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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Galizien

mußte mich hier die Führung der Schlachtn im Vordergrund der großpolnischen
Agitation auftauchen, und so erschien denn bei den Protesten gegen die Schul-
vvrgüuge in Wreschen im deutschen Reichstage der Prinz Nadziwill, geradeso
wie im galizischen Landtage Fürst Czartoryski und Graf Dzieduszyeki als Wort¬
führer der angeblich beleidigten polnischen Nation auftraten.

Dieser meist im stillen geführte Kampf um die Führung des polnischen
Volkes zwischen den Schlachtzizen und deu Demokraten ist das eigentliche
Kennzeichen der heutigen Poleubewegung und zugleich der Grund für ihr erneutes
Aufflammen. Die Schlachtzizen müssen, um an der Führung zu bleiben, das
radikale Drängen ihrer demokratischen Genossen mitmachen, womöglich über¬
bieten, und die Gefahren, die ihrer Stellung wie ihrem Volle drohen, klar
erkennend, suchen sie durch geschickte politische Taktik namentlich in Österreich
eine patriotische Miene zu bewahren. Sie haben bisher mit Glück operiert,
und namentlich die Leitung des Polenklubs verrät große Umsicht und diplo¬
matische Gewandtheit. Man ist auch bei der Behandlung der heikeln Wreschener
Schulangelegenheit gerade noch mit einem blauen Auge weggekommen. Während
seiner Rede in der österreichischen Delegation über die äußere Politik richtete
Graf Dzieduszyeki zwar allerhand Spitzen an die Adresse Deutschlands, erklärte
sich aber doch nicht direkt gegen den Dreibund. Im Polenklub, wo dann die
Herren unter sich waren, wurden sie schon deutlicher, und der nicht der
Stanezytengrnppe angehörende Abgeordnete Grek brachte den Antrag ein, die
Polen sollten zwar für die Wehrmacht der Monarchie eintreten, aber nur
unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß die österreichisch-ungarische Politik
unabhängig sein sollte von der des Deutschen Reichs. Der Obmann v. Jaworsli
brachte es schließlich so weit, daß der Antrag dahin abgeändert wurde, die
Stärkung der österreichisch-ungarischen Wehrkraft solle darauf berechnet sein,
die vollständige Freiheit zur Wahrung der österreichischen Großmachtstellung
zu sichern. Man hatte also Deutschland nicht ausdrücklich genannt, sonst
unterscheidet sich der Sinn der beiden Autrüge har nicht, aber einen Angriff
auf das Bündnis mit Deutschland hätte man in der Hofburg uicht vertragen,
und es wäre daun für den Polenklub unmöglich gewesen, die bisherige patrio¬
tische Maske beizubehalten.

Die Verhältnisse in Galizien spitzen sich trotzdem auch nach dieser Rich¬
tung hin immer mehr zu. Die Demonstrationen gegen die deutschen Konsulate
in Lemberg und Krcckau wegen der Wreschener Vorfälle gingen durchaus vom
bürgerlichen Publikum aus, die schwere politische Niederlage, die sich die Lem-
berger Demokratie -- die Herren Zima, Szczepanowski und andre gehörten
zu ihr -- bei dem großen Finanzkrach geholt hatte, scheint schon vergessen
zu sein, und das Vorgehn der preußischen Regierung gegen ihre aufsässigen
Polen wird noch öfters in Galizien Anlaß zu großpolnischen Demonstrationen
geben, einerlei, ob die Schlacht" dabei führend auftreten möchte oder uicht.
Es handelt sich um den Kampf um die Führerschaft -- aber auch sonst um
weiter nichts. Die polnischen revolutionären Condvttieri des neunzehnten
Jahrhunderts, die bei allen Revolutionen dabei sein mußten, sind ausgestorben,
an eine "polnische Revolution" denkt heute niemand mehr ernstlich, am


Galizien

mußte mich hier die Führung der Schlachtn im Vordergrund der großpolnischen
Agitation auftauchen, und so erschien denn bei den Protesten gegen die Schul-
vvrgüuge in Wreschen im deutschen Reichstage der Prinz Nadziwill, geradeso
wie im galizischen Landtage Fürst Czartoryski und Graf Dzieduszyeki als Wort¬
führer der angeblich beleidigten polnischen Nation auftraten.

Dieser meist im stillen geführte Kampf um die Führung des polnischen
Volkes zwischen den Schlachtzizen und deu Demokraten ist das eigentliche
Kennzeichen der heutigen Poleubewegung und zugleich der Grund für ihr erneutes
Aufflammen. Die Schlachtzizen müssen, um an der Führung zu bleiben, das
radikale Drängen ihrer demokratischen Genossen mitmachen, womöglich über¬
bieten, und die Gefahren, die ihrer Stellung wie ihrem Volle drohen, klar
erkennend, suchen sie durch geschickte politische Taktik namentlich in Österreich
eine patriotische Miene zu bewahren. Sie haben bisher mit Glück operiert,
und namentlich die Leitung des Polenklubs verrät große Umsicht und diplo¬
matische Gewandtheit. Man ist auch bei der Behandlung der heikeln Wreschener
Schulangelegenheit gerade noch mit einem blauen Auge weggekommen. Während
seiner Rede in der österreichischen Delegation über die äußere Politik richtete
Graf Dzieduszyeki zwar allerhand Spitzen an die Adresse Deutschlands, erklärte
sich aber doch nicht direkt gegen den Dreibund. Im Polenklub, wo dann die
Herren unter sich waren, wurden sie schon deutlicher, und der nicht der
Stanezytengrnppe angehörende Abgeordnete Grek brachte den Antrag ein, die
Polen sollten zwar für die Wehrmacht der Monarchie eintreten, aber nur
unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß die österreichisch-ungarische Politik
unabhängig sein sollte von der des Deutschen Reichs. Der Obmann v. Jaworsli
brachte es schließlich so weit, daß der Antrag dahin abgeändert wurde, die
Stärkung der österreichisch-ungarischen Wehrkraft solle darauf berechnet sein,
die vollständige Freiheit zur Wahrung der österreichischen Großmachtstellung
zu sichern. Man hatte also Deutschland nicht ausdrücklich genannt, sonst
unterscheidet sich der Sinn der beiden Autrüge har nicht, aber einen Angriff
auf das Bündnis mit Deutschland hätte man in der Hofburg uicht vertragen,
und es wäre daun für den Polenklub unmöglich gewesen, die bisherige patrio¬
tische Maske beizubehalten.

Die Verhältnisse in Galizien spitzen sich trotzdem auch nach dieser Rich¬
tung hin immer mehr zu. Die Demonstrationen gegen die deutschen Konsulate
in Lemberg und Krcckau wegen der Wreschener Vorfälle gingen durchaus vom
bürgerlichen Publikum aus, die schwere politische Niederlage, die sich die Lem-
berger Demokratie — die Herren Zima, Szczepanowski und andre gehörten
zu ihr — bei dem großen Finanzkrach geholt hatte, scheint schon vergessen
zu sein, und das Vorgehn der preußischen Regierung gegen ihre aufsässigen
Polen wird noch öfters in Galizien Anlaß zu großpolnischen Demonstrationen
geben, einerlei, ob die Schlacht« dabei führend auftreten möchte oder uicht.
Es handelt sich um den Kampf um die Führerschaft — aber auch sonst um
weiter nichts. Die polnischen revolutionären Condvttieri des neunzehnten
Jahrhunderts, die bei allen Revolutionen dabei sein mußten, sind ausgestorben,
an eine „polnische Revolution" denkt heute niemand mehr ernstlich, am


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[0346] Galizien mußte mich hier die Führung der Schlachtn im Vordergrund der großpolnischen Agitation auftauchen, und so erschien denn bei den Protesten gegen die Schul- vvrgüuge in Wreschen im deutschen Reichstage der Prinz Nadziwill, geradeso wie im galizischen Landtage Fürst Czartoryski und Graf Dzieduszyeki als Wort¬ führer der angeblich beleidigten polnischen Nation auftraten. Dieser meist im stillen geführte Kampf um die Führung des polnischen Volkes zwischen den Schlachtzizen und deu Demokraten ist das eigentliche Kennzeichen der heutigen Poleubewegung und zugleich der Grund für ihr erneutes Aufflammen. Die Schlachtzizen müssen, um an der Führung zu bleiben, das radikale Drängen ihrer demokratischen Genossen mitmachen, womöglich über¬ bieten, und die Gefahren, die ihrer Stellung wie ihrem Volle drohen, klar erkennend, suchen sie durch geschickte politische Taktik namentlich in Österreich eine patriotische Miene zu bewahren. Sie haben bisher mit Glück operiert, und namentlich die Leitung des Polenklubs verrät große Umsicht und diplo¬ matische Gewandtheit. Man ist auch bei der Behandlung der heikeln Wreschener Schulangelegenheit gerade noch mit einem blauen Auge weggekommen. Während seiner Rede in der österreichischen Delegation über die äußere Politik richtete Graf Dzieduszyeki zwar allerhand Spitzen an die Adresse Deutschlands, erklärte sich aber doch nicht direkt gegen den Dreibund. Im Polenklub, wo dann die Herren unter sich waren, wurden sie schon deutlicher, und der nicht der Stanezytengrnppe angehörende Abgeordnete Grek brachte den Antrag ein, die Polen sollten zwar für die Wehrmacht der Monarchie eintreten, aber nur unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß die österreichisch-ungarische Politik unabhängig sein sollte von der des Deutschen Reichs. Der Obmann v. Jaworsli brachte es schließlich so weit, daß der Antrag dahin abgeändert wurde, die Stärkung der österreichisch-ungarischen Wehrkraft solle darauf berechnet sein, die vollständige Freiheit zur Wahrung der österreichischen Großmachtstellung zu sichern. Man hatte also Deutschland nicht ausdrücklich genannt, sonst unterscheidet sich der Sinn der beiden Autrüge har nicht, aber einen Angriff auf das Bündnis mit Deutschland hätte man in der Hofburg uicht vertragen, und es wäre daun für den Polenklub unmöglich gewesen, die bisherige patrio¬ tische Maske beizubehalten. Die Verhältnisse in Galizien spitzen sich trotzdem auch nach dieser Rich¬ tung hin immer mehr zu. Die Demonstrationen gegen die deutschen Konsulate in Lemberg und Krcckau wegen der Wreschener Vorfälle gingen durchaus vom bürgerlichen Publikum aus, die schwere politische Niederlage, die sich die Lem- berger Demokratie — die Herren Zima, Szczepanowski und andre gehörten zu ihr — bei dem großen Finanzkrach geholt hatte, scheint schon vergessen zu sein, und das Vorgehn der preußischen Regierung gegen ihre aufsässigen Polen wird noch öfters in Galizien Anlaß zu großpolnischen Demonstrationen geben, einerlei, ob die Schlacht« dabei führend auftreten möchte oder uicht. Es handelt sich um den Kampf um die Führerschaft — aber auch sonst um weiter nichts. Die polnischen revolutionären Condvttieri des neunzehnten Jahrhunderts, die bei allen Revolutionen dabei sein mußten, sind ausgestorben, an eine „polnische Revolution" denkt heute niemand mehr ernstlich, am

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/346>, abgerufen am 24.11.2024.