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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

heutzutage anstößig. I" den Reichstag paßt es allerdings nicht, weil der Kaiser als
solcher keine Untertanen Hut, es sei denn in den Schutzgebieten. Aber wie im eng¬
lischen Unterhause und in der englischen Gesetzgebung das Wort Untertanen noch
gang und gäbe ist, so wollen wir es uns auch in Deutschland erhalten. Das
"Stantsbürgertum" deckt deu Begriff doch bei weitem nicht. Graf Ballestrem hat
nun in seiner dem Abgeordneten Vollmar gegenüber angewandten Methode die
Reden in Essen und in Breslau als "Privatäußerungen" behandelt. Das hat mit
Recht allgemein Erstaunen und Widerspruch hervorgerufen. Wenn sich der deutsche
Kaiser oder genauer der König von Preußen in Essen an eine große Schar von
Arbeitern, in Breslau nu eine besonders empfangne Arbeiterdepntntion wendet,
>o sind das keine "Privatäußerungen." Der Kaiser will sie am allerwenigsten so
aufgefaßt haben, er will, daß seine Worte allen deutschen Arbeitern hell in die
Ohren klingen sollen. Auch steht es dem Reichstagspräsidenten nicht zu, die kaiser¬
liche" oder königlichen Meinungsäußerungen nach seinein Ermessen zu klassifizieren,
einzuteilen in solche, die er als öffentliche gelten lassen will, und solche, die er als privatim
getan ansieht. Die letzten könnten doch mir solche Worte sein, die im engsten Kreise
gesprächsweise an einzelne Personen gerichtet worden sind, und auch da wird es
immer Äußerungen geben, die den Zweck haben, auf diesem Wege an die weiteste
Öffentlichkeit zu gelangen. Aber vorbedachte, programmatische Reden wie in Essen
und in Breslau, deren klarer Zweck durch ihre Veröffentlichung im Reichsanzeiger
in authentischer Form amtlich kundgetan ist, darf der Neichstagspräsident nicht als
"Privatäußerungen" klassifizieren. Es ist begreiflich, daß Graf Bülow die Stellung
des Präsidenten der Sozialdemokrntie gegenüber nicht erschweren wollte und konnte.
Aber er mag erwogen haben, ob er als Reichskanzler nicht gegen eine solche
Einschätzung Kaiserlicher Kundgebungen, die der Kaiser jedenfalls am aller¬
wenigsten als private angesehen wissen wollte, und deren Veröffentlichung im
amtlichen Organ des Reichs der Kanzler selbst angeordnet hatte, Einspruch zu er¬
heben hätte. Was Graf Ballestrem, wein: mich in der besten Absicht, tat, war
nicht mehr und nicht weniger als eine Einmischung in die Regierungstätigkeit des
Kaisers und des Reichskanzlers. Der Präsident kann sich auf deu Standpunkt
stellen, daß er ein Hineinziehn der Person des Kaisers in die Debatte grundsätzlich
nicht zuläßt. Wenn die Reichsverfassung ein sich keine Handhabe dazu bietet, da sie
nicht wie die preußische Verfassung die Unverletzlichkeit der Person des Rcichsober-
hanptcs ausspricht, so könnte man erwägen, ob nicht eine Ergänzung der Verfassung
nach dieser Richtung hin notwendig wäre. Aber da Artikel 11 das Präsidium des
Bundes dem nach der preußischen Verfassung unverletzlichen Könige von Preußen
zuspricht, so ist diese Unverletzlichkeit des Trägers der preußische" Krone vo ixso
mich auf seine Eigenschaft als Rcichsoberhaupt übertragen. Ferner weist Artikel 17
der Reichsverfcisfnng dem Reichskanzler die Verantwortung zu; auch daraus ergibt
sich die Unverletzlichkeit und Nnverantwortlichkeit der Person des Kaisers, sodaß der
Neichstagspräsident ein Verbot sehr wohl auf diese beiden Umstände gründen kann.

Wegen der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers hat Herr Bebel mit Diktntor-
"lieue versichert, daß die nächste Legislaturperiode ein Kanzlerverantwortlichkeitsgesetz
zeitigen werde, sserr Bebel wird sich klar sein, daß darüber noch mehr Leute mit¬
zureden habe", und daß auch ein Mehrheitsbeschluß des Reichstags noch lange kein
Gesetz ist. Als bei der Reichstagswahl von 1884 ein sozinldemvkratischer Zcttelver-
tciler vor dem Wahllokal in der Leipziger Straße dem zur Wahl erschienene" Fürsten
Bismarck einen Zettel mit dem Namen "Bebel" hinstreckte, wies Bismarck :du mit
den Worten zurück: "Soweit siud wir uoch nicht." Das dürfte auch wohl von dem
Bebelschen KanzlerverantivortlichlcitSgesetz gelten, dessen nenn Silben allein schon
seine Unmöglichkeit shmptvmatisch dartun!

Im übrigen wäre die Konstruierung einer einklagbaren Verantwortlichlcut des
deutschen Reichskanzlers, wie Bebel sie in Aussicht stellt, eine Doktorfrnge, deren
Lösung die Doppelstellung des Reichskanzlers, als preußischer Ministerpräsident,
ziemlich unmöglich macht. Soweit es sich nicht um Anordnungen und Verfügungen
des Kaisers handelt, die ausschließlich auf dem Gebiet der Reichsgesetzgebung und


Maßgebliches und Unmaßgebliches

heutzutage anstößig. I» den Reichstag paßt es allerdings nicht, weil der Kaiser als
solcher keine Untertanen Hut, es sei denn in den Schutzgebieten. Aber wie im eng¬
lischen Unterhause und in der englischen Gesetzgebung das Wort Untertanen noch
gang und gäbe ist, so wollen wir es uns auch in Deutschland erhalten. Das
„Stantsbürgertum" deckt deu Begriff doch bei weitem nicht. Graf Ballestrem hat
nun in seiner dem Abgeordneten Vollmar gegenüber angewandten Methode die
Reden in Essen und in Breslau als „Privatäußerungen" behandelt. Das hat mit
Recht allgemein Erstaunen und Widerspruch hervorgerufen. Wenn sich der deutsche
Kaiser oder genauer der König von Preußen in Essen an eine große Schar von
Arbeitern, in Breslau nu eine besonders empfangne Arbeiterdepntntion wendet,
>o sind das keine „Privatäußerungen." Der Kaiser will sie am allerwenigsten so
aufgefaßt haben, er will, daß seine Worte allen deutschen Arbeitern hell in die
Ohren klingen sollen. Auch steht es dem Reichstagspräsidenten nicht zu, die kaiser¬
liche» oder königlichen Meinungsäußerungen nach seinein Ermessen zu klassifizieren,
einzuteilen in solche, die er als öffentliche gelten lassen will, und solche, die er als privatim
getan ansieht. Die letzten könnten doch mir solche Worte sein, die im engsten Kreise
gesprächsweise an einzelne Personen gerichtet worden sind, und auch da wird es
immer Äußerungen geben, die den Zweck haben, auf diesem Wege an die weiteste
Öffentlichkeit zu gelangen. Aber vorbedachte, programmatische Reden wie in Essen
und in Breslau, deren klarer Zweck durch ihre Veröffentlichung im Reichsanzeiger
in authentischer Form amtlich kundgetan ist, darf der Neichstagspräsident nicht als
„Privatäußerungen" klassifizieren. Es ist begreiflich, daß Graf Bülow die Stellung
des Präsidenten der Sozialdemokrntie gegenüber nicht erschweren wollte und konnte.
Aber er mag erwogen haben, ob er als Reichskanzler nicht gegen eine solche
Einschätzung Kaiserlicher Kundgebungen, die der Kaiser jedenfalls am aller¬
wenigsten als private angesehen wissen wollte, und deren Veröffentlichung im
amtlichen Organ des Reichs der Kanzler selbst angeordnet hatte, Einspruch zu er¬
heben hätte. Was Graf Ballestrem, wein: mich in der besten Absicht, tat, war
nicht mehr und nicht weniger als eine Einmischung in die Regierungstätigkeit des
Kaisers und des Reichskanzlers. Der Präsident kann sich auf deu Standpunkt
stellen, daß er ein Hineinziehn der Person des Kaisers in die Debatte grundsätzlich
nicht zuläßt. Wenn die Reichsverfassung ein sich keine Handhabe dazu bietet, da sie
nicht wie die preußische Verfassung die Unverletzlichkeit der Person des Rcichsober-
hanptcs ausspricht, so könnte man erwägen, ob nicht eine Ergänzung der Verfassung
nach dieser Richtung hin notwendig wäre. Aber da Artikel 11 das Präsidium des
Bundes dem nach der preußischen Verfassung unverletzlichen Könige von Preußen
zuspricht, so ist diese Unverletzlichkeit des Trägers der preußische» Krone vo ixso
mich auf seine Eigenschaft als Rcichsoberhaupt übertragen. Ferner weist Artikel 17
der Reichsverfcisfnng dem Reichskanzler die Verantwortung zu; auch daraus ergibt
sich die Unverletzlichkeit und Nnverantwortlichkeit der Person des Kaisers, sodaß der
Neichstagspräsident ein Verbot sehr wohl auf diese beiden Umstände gründen kann.

Wegen der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers hat Herr Bebel mit Diktntor-
»lieue versichert, daß die nächste Legislaturperiode ein Kanzlerverantwortlichkeitsgesetz
zeitigen werde, sserr Bebel wird sich klar sein, daß darüber noch mehr Leute mit¬
zureden habe», und daß auch ein Mehrheitsbeschluß des Reichstags noch lange kein
Gesetz ist. Als bei der Reichstagswahl von 1884 ein sozinldemvkratischer Zcttelver-
tciler vor dem Wahllokal in der Leipziger Straße dem zur Wahl erschienene» Fürsten
Bismarck einen Zettel mit dem Namen „Bebel" hinstreckte, wies Bismarck :du mit
den Worten zurück: „Soweit siud wir uoch nicht." Das dürfte auch wohl von dem
Bebelschen KanzlerverantivortlichlcitSgesetz gelten, dessen nenn Silben allein schon
seine Unmöglichkeit shmptvmatisch dartun!

Im übrigen wäre die Konstruierung einer einklagbaren Verantwortlichlcut des
deutschen Reichskanzlers, wie Bebel sie in Aussicht stellt, eine Doktorfrnge, deren
Lösung die Doppelstellung des Reichskanzlers, als preußischer Ministerpräsident,
ziemlich unmöglich macht. Soweit es sich nicht um Anordnungen und Verfügungen
des Kaisers handelt, die ausschließlich auf dem Gebiet der Reichsgesetzgebung und


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[0377] Maßgebliches und Unmaßgebliches heutzutage anstößig. I» den Reichstag paßt es allerdings nicht, weil der Kaiser als solcher keine Untertanen Hut, es sei denn in den Schutzgebieten. Aber wie im eng¬ lischen Unterhause und in der englischen Gesetzgebung das Wort Untertanen noch gang und gäbe ist, so wollen wir es uns auch in Deutschland erhalten. Das „Stantsbürgertum" deckt deu Begriff doch bei weitem nicht. Graf Ballestrem hat nun in seiner dem Abgeordneten Vollmar gegenüber angewandten Methode die Reden in Essen und in Breslau als „Privatäußerungen" behandelt. Das hat mit Recht allgemein Erstaunen und Widerspruch hervorgerufen. Wenn sich der deutsche Kaiser oder genauer der König von Preußen in Essen an eine große Schar von Arbeitern, in Breslau nu eine besonders empfangne Arbeiterdepntntion wendet, >o sind das keine „Privatäußerungen." Der Kaiser will sie am allerwenigsten so aufgefaßt haben, er will, daß seine Worte allen deutschen Arbeitern hell in die Ohren klingen sollen. Auch steht es dem Reichstagspräsidenten nicht zu, die kaiser¬ liche» oder königlichen Meinungsäußerungen nach seinein Ermessen zu klassifizieren, einzuteilen in solche, die er als öffentliche gelten lassen will, und solche, die er als privatim getan ansieht. Die letzten könnten doch mir solche Worte sein, die im engsten Kreise gesprächsweise an einzelne Personen gerichtet worden sind, und auch da wird es immer Äußerungen geben, die den Zweck haben, auf diesem Wege an die weiteste Öffentlichkeit zu gelangen. Aber vorbedachte, programmatische Reden wie in Essen und in Breslau, deren klarer Zweck durch ihre Veröffentlichung im Reichsanzeiger in authentischer Form amtlich kundgetan ist, darf der Neichstagspräsident nicht als „Privatäußerungen" klassifizieren. Es ist begreiflich, daß Graf Bülow die Stellung des Präsidenten der Sozialdemokrntie gegenüber nicht erschweren wollte und konnte. Aber er mag erwogen haben, ob er als Reichskanzler nicht gegen eine solche Einschätzung Kaiserlicher Kundgebungen, die der Kaiser jedenfalls am aller¬ wenigsten als private angesehen wissen wollte, und deren Veröffentlichung im amtlichen Organ des Reichs der Kanzler selbst angeordnet hatte, Einspruch zu er¬ heben hätte. Was Graf Ballestrem, wein: mich in der besten Absicht, tat, war nicht mehr und nicht weniger als eine Einmischung in die Regierungstätigkeit des Kaisers und des Reichskanzlers. Der Präsident kann sich auf deu Standpunkt stellen, daß er ein Hineinziehn der Person des Kaisers in die Debatte grundsätzlich nicht zuläßt. Wenn die Reichsverfassung ein sich keine Handhabe dazu bietet, da sie nicht wie die preußische Verfassung die Unverletzlichkeit der Person des Rcichsober- hanptcs ausspricht, so könnte man erwägen, ob nicht eine Ergänzung der Verfassung nach dieser Richtung hin notwendig wäre. Aber da Artikel 11 das Präsidium des Bundes dem nach der preußischen Verfassung unverletzlichen Könige von Preußen zuspricht, so ist diese Unverletzlichkeit des Trägers der preußische» Krone vo ixso mich auf seine Eigenschaft als Rcichsoberhaupt übertragen. Ferner weist Artikel 17 der Reichsverfcisfnng dem Reichskanzler die Verantwortung zu; auch daraus ergibt sich die Unverletzlichkeit und Nnverantwortlichkeit der Person des Kaisers, sodaß der Neichstagspräsident ein Verbot sehr wohl auf diese beiden Umstände gründen kann. Wegen der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers hat Herr Bebel mit Diktntor- »lieue versichert, daß die nächste Legislaturperiode ein Kanzlerverantwortlichkeitsgesetz zeitigen werde, sserr Bebel wird sich klar sein, daß darüber noch mehr Leute mit¬ zureden habe», und daß auch ein Mehrheitsbeschluß des Reichstags noch lange kein Gesetz ist. Als bei der Reichstagswahl von 1884 ein sozinldemvkratischer Zcttelver- tciler vor dem Wahllokal in der Leipziger Straße dem zur Wahl erschienene» Fürsten Bismarck einen Zettel mit dem Namen „Bebel" hinstreckte, wies Bismarck :du mit den Worten zurück: „Soweit siud wir uoch nicht." Das dürfte auch wohl von dem Bebelschen KanzlerverantivortlichlcitSgesetz gelten, dessen nenn Silben allein schon seine Unmöglichkeit shmptvmatisch dartun! Im übrigen wäre die Konstruierung einer einklagbaren Verantwortlichlcut des deutschen Reichskanzlers, wie Bebel sie in Aussicht stellt, eine Doktorfrnge, deren Lösung die Doppelstellung des Reichskanzlers, als preußischer Ministerpräsident, ziemlich unmöglich macht. Soweit es sich nicht um Anordnungen und Verfügungen des Kaisers handelt, die ausschließlich auf dem Gebiet der Reichsgesetzgebung und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/377>, abgerufen am 28.07.2024.