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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die naticmalliberale Partei

Regel als Grund dafür angegeben. In Hannover aber tritt andres erschwe¬
rend hinzu. Dort ist der Bund der Landwirte mehr als in jedem andern
Landesteil der Störenfried geworden, und zwar, obwohl im Bündnis mit dein
Welfentnm, unter der Konnivenz der königlichen Behörden. Altpreußische
Konservative werden seit längerer Zeit in den Beamtenstellnngen der Provinz
als Landräte und Regierungspräsidenten bevorzugt. Diese haben ihre alt¬
preußisch-konservativen Gesinnungen auf einen Boden verpflanzt, wo sie
nimmermehr Wurzeln schlagen können, sie sind dabei -- vielleicht auch in
einem mißverstcmdnen Eifer, der "Versöhnung" zu dienen -- in die Netze des
Welfentnms geraten. So bietet die Provinz seit einer Reihe von Jahren das
befremdende Bild, daß die Vertreter der Interessen des preußischen Staats und
der preußischen Krone ihre Sympathie und Unterstützung bei den Wahlen ganz
offen Gruppen zuwenden, die die preußische Herrschaft in Hannover für eine
Usurpation erklären, und den Herzog von Cumberland als den einzig recht¬
mäßigen Landesherr" ansehen. Die Partei dagegen, die seit 1866 die Stütze
der preußischen Regierung nicht nur im Lande, sondern auch im Landtag und
im Reichstag gewesen ist, sieht die Einflüsse der Behörden gegen sich gerichtet
und wirksam nnr zu Gunsten ihrer Geguer. Dein Fürsten Hohenlohe ist über
dieses Mißverhältnis wiederholt berichtet worden, Minister Miquel kannte es
in allen seinen Einzelheiten. Fürst Hohenlohe schüttelte den Kopf und machte sich
Notizen, die Mißbilligung Miquels, der ja mit den Verhältnissen und Persön¬
lichkeiten genau vertraut war, konnte kaum schärfer sein. Jeder Hannoveraner,
der über den Gang der Dinge in der Heimat bei ihm klagte, empfing die be¬
stimmtesten Zusagen und reiste hoffnungsvoll nach Hause. Aber es blieb alles,
wie es war. Als die Beseitigung des Regierungspräsidenten Stüve in Osna¬
brück drohte, erklärte Miquel, er werde das, so lange er Minister sei, nie zu¬
geben. Stüve ging, Miquel blieb. Kein Wunder, daß schließlich die national¬
liberale Partei in Hannover den Glauben verlor und verstimmt und entmutigt
zur Seite trat. Aber dieser Zustand darf nicht dauern. Der jüngste Wechsel
im Oberprüsidium der Provinz ist in der bestimmten Absicht erfolgt, das dor¬
tige Beamtentum aus der welfischen Umstrickung zu lösen, und der amtlichen
Gegnerschaft gegen die nationalliberale Partei ein Ende zu machen. Immerhin
bedarf der neue Oberprüsideut erst der persönlichen Orientierung, und bis jetzt
hat sich anscheinend noch nichts geändert.

Klar ist, daß es nicht im staatlichen Interesse läge, wenn ein national¬
liberaler Delegiertentag in Hannover durch berechtigten Unmut der dortigen
Parteigenossen beeinflußt würde. Dies um so weniger, als man an der lei¬
tenden Stelle in Berlin nicht darüber im Zweifel ist, daß in Hannover wohl
der Reichsgedanke starke Wurzeln geschlagen hat, daß aber preußische Gesin¬
nungen und preußisches Staatsgefühl in einem Lande mit so ausgeprägter
Stammeseigentümlichkeit sobald nicht oder doch nur in sehr mäßigem Umfang
zu erwarten sein werden. Je schwächer aber das preußische Staatsgefühl bleibt,
desto leichteres Spiel wird immer das Welfentum haben. Gewiß sind die
Behörden in Hannover des arten Glaubens gewesen, daß sie durch Betonen
konservativer Grundsätze sowohl die im allgemeinen sehr konservativ gerichtete


Die naticmalliberale Partei

Regel als Grund dafür angegeben. In Hannover aber tritt andres erschwe¬
rend hinzu. Dort ist der Bund der Landwirte mehr als in jedem andern
Landesteil der Störenfried geworden, und zwar, obwohl im Bündnis mit dein
Welfentnm, unter der Konnivenz der königlichen Behörden. Altpreußische
Konservative werden seit längerer Zeit in den Beamtenstellnngen der Provinz
als Landräte und Regierungspräsidenten bevorzugt. Diese haben ihre alt¬
preußisch-konservativen Gesinnungen auf einen Boden verpflanzt, wo sie
nimmermehr Wurzeln schlagen können, sie sind dabei — vielleicht auch in
einem mißverstcmdnen Eifer, der „Versöhnung" zu dienen — in die Netze des
Welfentnms geraten. So bietet die Provinz seit einer Reihe von Jahren das
befremdende Bild, daß die Vertreter der Interessen des preußischen Staats und
der preußischen Krone ihre Sympathie und Unterstützung bei den Wahlen ganz
offen Gruppen zuwenden, die die preußische Herrschaft in Hannover für eine
Usurpation erklären, und den Herzog von Cumberland als den einzig recht¬
mäßigen Landesherr« ansehen. Die Partei dagegen, die seit 1866 die Stütze
der preußischen Regierung nicht nur im Lande, sondern auch im Landtag und
im Reichstag gewesen ist, sieht die Einflüsse der Behörden gegen sich gerichtet
und wirksam nnr zu Gunsten ihrer Geguer. Dein Fürsten Hohenlohe ist über
dieses Mißverhältnis wiederholt berichtet worden, Minister Miquel kannte es
in allen seinen Einzelheiten. Fürst Hohenlohe schüttelte den Kopf und machte sich
Notizen, die Mißbilligung Miquels, der ja mit den Verhältnissen und Persön¬
lichkeiten genau vertraut war, konnte kaum schärfer sein. Jeder Hannoveraner,
der über den Gang der Dinge in der Heimat bei ihm klagte, empfing die be¬
stimmtesten Zusagen und reiste hoffnungsvoll nach Hause. Aber es blieb alles,
wie es war. Als die Beseitigung des Regierungspräsidenten Stüve in Osna¬
brück drohte, erklärte Miquel, er werde das, so lange er Minister sei, nie zu¬
geben. Stüve ging, Miquel blieb. Kein Wunder, daß schließlich die national¬
liberale Partei in Hannover den Glauben verlor und verstimmt und entmutigt
zur Seite trat. Aber dieser Zustand darf nicht dauern. Der jüngste Wechsel
im Oberprüsidium der Provinz ist in der bestimmten Absicht erfolgt, das dor¬
tige Beamtentum aus der welfischen Umstrickung zu lösen, und der amtlichen
Gegnerschaft gegen die nationalliberale Partei ein Ende zu machen. Immerhin
bedarf der neue Oberprüsideut erst der persönlichen Orientierung, und bis jetzt
hat sich anscheinend noch nichts geändert.

Klar ist, daß es nicht im staatlichen Interesse läge, wenn ein national¬
liberaler Delegiertentag in Hannover durch berechtigten Unmut der dortigen
Parteigenossen beeinflußt würde. Dies um so weniger, als man an der lei¬
tenden Stelle in Berlin nicht darüber im Zweifel ist, daß in Hannover wohl
der Reichsgedanke starke Wurzeln geschlagen hat, daß aber preußische Gesin¬
nungen und preußisches Staatsgefühl in einem Lande mit so ausgeprägter
Stammeseigentümlichkeit sobald nicht oder doch nur in sehr mäßigem Umfang
zu erwarten sein werden. Je schwächer aber das preußische Staatsgefühl bleibt,
desto leichteres Spiel wird immer das Welfentum haben. Gewiß sind die
Behörden in Hannover des arten Glaubens gewesen, daß sie durch Betonen
konservativer Grundsätze sowohl die im allgemeinen sehr konservativ gerichtete


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/266>, abgerufen am 24.11.2024.