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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die Runst des Tanzes

Zirkus wie im Theater sein. Covent Garde" und Drury Lane beuten diesen Genre,
den sie Pantomime nennen, in der Weihnachtszeit aus, aber auch die Königliche
Oper in Berlin hat eine Zeit lang mit ihren wie Truppenparaden organisierten
und mit meisterlichen Drill vorgeführten Balletts an der Spitze gestanden. Jetzt
hat sich der Geschmack der Pariser, die für die Bühnentnnzkunst nach immer als
das sachverständigste Publikum gelten, der Wiederbelebung der alten, längstver¬
gessenen Tanzweiscn unsrer Vorfahren zugewandt, und die Erwähnung dieser
modernen Liebhaberei bringt uns zu einer Besprechung des gesellschaftlichen Tanzes,
der zwischen dem Nationaltanz und dem Bühncutanz insofern mitteninne steht,
als er wie der Bühnentanz gelehrt und wie der Nationaltanz nicht als Schaustück,
sondern als Vergnügen betrieben wird.

Bei dem großen Fortschritte, den Deutschland im Laufe des letzten Jahr¬
hunderts auf allen Gebieten gemacht hat, ist es nnr natürlich, daß wir vergessen,
wie jung unsre zweite Kultur ist. denn die erste ist uns in den beispiellosen Drang¬
salen des Dreißigjährigen Krieges so gut wie gänzlich verloren gegangen. Alles,
was der Verfeinerung der Sitte diente, mußten wir noch vor anderthalb Jahr¬
hunderten den Nachbarvölkern, namentlich den Franzosen und Italienern, zum Teil
auch den Spaniern und Portugiesen, den Holländern, den Engländern, den Polen
entlehnen, und die Entrüstung über die zahlreichen Fremdwörter, mit denen sich
unsre Sprache trägt, vergißt bisweilen, daß nicht bloß das Wort, sondern auch die
Sache vou anderswoher entlehnt werden mußte. Nach dem Beharrnngsgesetze be¬
hält ein einmal aufgenommenes Wort Giltigkeit und Verwendung, bis ihm im
Ruinen höhern Ansehens so zugesetzt wird, daß ihm nichts übrig bleibt als zu
verschwinden.

Der gesellschaftliche Tanz ist an Stiel und Wurzel fremde Einfuhr, und der
an der Sache kleben gebliebner Fremdwörter sind soviel?, daß man nicht weiß, wer
tiefer in dem xarlsx-vous? watet, der Kochkünstler oder der Tanzmeister? In der
Musik, in der Fechtkunst, im Kriegswesen ist es mit italienischen und spanischen
Ausdrücken nicht viel anders. Sprachreinigungsversuche werden ja gemacht, und
offenbar mit Erfolg, aber wir, die wir schon älter sind und zu Ehren des Reichs¬
verwesers Erzherzog Johann die Jlluminationslämpchen haben anbrennen helfen,
können kaum hoffen, noch große Reinlichkeit zu erleben. Sollte bei der Besprechung
des gesellschaftlichen Tanzes das eine oder das andre Fremdwort mit einschlüpfen,
so wäre das nur bezeichnend, denn, wie gesagt, das ganze Gewächs ist exotisch.
Und zwar stammt es aus Frankreich, woher wir von jeher die feine Lebensart zu
beziehen gewohnt waren, während Italien für die Kunst aushelfen mußte.

Nun liegt es ja auf der Hand und es wird uns an vielen Orten ausdrücklich
berichtet, daß es zu allen Zeiten auch deutsche Tänze gegeben hat, Tänze, wie sie
das Volk liebte, Neigen sowohl wie paarweise getanzte Rundtänze. Ein bißchen
derb und schwerfällig waren sie, Zephhrs Flügel hatten nicht viel damit zu tun,
"ber Rhhthmus und Melodie hatten die Weisen, nach denen sich die Paare schwangen
oder drehten, doch. Nur daß Leuten, die alles Feine aus dem Auslande zu be¬
ziehn gewohnt waren, das Einheimische leicht nicht gut genug erschien. Der hohe
Adel und der reiche Patrizierstnnd holten sich, wie ihre sonstigen geselligen Sitten
und Gebräuche, auch ihre Tanzweisen von ausländischen Höfen her. der niedre
Adel und der Bürgerstand ahmten nach Möglichkeit nach, was sie die Mächtigen
"ut die Reichen tun sahen, und so wurde es Sitte, daß man französische Tanze
zu lernen bemüht war, und daß, wer sie konnte, sie für besser hielt als die deutschen.
Es wäre" Tänze, die ihre ursprüngliche Aufnahme am französischen Hof italienischen
"ut spanischen Einflüssen verdankten, also viles andre als französische Volkstanze,
wie nur das dentlich genug an den, wie oben erwähnt, neuerdings wieder mif-
geloininnen alten Tanzweisen sieht, bei deren Vorführung im Elisee und in den
Ministerhotels sich die ersten Tänzerinnen der Großen Oper beteiligen, und die
olle mehr oder weniger nennete- oder pavanenartig gewesen zu sein scheinen. Gra-


Die Runst des Tanzes

Zirkus wie im Theater sein. Covent Garde» und Drury Lane beuten diesen Genre,
den sie Pantomime nennen, in der Weihnachtszeit aus, aber auch die Königliche
Oper in Berlin hat eine Zeit lang mit ihren wie Truppenparaden organisierten
und mit meisterlichen Drill vorgeführten Balletts an der Spitze gestanden. Jetzt
hat sich der Geschmack der Pariser, die für die Bühnentnnzkunst nach immer als
das sachverständigste Publikum gelten, der Wiederbelebung der alten, längstver¬
gessenen Tanzweiscn unsrer Vorfahren zugewandt, und die Erwähnung dieser
modernen Liebhaberei bringt uns zu einer Besprechung des gesellschaftlichen Tanzes,
der zwischen dem Nationaltanz und dem Bühncutanz insofern mitteninne steht,
als er wie der Bühnentanz gelehrt und wie der Nationaltanz nicht als Schaustück,
sondern als Vergnügen betrieben wird.

Bei dem großen Fortschritte, den Deutschland im Laufe des letzten Jahr¬
hunderts auf allen Gebieten gemacht hat, ist es nnr natürlich, daß wir vergessen,
wie jung unsre zweite Kultur ist. denn die erste ist uns in den beispiellosen Drang¬
salen des Dreißigjährigen Krieges so gut wie gänzlich verloren gegangen. Alles,
was der Verfeinerung der Sitte diente, mußten wir noch vor anderthalb Jahr¬
hunderten den Nachbarvölkern, namentlich den Franzosen und Italienern, zum Teil
auch den Spaniern und Portugiesen, den Holländern, den Engländern, den Polen
entlehnen, und die Entrüstung über die zahlreichen Fremdwörter, mit denen sich
unsre Sprache trägt, vergißt bisweilen, daß nicht bloß das Wort, sondern auch die
Sache vou anderswoher entlehnt werden mußte. Nach dem Beharrnngsgesetze be¬
hält ein einmal aufgenommenes Wort Giltigkeit und Verwendung, bis ihm im
Ruinen höhern Ansehens so zugesetzt wird, daß ihm nichts übrig bleibt als zu
verschwinden.

Der gesellschaftliche Tanz ist an Stiel und Wurzel fremde Einfuhr, und der
an der Sache kleben gebliebner Fremdwörter sind soviel?, daß man nicht weiß, wer
tiefer in dem xarlsx-vous? watet, der Kochkünstler oder der Tanzmeister? In der
Musik, in der Fechtkunst, im Kriegswesen ist es mit italienischen und spanischen
Ausdrücken nicht viel anders. Sprachreinigungsversuche werden ja gemacht, und
offenbar mit Erfolg, aber wir, die wir schon älter sind und zu Ehren des Reichs¬
verwesers Erzherzog Johann die Jlluminationslämpchen haben anbrennen helfen,
können kaum hoffen, noch große Reinlichkeit zu erleben. Sollte bei der Besprechung
des gesellschaftlichen Tanzes das eine oder das andre Fremdwort mit einschlüpfen,
so wäre das nur bezeichnend, denn, wie gesagt, das ganze Gewächs ist exotisch.
Und zwar stammt es aus Frankreich, woher wir von jeher die feine Lebensart zu
beziehen gewohnt waren, während Italien für die Kunst aushelfen mußte.

Nun liegt es ja auf der Hand und es wird uns an vielen Orten ausdrücklich
berichtet, daß es zu allen Zeiten auch deutsche Tänze gegeben hat, Tänze, wie sie
das Volk liebte, Neigen sowohl wie paarweise getanzte Rundtänze. Ein bißchen
derb und schwerfällig waren sie, Zephhrs Flügel hatten nicht viel damit zu tun,
"ber Rhhthmus und Melodie hatten die Weisen, nach denen sich die Paare schwangen
oder drehten, doch. Nur daß Leuten, die alles Feine aus dem Auslande zu be¬
ziehn gewohnt waren, das Einheimische leicht nicht gut genug erschien. Der hohe
Adel und der reiche Patrizierstnnd holten sich, wie ihre sonstigen geselligen Sitten
und Gebräuche, auch ihre Tanzweisen von ausländischen Höfen her. der niedre
Adel und der Bürgerstand ahmten nach Möglichkeit nach, was sie die Mächtigen
»ut die Reichen tun sahen, und so wurde es Sitte, daß man französische Tanze
zu lernen bemüht war, und daß, wer sie konnte, sie für besser hielt als die deutschen.
Es wäre» Tänze, die ihre ursprüngliche Aufnahme am französischen Hof italienischen
»ut spanischen Einflüssen verdankten, also viles andre als französische Volkstanze,
wie nur das dentlich genug an den, wie oben erwähnt, neuerdings wieder mif-
geloininnen alten Tanzweisen sieht, bei deren Vorführung im Elisee und in den
Ministerhotels sich die ersten Tänzerinnen der Großen Oper beteiligen, und die
olle mehr oder weniger nennete- oder pavanenartig gewesen zu sein scheinen. Gra-


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[0361] Die Runst des Tanzes Zirkus wie im Theater sein. Covent Garde» und Drury Lane beuten diesen Genre, den sie Pantomime nennen, in der Weihnachtszeit aus, aber auch die Königliche Oper in Berlin hat eine Zeit lang mit ihren wie Truppenparaden organisierten und mit meisterlichen Drill vorgeführten Balletts an der Spitze gestanden. Jetzt hat sich der Geschmack der Pariser, die für die Bühnentnnzkunst nach immer als das sachverständigste Publikum gelten, der Wiederbelebung der alten, längstver¬ gessenen Tanzweiscn unsrer Vorfahren zugewandt, und die Erwähnung dieser modernen Liebhaberei bringt uns zu einer Besprechung des gesellschaftlichen Tanzes, der zwischen dem Nationaltanz und dem Bühncutanz insofern mitteninne steht, als er wie der Bühnentanz gelehrt und wie der Nationaltanz nicht als Schaustück, sondern als Vergnügen betrieben wird. Bei dem großen Fortschritte, den Deutschland im Laufe des letzten Jahr¬ hunderts auf allen Gebieten gemacht hat, ist es nnr natürlich, daß wir vergessen, wie jung unsre zweite Kultur ist. denn die erste ist uns in den beispiellosen Drang¬ salen des Dreißigjährigen Krieges so gut wie gänzlich verloren gegangen. Alles, was der Verfeinerung der Sitte diente, mußten wir noch vor anderthalb Jahr¬ hunderten den Nachbarvölkern, namentlich den Franzosen und Italienern, zum Teil auch den Spaniern und Portugiesen, den Holländern, den Engländern, den Polen entlehnen, und die Entrüstung über die zahlreichen Fremdwörter, mit denen sich unsre Sprache trägt, vergißt bisweilen, daß nicht bloß das Wort, sondern auch die Sache vou anderswoher entlehnt werden mußte. Nach dem Beharrnngsgesetze be¬ hält ein einmal aufgenommenes Wort Giltigkeit und Verwendung, bis ihm im Ruinen höhern Ansehens so zugesetzt wird, daß ihm nichts übrig bleibt als zu verschwinden. Der gesellschaftliche Tanz ist an Stiel und Wurzel fremde Einfuhr, und der an der Sache kleben gebliebner Fremdwörter sind soviel?, daß man nicht weiß, wer tiefer in dem xarlsx-vous? watet, der Kochkünstler oder der Tanzmeister? In der Musik, in der Fechtkunst, im Kriegswesen ist es mit italienischen und spanischen Ausdrücken nicht viel anders. Sprachreinigungsversuche werden ja gemacht, und offenbar mit Erfolg, aber wir, die wir schon älter sind und zu Ehren des Reichs¬ verwesers Erzherzog Johann die Jlluminationslämpchen haben anbrennen helfen, können kaum hoffen, noch große Reinlichkeit zu erleben. Sollte bei der Besprechung des gesellschaftlichen Tanzes das eine oder das andre Fremdwort mit einschlüpfen, so wäre das nur bezeichnend, denn, wie gesagt, das ganze Gewächs ist exotisch. Und zwar stammt es aus Frankreich, woher wir von jeher die feine Lebensart zu beziehen gewohnt waren, während Italien für die Kunst aushelfen mußte. Nun liegt es ja auf der Hand und es wird uns an vielen Orten ausdrücklich berichtet, daß es zu allen Zeiten auch deutsche Tänze gegeben hat, Tänze, wie sie das Volk liebte, Neigen sowohl wie paarweise getanzte Rundtänze. Ein bißchen derb und schwerfällig waren sie, Zephhrs Flügel hatten nicht viel damit zu tun, "ber Rhhthmus und Melodie hatten die Weisen, nach denen sich die Paare schwangen oder drehten, doch. Nur daß Leuten, die alles Feine aus dem Auslande zu be¬ ziehn gewohnt waren, das Einheimische leicht nicht gut genug erschien. Der hohe Adel und der reiche Patrizierstnnd holten sich, wie ihre sonstigen geselligen Sitten und Gebräuche, auch ihre Tanzweisen von ausländischen Höfen her. der niedre Adel und der Bürgerstand ahmten nach Möglichkeit nach, was sie die Mächtigen »ut die Reichen tun sahen, und so wurde es Sitte, daß man französische Tanze zu lernen bemüht war, und daß, wer sie konnte, sie für besser hielt als die deutschen. Es wäre» Tänze, die ihre ursprüngliche Aufnahme am französischen Hof italienischen »ut spanischen Einflüssen verdankten, also viles andre als französische Volkstanze, wie nur das dentlich genug an den, wie oben erwähnt, neuerdings wieder mif- geloininnen alten Tanzweisen sieht, bei deren Vorführung im Elisee und in den Ministerhotels sich die ersten Tänzerinnen der Großen Oper beteiligen, und die olle mehr oder weniger nennete- oder pavanenartig gewesen zu sein scheinen. Gra-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/361>, abgerufen am 24.11.2024.