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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

28 bis 35 Jahren und alle weiblichen in der Altersstufe von 18 bis 25 Jahren
haben sich zur Vollziehung der Geschlechtsverbindungen von zehn Uhr vormittags ab
einzufinden. Zur Deckung der Ausfalle sind zweihundert Paare zu küren/' Gegenüber
prangte ein andrer Anschlag mit der Aufforderung, alle Kinder im Alter von fünf
Jahren behufs definitiven Entscheids über ihre Züchtungseinordnung vorzustellen.

Ich wandte mich zur Rechten. In einem langgestreckten Saale, dessen Wände
mit Aktenschränken verdeckt waren, saßen in langen Reihen einander gegenüber
die Jünglinge und die Jungfrauen, alle mit Nummern versehen. Durch farbige
Abzeichen schieden sich einzelne Gruppen aus. Sie entsprachen den verschiednen
Klassen der Auslese. Nach diesen war die Rangordnung bestimmt. An der Quer¬
seite stand eine Tafel für die Kürherren. Da saßen sie, kahle Schädel, die auf¬
fallend breit und hoch waren, auf dürftig schmalen Schultern. Gewiß, bei ihnen
lag der Schwerpunkt des Lebens in der Intelligenz. Ihre Augen blickten scharf
und durchdringend, als schauten sie die Natur ohne Schleier.

Eben wurden zwei Nummern aufgerufen. Ein Jüngling und eine Jungfrau
erhoben sich, erstklassige Züchtungsprodukte. Stellen wir die Abstammung fest und
die politisch-anthropologischen Tatsachen der Züchtuugsperiode, sagte der Vorsitzende
rin eigentümlich näselnder matter Stimme. Er war offenbar von der schon ge¬
leisteten Arbeit recht abgespannt. Diener schleppten aus den Aktenschränken zwei
Faszikel heran. Es steht nichts im Wege, daß sie sich zusammentun, keine erbliche
Belastung, keine Naturdefekte. Wir dürfen hoffen, daß die Nasse durch ihre Mit¬
tätigkeit sich hebt. Die beiden reichten sich die Hände. Es wurde ihnen in Distrikt IV,
Straße 6, Haus 127 eine Familienwohnnng durch Zertifikat angewiesen, und sie
entfernten sich. Es folgte ein andres Paar. Hier ging die Entscheidung nicht so
glatt von statten. Beim männlichen Teil fanden sich Beanstandungen. In den
Züchtungsakten waren Spuren anthropologischer Geringwertigkeit vermerkt, ein ge¬
wisser Hang zur Absonderung, zu Träumereien. Er wurde zurückgestellt als un¬
geeignet, "im Züchtungsprozeß des Volkes anzubandeln (dem Staate neue Staats¬
bürger zuzuführen)." Eine andre Nummer ersetzte ihn, die sich als geeignet erwies.
Und so gings fort. An meiner Seite stand wieder der Graubart, mich still be¬
obachtend, als wäre er mein Mentor. Mir entschlüpfte, obgleich ich die Empfindung
hatte, ich müßte mich jeder Kritik enthalten, die Frage: Aber werden die Paare
denn so einfach zusammengetnn, ohne daß man nach ihrer Neigung fragt? Gewiß,
antwortete er mit überlegner Bestimmtheit. Die Neigung ergibt sich eben aus
der durch die Züchtung erzielten Gleichartigkeit der Lebenskräfte ganz von selber.

Wie einfach und wie einleuchtend! Aber wie wird diese Gleichartigkeit heraus¬
gearbeitet? Mich verlangte es, einen Blick zu tun in die Praxis des "biologischen
Auslesemcchanismus."

Das war ein andres Bild. In dichten Gruppen standen die Mütter mit
ihren Sprößlingen beieinander. Bis zum fünfte" Jahre nämlich bleiben die
Sprößlinge in der Pflege ihrer Erzeuger. Einer nach dem andern wurde nach
der Folge der ihnen zugeteilten Nummern vorgeführt, um nach seinen Qualitäten
eingeschätzt und dann den einzelnen Züchtungsabteilungeu zugewiesen zu werden.
Das geschah nach exakter Methode. Zuerst befragte man die Ursprungsregister,
um zu ermitteln, ob etwa Anzeichen erblicher Belastung oder spontaner Entartungen
vorlagen. Sodann wurde die Schädelmessung vorgenommen. Sie gab den Ent¬
scheid; denn ihr Verfahren war so vervollkommnet, daß mit mathematischer Sicher¬
heit aus der Schädelbildung und Schädelweite die Begabung und die Leistungs¬
fähigkeit des Kindes festgestellt werden konnte. Nur über die Art und Spannkraft
der Triebe, unter deren Einwirkung es stand, konnte man in Zweifel bleiben.
Aber im allgemeinen hatte die rationelle Überwachung der Fortpflanzung die Affekte,
die den atavistischer Kulturmenschen früher anhafteten, schon soweit gereinigt und
beseitigt, daß sie einem sichern Funktionieren des intellektuellen Mechanismus bei
erstklassiger Züchtungen nicht mehr hinderlich waren. Nur selten stieß man bei den
Messungen auf bestimmte Merkmale von "anthropologischem Proletariat."


Maßgebliches und Unmaßgebliches

28 bis 35 Jahren und alle weiblichen in der Altersstufe von 18 bis 25 Jahren
haben sich zur Vollziehung der Geschlechtsverbindungen von zehn Uhr vormittags ab
einzufinden. Zur Deckung der Ausfalle sind zweihundert Paare zu küren/' Gegenüber
prangte ein andrer Anschlag mit der Aufforderung, alle Kinder im Alter von fünf
Jahren behufs definitiven Entscheids über ihre Züchtungseinordnung vorzustellen.

Ich wandte mich zur Rechten. In einem langgestreckten Saale, dessen Wände
mit Aktenschränken verdeckt waren, saßen in langen Reihen einander gegenüber
die Jünglinge und die Jungfrauen, alle mit Nummern versehen. Durch farbige
Abzeichen schieden sich einzelne Gruppen aus. Sie entsprachen den verschiednen
Klassen der Auslese. Nach diesen war die Rangordnung bestimmt. An der Quer¬
seite stand eine Tafel für die Kürherren. Da saßen sie, kahle Schädel, die auf¬
fallend breit und hoch waren, auf dürftig schmalen Schultern. Gewiß, bei ihnen
lag der Schwerpunkt des Lebens in der Intelligenz. Ihre Augen blickten scharf
und durchdringend, als schauten sie die Natur ohne Schleier.

Eben wurden zwei Nummern aufgerufen. Ein Jüngling und eine Jungfrau
erhoben sich, erstklassige Züchtungsprodukte. Stellen wir die Abstammung fest und
die politisch-anthropologischen Tatsachen der Züchtuugsperiode, sagte der Vorsitzende
rin eigentümlich näselnder matter Stimme. Er war offenbar von der schon ge¬
leisteten Arbeit recht abgespannt. Diener schleppten aus den Aktenschränken zwei
Faszikel heran. Es steht nichts im Wege, daß sie sich zusammentun, keine erbliche
Belastung, keine Naturdefekte. Wir dürfen hoffen, daß die Nasse durch ihre Mit¬
tätigkeit sich hebt. Die beiden reichten sich die Hände. Es wurde ihnen in Distrikt IV,
Straße 6, Haus 127 eine Familienwohnnng durch Zertifikat angewiesen, und sie
entfernten sich. Es folgte ein andres Paar. Hier ging die Entscheidung nicht so
glatt von statten. Beim männlichen Teil fanden sich Beanstandungen. In den
Züchtungsakten waren Spuren anthropologischer Geringwertigkeit vermerkt, ein ge¬
wisser Hang zur Absonderung, zu Träumereien. Er wurde zurückgestellt als un¬
geeignet, „im Züchtungsprozeß des Volkes anzubandeln (dem Staate neue Staats¬
bürger zuzuführen)." Eine andre Nummer ersetzte ihn, die sich als geeignet erwies.
Und so gings fort. An meiner Seite stand wieder der Graubart, mich still be¬
obachtend, als wäre er mein Mentor. Mir entschlüpfte, obgleich ich die Empfindung
hatte, ich müßte mich jeder Kritik enthalten, die Frage: Aber werden die Paare
denn so einfach zusammengetnn, ohne daß man nach ihrer Neigung fragt? Gewiß,
antwortete er mit überlegner Bestimmtheit. Die Neigung ergibt sich eben aus
der durch die Züchtung erzielten Gleichartigkeit der Lebenskräfte ganz von selber.

Wie einfach und wie einleuchtend! Aber wie wird diese Gleichartigkeit heraus¬
gearbeitet? Mich verlangte es, einen Blick zu tun in die Praxis des „biologischen
Auslesemcchanismus."

Das war ein andres Bild. In dichten Gruppen standen die Mütter mit
ihren Sprößlingen beieinander. Bis zum fünfte» Jahre nämlich bleiben die
Sprößlinge in der Pflege ihrer Erzeuger. Einer nach dem andern wurde nach
der Folge der ihnen zugeteilten Nummern vorgeführt, um nach seinen Qualitäten
eingeschätzt und dann den einzelnen Züchtungsabteilungeu zugewiesen zu werden.
Das geschah nach exakter Methode. Zuerst befragte man die Ursprungsregister,
um zu ermitteln, ob etwa Anzeichen erblicher Belastung oder spontaner Entartungen
vorlagen. Sodann wurde die Schädelmessung vorgenommen. Sie gab den Ent¬
scheid; denn ihr Verfahren war so vervollkommnet, daß mit mathematischer Sicher¬
heit aus der Schädelbildung und Schädelweite die Begabung und die Leistungs¬
fähigkeit des Kindes festgestellt werden konnte. Nur über die Art und Spannkraft
der Triebe, unter deren Einwirkung es stand, konnte man in Zweifel bleiben.
Aber im allgemeinen hatte die rationelle Überwachung der Fortpflanzung die Affekte,
die den atavistischer Kulturmenschen früher anhafteten, schon soweit gereinigt und
beseitigt, daß sie einem sichern Funktionieren des intellektuellen Mechanismus bei
erstklassiger Züchtungen nicht mehr hinderlich waren. Nur selten stieß man bei den
Messungen auf bestimmte Merkmale von „anthropologischem Proletariat."


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[0246] Maßgebliches und Unmaßgebliches 28 bis 35 Jahren und alle weiblichen in der Altersstufe von 18 bis 25 Jahren haben sich zur Vollziehung der Geschlechtsverbindungen von zehn Uhr vormittags ab einzufinden. Zur Deckung der Ausfalle sind zweihundert Paare zu küren/' Gegenüber prangte ein andrer Anschlag mit der Aufforderung, alle Kinder im Alter von fünf Jahren behufs definitiven Entscheids über ihre Züchtungseinordnung vorzustellen. Ich wandte mich zur Rechten. In einem langgestreckten Saale, dessen Wände mit Aktenschränken verdeckt waren, saßen in langen Reihen einander gegenüber die Jünglinge und die Jungfrauen, alle mit Nummern versehen. Durch farbige Abzeichen schieden sich einzelne Gruppen aus. Sie entsprachen den verschiednen Klassen der Auslese. Nach diesen war die Rangordnung bestimmt. An der Quer¬ seite stand eine Tafel für die Kürherren. Da saßen sie, kahle Schädel, die auf¬ fallend breit und hoch waren, auf dürftig schmalen Schultern. Gewiß, bei ihnen lag der Schwerpunkt des Lebens in der Intelligenz. Ihre Augen blickten scharf und durchdringend, als schauten sie die Natur ohne Schleier. Eben wurden zwei Nummern aufgerufen. Ein Jüngling und eine Jungfrau erhoben sich, erstklassige Züchtungsprodukte. Stellen wir die Abstammung fest und die politisch-anthropologischen Tatsachen der Züchtuugsperiode, sagte der Vorsitzende rin eigentümlich näselnder matter Stimme. Er war offenbar von der schon ge¬ leisteten Arbeit recht abgespannt. Diener schleppten aus den Aktenschränken zwei Faszikel heran. Es steht nichts im Wege, daß sie sich zusammentun, keine erbliche Belastung, keine Naturdefekte. Wir dürfen hoffen, daß die Nasse durch ihre Mit¬ tätigkeit sich hebt. Die beiden reichten sich die Hände. Es wurde ihnen in Distrikt IV, Straße 6, Haus 127 eine Familienwohnnng durch Zertifikat angewiesen, und sie entfernten sich. Es folgte ein andres Paar. Hier ging die Entscheidung nicht so glatt von statten. Beim männlichen Teil fanden sich Beanstandungen. In den Züchtungsakten waren Spuren anthropologischer Geringwertigkeit vermerkt, ein ge¬ wisser Hang zur Absonderung, zu Träumereien. Er wurde zurückgestellt als un¬ geeignet, „im Züchtungsprozeß des Volkes anzubandeln (dem Staate neue Staats¬ bürger zuzuführen)." Eine andre Nummer ersetzte ihn, die sich als geeignet erwies. Und so gings fort. An meiner Seite stand wieder der Graubart, mich still be¬ obachtend, als wäre er mein Mentor. Mir entschlüpfte, obgleich ich die Empfindung hatte, ich müßte mich jeder Kritik enthalten, die Frage: Aber werden die Paare denn so einfach zusammengetnn, ohne daß man nach ihrer Neigung fragt? Gewiß, antwortete er mit überlegner Bestimmtheit. Die Neigung ergibt sich eben aus der durch die Züchtung erzielten Gleichartigkeit der Lebenskräfte ganz von selber. Wie einfach und wie einleuchtend! Aber wie wird diese Gleichartigkeit heraus¬ gearbeitet? Mich verlangte es, einen Blick zu tun in die Praxis des „biologischen Auslesemcchanismus." Das war ein andres Bild. In dichten Gruppen standen die Mütter mit ihren Sprößlingen beieinander. Bis zum fünfte» Jahre nämlich bleiben die Sprößlinge in der Pflege ihrer Erzeuger. Einer nach dem andern wurde nach der Folge der ihnen zugeteilten Nummern vorgeführt, um nach seinen Qualitäten eingeschätzt und dann den einzelnen Züchtungsabteilungeu zugewiesen zu werden. Das geschah nach exakter Methode. Zuerst befragte man die Ursprungsregister, um zu ermitteln, ob etwa Anzeichen erblicher Belastung oder spontaner Entartungen vorlagen. Sodann wurde die Schädelmessung vorgenommen. Sie gab den Ent¬ scheid; denn ihr Verfahren war so vervollkommnet, daß mit mathematischer Sicher¬ heit aus der Schädelbildung und Schädelweite die Begabung und die Leistungs¬ fähigkeit des Kindes festgestellt werden konnte. Nur über die Art und Spannkraft der Triebe, unter deren Einwirkung es stand, konnte man in Zweifel bleiben. Aber im allgemeinen hatte die rationelle Überwachung der Fortpflanzung die Affekte, die den atavistischer Kulturmenschen früher anhafteten, schon soweit gereinigt und beseitigt, daß sie einem sichern Funktionieren des intellektuellen Mechanismus bei erstklassiger Züchtungen nicht mehr hinderlich waren. Nur selten stieß man bei den Messungen auf bestimmte Merkmale von „anthropologischem Proletariat."

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/246>, abgerufen am 27.11.2024.