kleidungsstücken zu behängen; der Erfolg war anfänglich überraschend. Aber bald hatten die Affen ihr Mißtrauen gegen deu sonderbaren Schmuck der Pfähle über¬ wunden, und eines schönen Morgens setzten sie sogar die alten Hüte auf und tanzten, angetan mit den bunten Fetzen, toller denn je auf deu schwankende« Drähten herum, zum ungeheuern Jnbel der Eingebornen und zum großen Verdrusse des erfinderischen Schlnukopfes. Daß sich Sperlinge, Schwalben, Bachstelzen und Meisen auf die Drähte setzen, ist ja etwas Alltägliches; die Schwalben versammeln sich hier nicht selten, ehe sie abziehn. Es giebt aber anch Vögel, die direkt auf die Drähte bauen und sie zur Anlage ihrer Nester benutzen, ganz so wie die Bienen. Die britische Kolonie Natal, an der Ostküste von Südafrika, hat ein ziemlich ausgedehntes Telegraphennetz, dessen Linien eine Länge von 1101 Kilometern aus¬ füllen. Diese Drähte hat sich nun eine Art von Webervögeln zum Aufhängen ihrer künstlichen, beutelförmigen Nester ausersehen. Sie hängen sonst ihre Nester zum ^hutz gegen Raubtiere gewöhnlich an schwanken Baumzweigen auf, aber sie sind hier doch noch den Angriffen von Schlangen ausgesetzt. Deshalb haben sie sich nenerdings zur Sicherung ihrer Brut entschlossen, die Nester an den Telegraphen¬ leitungen zu befestigen. Da die Webervögel immer in größern Gesellschaften zu¬ sammen leben, so sind die Drähte außerhalb der Städte auf lange Strecken hin mit Nestern dicht besetzt. Wenn der alte Simson hente wiederkäme, könnte er vielleicht ein neues Rätsel machen, das die Philister vermutlich ebensowenig raten würden: Speise ging von dem Leiter und Süßigkeit vou dem Dünnen! — Als ein Kuriosum sei noch erwähnt, daß bei deu alten Römern Bienen, wenn sie sich an einen un¬ gewöhnlichen Ort setzten, Unglück bedeutete»; da werden abergläubische Leute be¬ friedigt sein, wenn sie hören, daß die Verirrung der Bienen auf den Draht der Straßenbahn in Leipzig mit dem großen Krach der Leipziger Bank zusammentraf. Rudolf Aleinpaul Modern. Als meine kleine Tochter gestern aus der Schule kam, fragte sie muh: Vater, was ist ein moderner Mensch? — Wie kommst du darauf? — Ach, "h las einen Anschlag: Was bedeutet für uus moderne Menschen die Gestalt Jesu? Das verstehe ich nicht. Sind wir auch moderne Menschen? — Diese Frage machte mich beklommen. Modern — überall umschwirrt uus modern, moderne Kleider, moderne Barttracht, moderne Weltanschauung, moderner Jesus. Es soll deu neuen Geist bezeichnen, den Geist „der Moderne." Ist der Ausdruck dazu geeignet? „Die Sturm- und Drangperiode," darunter kann ich mir etwas denken. „Die romantische Strömung," das gibt mir eine Anschauung. „Das junge Deutschland," da spüre ich den vorwärtsstrebender Jngendmut. Aber'„die Moderne" — wie anspruchslos und wie amuaßlich ist diese Bezeichnung! Anspruchslos: die Moden wechseln ja so schnell; ihnen kommts nicht ans den Gehalt an, sondern ans die Erscheinung. Die neue Mode begnügt sich, zu überraschen, Aufsehen zu erregen, beneidet zu werden; damit ist sie zufrieden. Und doch, wie anmaßend. Der Moderne ist geschichtslos. Auch wenn er Altes bringt, ignoriert er die schon getane Arbeit. Er sieht auf die Un¬ moderne» herab. Moder» — i» seiner Anwendung ans Geisteserzeugnisse und ans

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/67>, abgerufen am 24.11.2024.