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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt ans betrachtet

Mit dieser Katastrophe endet der zweite Teil von Heinrich dem Vierten, aber
die Entwicklung ist hier nicht zu Ende, In "Heinrich dein Fünften" sehen wir die
Wirkung der Umwandlung des Prinzen in dem großartigen Triumphzuge durch
Frankreich, der uns auch in der verzweifeltsten Lage nicht daran denken läßt,
Heinrich könne unterliegen: so sehr lebt in ihm die felsenfeste Siegesgewißheit
des Helden. Hier bilden die alten Zechbrüder des Königs nur noch den fernen,
dunkeln Hintergrund; es wird uns erzählt, wie Falstaff am Säuferwahnsinn
zu Grunde geht, Bardolph gehängt wird, und wir sehen mit an, wie Pistol
die wohlverdienten Ohrfeigen schweigend einsteckt und nach London in den
Sumpf, aus dem er hervorgekrochen ist, mit Schimpf und Schande zurückgeschickt
wird, als ein Mensch, der nicht wert ist, an dieser Hcldengröße teilzunehmen.
Das Gemeine verblaßt hier wirklich zu wesenlosen Scheine.

Es ist also ein einheitliches Drama, das uns in beiden Teilen von Heinrich
dem Vierten und in Heinrich dem Fünften vorgeführt wird; es ist das Drama der
Umwandlung des Prinzen Heinrich aus einem Lebemann in einen Helden erster
Größe, der sich in den Kampf stürzt mit einer Welt in Waffen -- ein Drama,
das ähnlich der preußische Staat in Friedrich dein Großen erlebt hat.

Um uns diese Umwandlung deutlich zu macheu, verkörpert Shakespeare die
beide", Lebensprinzipien, um die es sich hier handelt, den Zug uach aufwärts und
den Zug nach abwärts, die beiden die Menschheit bewegenden Triebe, die Faust
in die Worte faßt:


Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält in derber Liebeslust
Sich ein die Welt mit klammernden Organen,
Die andre hebt gewaltsam sich vom Duft
Zu den Gefilden hoher Ahnen.

Wir sehen, wie sich die Vertreter dieser beiden Prinzipien, Prinz Heinrich
und Falstaff, zu immer schürferm innerm Gegensatze entwickeln, und erleben
den unvermeidlichen Entscheidnngskampf beider, an den sich wie ein Triumph-
gesang der Heldengang des Siegers, aber auch die völlige Vernichtung des
Uuterlegnen anschließt.

Jetzt ist "ins klar, was Shakespeare mit der Figur Falstaffs bezweckt.
Dadurch, daß er Falstaff, den haltlos versinkendem Trinker, unmittelbar neben
den Prinzen Heinrich, den aufwärts strebenden Kämpfer, vor uns hinstellt,
will er uns einen Maßstab geben für die Größe und das Wesen der Ent¬
wicklung, die Prinz Heinrich durchmacht. Die Figur Falstaffs dient als
Folie, von der sich die Gestalt des Prinzen Heinrich abhebt, Falstaff ist der
dunkle Hintergrund, vor dem die Lichtgestalt des Prinzen erst in ihrem vollen
Glänze erstrahlt.

Shakespeare benutzt also den Kontrast, um uns den leitenden Gedanken
seiner Dichtung zum Bewußtsein zu bringen. Dieser Kontrast beherrscht das
ganze Drama, er ist überall auf das sorgfältigste hervorgehoben, vor allein
aber zeigt er eine sehr bemerkenswerte, mit der größten Kunst herausgearbeitete
Steigerung. In den Wirtshansszenen der ersten Akte äußert er sich in der


Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt ans betrachtet

Mit dieser Katastrophe endet der zweite Teil von Heinrich dem Vierten, aber
die Entwicklung ist hier nicht zu Ende, In „Heinrich dein Fünften" sehen wir die
Wirkung der Umwandlung des Prinzen in dem großartigen Triumphzuge durch
Frankreich, der uns auch in der verzweifeltsten Lage nicht daran denken läßt,
Heinrich könne unterliegen: so sehr lebt in ihm die felsenfeste Siegesgewißheit
des Helden. Hier bilden die alten Zechbrüder des Königs nur noch den fernen,
dunkeln Hintergrund; es wird uns erzählt, wie Falstaff am Säuferwahnsinn
zu Grunde geht, Bardolph gehängt wird, und wir sehen mit an, wie Pistol
die wohlverdienten Ohrfeigen schweigend einsteckt und nach London in den
Sumpf, aus dem er hervorgekrochen ist, mit Schimpf und Schande zurückgeschickt
wird, als ein Mensch, der nicht wert ist, an dieser Hcldengröße teilzunehmen.
Das Gemeine verblaßt hier wirklich zu wesenlosen Scheine.

Es ist also ein einheitliches Drama, das uns in beiden Teilen von Heinrich
dem Vierten und in Heinrich dem Fünften vorgeführt wird; es ist das Drama der
Umwandlung des Prinzen Heinrich aus einem Lebemann in einen Helden erster
Größe, der sich in den Kampf stürzt mit einer Welt in Waffen — ein Drama,
das ähnlich der preußische Staat in Friedrich dein Großen erlebt hat.

Um uns diese Umwandlung deutlich zu macheu, verkörpert Shakespeare die
beide», Lebensprinzipien, um die es sich hier handelt, den Zug uach aufwärts und
den Zug nach abwärts, die beiden die Menschheit bewegenden Triebe, die Faust
in die Worte faßt:


Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält in derber Liebeslust
Sich ein die Welt mit klammernden Organen,
Die andre hebt gewaltsam sich vom Duft
Zu den Gefilden hoher Ahnen.

Wir sehen, wie sich die Vertreter dieser beiden Prinzipien, Prinz Heinrich
und Falstaff, zu immer schürferm innerm Gegensatze entwickeln, und erleben
den unvermeidlichen Entscheidnngskampf beider, an den sich wie ein Triumph-
gesang der Heldengang des Siegers, aber auch die völlige Vernichtung des
Uuterlegnen anschließt.

Jetzt ist »ins klar, was Shakespeare mit der Figur Falstaffs bezweckt.
Dadurch, daß er Falstaff, den haltlos versinkendem Trinker, unmittelbar neben
den Prinzen Heinrich, den aufwärts strebenden Kämpfer, vor uns hinstellt,
will er uns einen Maßstab geben für die Größe und das Wesen der Ent¬
wicklung, die Prinz Heinrich durchmacht. Die Figur Falstaffs dient als
Folie, von der sich die Gestalt des Prinzen Heinrich abhebt, Falstaff ist der
dunkle Hintergrund, vor dem die Lichtgestalt des Prinzen erst in ihrem vollen
Glänze erstrahlt.

Shakespeare benutzt also den Kontrast, um uns den leitenden Gedanken
seiner Dichtung zum Bewußtsein zu bringen. Dieser Kontrast beherrscht das
ganze Drama, er ist überall auf das sorgfältigste hervorgehoben, vor allein
aber zeigt er eine sehr bemerkenswerte, mit der größten Kunst herausgearbeitete
Steigerung. In den Wirtshansszenen der ersten Akte äußert er sich in der


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[0475] Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt ans betrachtet Mit dieser Katastrophe endet der zweite Teil von Heinrich dem Vierten, aber die Entwicklung ist hier nicht zu Ende, In „Heinrich dein Fünften" sehen wir die Wirkung der Umwandlung des Prinzen in dem großartigen Triumphzuge durch Frankreich, der uns auch in der verzweifeltsten Lage nicht daran denken läßt, Heinrich könne unterliegen: so sehr lebt in ihm die felsenfeste Siegesgewißheit des Helden. Hier bilden die alten Zechbrüder des Königs nur noch den fernen, dunkeln Hintergrund; es wird uns erzählt, wie Falstaff am Säuferwahnsinn zu Grunde geht, Bardolph gehängt wird, und wir sehen mit an, wie Pistol die wohlverdienten Ohrfeigen schweigend einsteckt und nach London in den Sumpf, aus dem er hervorgekrochen ist, mit Schimpf und Schande zurückgeschickt wird, als ein Mensch, der nicht wert ist, an dieser Hcldengröße teilzunehmen. Das Gemeine verblaßt hier wirklich zu wesenlosen Scheine. Es ist also ein einheitliches Drama, das uns in beiden Teilen von Heinrich dem Vierten und in Heinrich dem Fünften vorgeführt wird; es ist das Drama der Umwandlung des Prinzen Heinrich aus einem Lebemann in einen Helden erster Größe, der sich in den Kampf stürzt mit einer Welt in Waffen — ein Drama, das ähnlich der preußische Staat in Friedrich dein Großen erlebt hat. Um uns diese Umwandlung deutlich zu macheu, verkörpert Shakespeare die beide», Lebensprinzipien, um die es sich hier handelt, den Zug uach aufwärts und den Zug nach abwärts, die beiden die Menschheit bewegenden Triebe, die Faust in die Worte faßt: Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust, Die eine will sich von der andern trennen; Die eine hält in derber Liebeslust Sich ein die Welt mit klammernden Organen, Die andre hebt gewaltsam sich vom Duft Zu den Gefilden hoher Ahnen. Wir sehen, wie sich die Vertreter dieser beiden Prinzipien, Prinz Heinrich und Falstaff, zu immer schürferm innerm Gegensatze entwickeln, und erleben den unvermeidlichen Entscheidnngskampf beider, an den sich wie ein Triumph- gesang der Heldengang des Siegers, aber auch die völlige Vernichtung des Uuterlegnen anschließt. Jetzt ist »ins klar, was Shakespeare mit der Figur Falstaffs bezweckt. Dadurch, daß er Falstaff, den haltlos versinkendem Trinker, unmittelbar neben den Prinzen Heinrich, den aufwärts strebenden Kämpfer, vor uns hinstellt, will er uns einen Maßstab geben für die Größe und das Wesen der Ent¬ wicklung, die Prinz Heinrich durchmacht. Die Figur Falstaffs dient als Folie, von der sich die Gestalt des Prinzen Heinrich abhebt, Falstaff ist der dunkle Hintergrund, vor dem die Lichtgestalt des Prinzen erst in ihrem vollen Glänze erstrahlt. Shakespeare benutzt also den Kontrast, um uns den leitenden Gedanken seiner Dichtung zum Bewußtsein zu bringen. Dieser Kontrast beherrscht das ganze Drama, er ist überall auf das sorgfältigste hervorgehoben, vor allein aber zeigt er eine sehr bemerkenswerte, mit der größten Kunst herausgearbeitete Steigerung. In den Wirtshansszenen der ersten Akte äußert er sich in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/475>, abgerufen am 27.11.2024.