Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

hat sich auf Grund biblischer Andentungen eine Weltansicht gebildet, die man gnostisch
nennen darf, Joell sie ein Wissen vom Ünwißbaren zu sein beansprucht. Ihre Haupt-
dvgmata sind die folgenden. Ein Engel hat versucht, seine Abhängigkeit von Gott
zu durchbrechen, und dadurch den Frieden des Gottesreichs gestört. Der Kampf
zwischen Gott und seinem Widersacher dauert bis zum Ende der Zeiten. Gott
wollte den Teufel nicht vernichten, sondern nur ein Strafurteil an ihm vollzieh",
aber erst, nachdem die Frevelthat durch Gutthat ausgeglichen sein würde. Zu diesem
Zweck schuf er die Körperwelt mit dem Menschen. Denn daß die Schöpfung den
Zweck hätte, Gottes Liebe zu bethätigen, kann man bei der Unmasse von Elend
nicht glauben. Die Gntinachung -- Korrektur sagt Pestalozzi -- des Frevels muß
im Gehorsam bestehn. Der Mensch muß in den satanischen Frevel verstrickt werden
und die Verstrickung überwinden. Damit diese Überwindung vollständig sei, muß
dem Sudan Raum und Zeit gegeben werden, seine Macht vollständig zu entfalten.
Es ist ihm ein Zeitraum von 6000 Jahren und die ganze Menschheit zum Kampf¬
platz gegönnt worden. Die Menschenseele ist also Schauplatz des großen Weltdramas
und zugleich Werkzeug zur Überwindung Satans. Der Mensch hat keinen freien
Willen, sondern alles höhere Geistesleben ist Inspiration des Satans oder Gottes.
(Ein sehr berühmter Mann -- die Gelehrten wissen, wer er ist -- hat den Willen
ein Pferd genannt, das abwechselnd Gott und der Teufel reitet.) Der Übergang
aus dem teuflischen in den göttlichen Einflußbereich wird von der Schrift Wieder¬
geburt genannt. Die Taufe ist, wie schon die tägliche Erfahrung lehrt, keineswegs
das Bad der Wiedergeburt; lebt doch die Masse der Getauften nicht anders als
die Heiden. Da aber dem Satan niemand als Gott selbst gewachsen ist, so mußte
er selbst Mensch werden und durch Leiden und Tod seinen Gehorsam beweisen.
Nicht den Charakter eines Sühnopfers trägt der durch einen Justizmord herbei¬
geführte Tod Jesu, denn Gott hat durch die Propheten ausdrücklich verkündigt,
daß er blutige Opfer nicht mag, sondern nur der Gehorsam bis in den Tod ver¬
leiht ihm Wert. Deshalb ist die Idee des katholischen Meßopfers wie auch die
des protestantischen Abendmahls falsch, und auch schon Paulus hat in diesem Stück
geirrt? Gott verzeiht die Sünden ans Erbarmen; wenn er sich die Sündenschuld
bezahlen ließe, so bliebe für das Erbarmen kein Raum.

Ein großartiges Welttablean, das Menschen von einer bestimmten Eigen¬
tümlichkeit als Theorie und als Oricntiernugsplan für ihr Handeln genügen mag.
Den Lehrern des Volkes und der Jugend mochten wir seine Anerkennung nicht
empfehlen. Wir glauben, daß der "klügelnde Verstand" durch die Bekämpfung
des Dualismus der Menschheit eine große Wohlthat erwiesen hat. Werfen wir
einen Blick in die Schule, deren kleine Welt so ausschließlich auf dem Gehorsam
beruht, wie uach Pestalozzi die große! Die Büblein haben zuerst ihre Muttersprache
lesen und schreiben, dann fremde Sprachen, niedres und höheres Rechnen zu lernen.
Das ist kein Vergnüge" (Naturgeschichte, Geographie, Geschichte, Naturkunde, die
bereiten, wenn sie nicht gar zu ungeschickt angefaßt werdeu, an sich selbst Vergnügen),
sondern eine mühselige, auch mit körperlichen Beschwerden verbundne Arbeit. Dennoch
gelingt es ausgezeichneten Lehrern, daß alle ihre Schüler diese Arbeit willig ver¬
richten, und daß keiner sich der Sünde des Ungehorsams, der Auflehnung gegen
einen unbequemen Zwang schuldig macht. Sehr ungeschickte Lehrer dagegen haben
beständig über Rebellion zu klagen. Sie kämpfen mit Schlägen gegen den Wider¬
stand an und verstärken ihn dadurch. Und aus dem Haß, den der Krieg zwischen
Lehrern und Schülern auf beiden Seiten erzeugt, kriecht das giftige Gewürm von
einem Dutzend andern Sünden ans: Bosheit, Nachsucht, Grausamkeit, Schadenfreude,
Lüge, Verstellung, Betrug, Hinterlist. Wie in der Schule, so gehts in der Familie,
auf dem Gutshöfe, in der Werkstatt, im Kriegsheere, in der Gemeinde, in dem
Staat zu. Da haben wir also die ganz natürliche Entstehungsweise des Bösen und
brauchen keinen Teufel dazu! Daß kein vernünftiger und erfolgreicher Unterricht
möglich war, solange man die Ursache der Halsstarrigkeit und Faulheit der Schüler
im Teufel und in dem dnrch die Sünde verdorbnen Willen suchte, statt in der


Grenzboten IV 1S02 94
Maßgebliches und Unmaßgebliches

hat sich auf Grund biblischer Andentungen eine Weltansicht gebildet, die man gnostisch
nennen darf, Joell sie ein Wissen vom Ünwißbaren zu sein beansprucht. Ihre Haupt-
dvgmata sind die folgenden. Ein Engel hat versucht, seine Abhängigkeit von Gott
zu durchbrechen, und dadurch den Frieden des Gottesreichs gestört. Der Kampf
zwischen Gott und seinem Widersacher dauert bis zum Ende der Zeiten. Gott
wollte den Teufel nicht vernichten, sondern nur ein Strafurteil an ihm vollzieh»,
aber erst, nachdem die Frevelthat durch Gutthat ausgeglichen sein würde. Zu diesem
Zweck schuf er die Körperwelt mit dem Menschen. Denn daß die Schöpfung den
Zweck hätte, Gottes Liebe zu bethätigen, kann man bei der Unmasse von Elend
nicht glauben. Die Gntinachung — Korrektur sagt Pestalozzi — des Frevels muß
im Gehorsam bestehn. Der Mensch muß in den satanischen Frevel verstrickt werden
und die Verstrickung überwinden. Damit diese Überwindung vollständig sei, muß
dem Sudan Raum und Zeit gegeben werden, seine Macht vollständig zu entfalten.
Es ist ihm ein Zeitraum von 6000 Jahren und die ganze Menschheit zum Kampf¬
platz gegönnt worden. Die Menschenseele ist also Schauplatz des großen Weltdramas
und zugleich Werkzeug zur Überwindung Satans. Der Mensch hat keinen freien
Willen, sondern alles höhere Geistesleben ist Inspiration des Satans oder Gottes.
(Ein sehr berühmter Mann — die Gelehrten wissen, wer er ist — hat den Willen
ein Pferd genannt, das abwechselnd Gott und der Teufel reitet.) Der Übergang
aus dem teuflischen in den göttlichen Einflußbereich wird von der Schrift Wieder¬
geburt genannt. Die Taufe ist, wie schon die tägliche Erfahrung lehrt, keineswegs
das Bad der Wiedergeburt; lebt doch die Masse der Getauften nicht anders als
die Heiden. Da aber dem Satan niemand als Gott selbst gewachsen ist, so mußte
er selbst Mensch werden und durch Leiden und Tod seinen Gehorsam beweisen.
Nicht den Charakter eines Sühnopfers trägt der durch einen Justizmord herbei¬
geführte Tod Jesu, denn Gott hat durch die Propheten ausdrücklich verkündigt,
daß er blutige Opfer nicht mag, sondern nur der Gehorsam bis in den Tod ver¬
leiht ihm Wert. Deshalb ist die Idee des katholischen Meßopfers wie auch die
des protestantischen Abendmahls falsch, und auch schon Paulus hat in diesem Stück
geirrt? Gott verzeiht die Sünden ans Erbarmen; wenn er sich die Sündenschuld
bezahlen ließe, so bliebe für das Erbarmen kein Raum.

Ein großartiges Welttablean, das Menschen von einer bestimmten Eigen¬
tümlichkeit als Theorie und als Oricntiernugsplan für ihr Handeln genügen mag.
Den Lehrern des Volkes und der Jugend mochten wir seine Anerkennung nicht
empfehlen. Wir glauben, daß der „klügelnde Verstand" durch die Bekämpfung
des Dualismus der Menschheit eine große Wohlthat erwiesen hat. Werfen wir
einen Blick in die Schule, deren kleine Welt so ausschließlich auf dem Gehorsam
beruht, wie uach Pestalozzi die große! Die Büblein haben zuerst ihre Muttersprache
lesen und schreiben, dann fremde Sprachen, niedres und höheres Rechnen zu lernen.
Das ist kein Vergnüge» (Naturgeschichte, Geographie, Geschichte, Naturkunde, die
bereiten, wenn sie nicht gar zu ungeschickt angefaßt werdeu, an sich selbst Vergnügen),
sondern eine mühselige, auch mit körperlichen Beschwerden verbundne Arbeit. Dennoch
gelingt es ausgezeichneten Lehrern, daß alle ihre Schüler diese Arbeit willig ver¬
richten, und daß keiner sich der Sünde des Ungehorsams, der Auflehnung gegen
einen unbequemen Zwang schuldig macht. Sehr ungeschickte Lehrer dagegen haben
beständig über Rebellion zu klagen. Sie kämpfen mit Schlägen gegen den Wider¬
stand an und verstärken ihn dadurch. Und aus dem Haß, den der Krieg zwischen
Lehrern und Schülern auf beiden Seiten erzeugt, kriecht das giftige Gewürm von
einem Dutzend andern Sünden ans: Bosheit, Nachsucht, Grausamkeit, Schadenfreude,
Lüge, Verstellung, Betrug, Hinterlist. Wie in der Schule, so gehts in der Familie,
auf dem Gutshöfe, in der Werkstatt, im Kriegsheere, in der Gemeinde, in dem
Staat zu. Da haben wir also die ganz natürliche Entstehungsweise des Bösen und
brauchen keinen Teufel dazu! Daß kein vernünftiger und erfolgreicher Unterricht
möglich war, solange man die Ursache der Halsstarrigkeit und Faulheit der Schüler
im Teufel und in dem dnrch die Sünde verdorbnen Willen suchte, statt in der


Grenzboten IV 1S02 94
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0755" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239543"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_3571" prev="#ID_3570"> hat sich auf Grund biblischer Andentungen eine Weltansicht gebildet, die man gnostisch<lb/>
nennen darf, Joell sie ein Wissen vom Ünwißbaren zu sein beansprucht. Ihre Haupt-<lb/>
dvgmata sind die folgenden. Ein Engel hat versucht, seine Abhängigkeit von Gott<lb/>
zu durchbrechen, und dadurch den Frieden des Gottesreichs gestört. Der Kampf<lb/>
zwischen Gott und seinem Widersacher dauert bis zum Ende der Zeiten. Gott<lb/>
wollte den Teufel nicht vernichten, sondern nur ein Strafurteil an ihm vollzieh»,<lb/>
aber erst, nachdem die Frevelthat durch Gutthat ausgeglichen sein würde. Zu diesem<lb/>
Zweck schuf er die Körperwelt mit dem Menschen. Denn daß die Schöpfung den<lb/>
Zweck hätte, Gottes Liebe zu bethätigen, kann man bei der Unmasse von Elend<lb/>
nicht glauben. Die Gntinachung &#x2014; Korrektur sagt Pestalozzi &#x2014; des Frevels muß<lb/>
im Gehorsam bestehn. Der Mensch muß in den satanischen Frevel verstrickt werden<lb/>
und die Verstrickung überwinden. Damit diese Überwindung vollständig sei, muß<lb/>
dem Sudan Raum und Zeit gegeben werden, seine Macht vollständig zu entfalten.<lb/>
Es ist ihm ein Zeitraum von 6000 Jahren und die ganze Menschheit zum Kampf¬<lb/>
platz gegönnt worden. Die Menschenseele ist also Schauplatz des großen Weltdramas<lb/>
und zugleich Werkzeug zur Überwindung Satans. Der Mensch hat keinen freien<lb/>
Willen, sondern alles höhere Geistesleben ist Inspiration des Satans oder Gottes.<lb/>
(Ein sehr berühmter Mann &#x2014; die Gelehrten wissen, wer er ist &#x2014; hat den Willen<lb/>
ein Pferd genannt, das abwechselnd Gott und der Teufel reitet.) Der Übergang<lb/>
aus dem teuflischen in den göttlichen Einflußbereich wird von der Schrift Wieder¬<lb/>
geburt genannt. Die Taufe ist, wie schon die tägliche Erfahrung lehrt, keineswegs<lb/>
das Bad der Wiedergeburt; lebt doch die Masse der Getauften nicht anders als<lb/>
die Heiden. Da aber dem Satan niemand als Gott selbst gewachsen ist, so mußte<lb/>
er selbst Mensch werden und durch Leiden und Tod seinen Gehorsam beweisen.<lb/>
Nicht den Charakter eines Sühnopfers trägt der durch einen Justizmord herbei¬<lb/>
geführte Tod Jesu, denn Gott hat durch die Propheten ausdrücklich verkündigt,<lb/>
daß er blutige Opfer nicht mag, sondern nur der Gehorsam bis in den Tod ver¬<lb/>
leiht ihm Wert. Deshalb ist die Idee des katholischen Meßopfers wie auch die<lb/>
des protestantischen Abendmahls falsch, und auch schon Paulus hat in diesem Stück<lb/>
geirrt? Gott verzeiht die Sünden ans Erbarmen; wenn er sich die Sündenschuld<lb/>
bezahlen ließe, so bliebe für das Erbarmen kein Raum.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_3572" next="#ID_3573"> Ein großartiges Welttablean, das Menschen von einer bestimmten Eigen¬<lb/>
tümlichkeit als Theorie und als Oricntiernugsplan für ihr Handeln genügen mag.<lb/>
Den Lehrern des Volkes und der Jugend mochten wir seine Anerkennung nicht<lb/>
empfehlen. Wir glauben, daß der &#x201E;klügelnde Verstand" durch die Bekämpfung<lb/>
des Dualismus der Menschheit eine große Wohlthat erwiesen hat. Werfen wir<lb/>
einen Blick in die Schule, deren kleine Welt so ausschließlich auf dem Gehorsam<lb/>
beruht, wie uach Pestalozzi die große! Die Büblein haben zuerst ihre Muttersprache<lb/>
lesen und schreiben, dann fremde Sprachen, niedres und höheres Rechnen zu lernen.<lb/>
Das ist kein Vergnüge» (Naturgeschichte, Geographie, Geschichte, Naturkunde, die<lb/>
bereiten, wenn sie nicht gar zu ungeschickt angefaßt werdeu, an sich selbst Vergnügen),<lb/>
sondern eine mühselige, auch mit körperlichen Beschwerden verbundne Arbeit. Dennoch<lb/>
gelingt es ausgezeichneten Lehrern, daß alle ihre Schüler diese Arbeit willig ver¬<lb/>
richten, und daß keiner sich der Sünde des Ungehorsams, der Auflehnung gegen<lb/>
einen unbequemen Zwang schuldig macht. Sehr ungeschickte Lehrer dagegen haben<lb/>
beständig über Rebellion zu klagen. Sie kämpfen mit Schlägen gegen den Wider¬<lb/>
stand an und verstärken ihn dadurch. Und aus dem Haß, den der Krieg zwischen<lb/>
Lehrern und Schülern auf beiden Seiten erzeugt, kriecht das giftige Gewürm von<lb/>
einem Dutzend andern Sünden ans: Bosheit, Nachsucht, Grausamkeit, Schadenfreude,<lb/>
Lüge, Verstellung, Betrug, Hinterlist. Wie in der Schule, so gehts in der Familie,<lb/>
auf dem Gutshöfe, in der Werkstatt, im Kriegsheere, in der Gemeinde, in dem<lb/>
Staat zu. Da haben wir also die ganz natürliche Entstehungsweise des Bösen und<lb/>
brauchen keinen Teufel dazu! Daß kein vernünftiger und erfolgreicher Unterricht<lb/>
möglich war, solange man die Ursache der Halsstarrigkeit und Faulheit der Schüler<lb/>
im Teufel und in dem dnrch die Sünde verdorbnen Willen suchte, statt in der</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1S02 94</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0755] Maßgebliches und Unmaßgebliches hat sich auf Grund biblischer Andentungen eine Weltansicht gebildet, die man gnostisch nennen darf, Joell sie ein Wissen vom Ünwißbaren zu sein beansprucht. Ihre Haupt- dvgmata sind die folgenden. Ein Engel hat versucht, seine Abhängigkeit von Gott zu durchbrechen, und dadurch den Frieden des Gottesreichs gestört. Der Kampf zwischen Gott und seinem Widersacher dauert bis zum Ende der Zeiten. Gott wollte den Teufel nicht vernichten, sondern nur ein Strafurteil an ihm vollzieh», aber erst, nachdem die Frevelthat durch Gutthat ausgeglichen sein würde. Zu diesem Zweck schuf er die Körperwelt mit dem Menschen. Denn daß die Schöpfung den Zweck hätte, Gottes Liebe zu bethätigen, kann man bei der Unmasse von Elend nicht glauben. Die Gntinachung — Korrektur sagt Pestalozzi — des Frevels muß im Gehorsam bestehn. Der Mensch muß in den satanischen Frevel verstrickt werden und die Verstrickung überwinden. Damit diese Überwindung vollständig sei, muß dem Sudan Raum und Zeit gegeben werden, seine Macht vollständig zu entfalten. Es ist ihm ein Zeitraum von 6000 Jahren und die ganze Menschheit zum Kampf¬ platz gegönnt worden. Die Menschenseele ist also Schauplatz des großen Weltdramas und zugleich Werkzeug zur Überwindung Satans. Der Mensch hat keinen freien Willen, sondern alles höhere Geistesleben ist Inspiration des Satans oder Gottes. (Ein sehr berühmter Mann — die Gelehrten wissen, wer er ist — hat den Willen ein Pferd genannt, das abwechselnd Gott und der Teufel reitet.) Der Übergang aus dem teuflischen in den göttlichen Einflußbereich wird von der Schrift Wieder¬ geburt genannt. Die Taufe ist, wie schon die tägliche Erfahrung lehrt, keineswegs das Bad der Wiedergeburt; lebt doch die Masse der Getauften nicht anders als die Heiden. Da aber dem Satan niemand als Gott selbst gewachsen ist, so mußte er selbst Mensch werden und durch Leiden und Tod seinen Gehorsam beweisen. Nicht den Charakter eines Sühnopfers trägt der durch einen Justizmord herbei¬ geführte Tod Jesu, denn Gott hat durch die Propheten ausdrücklich verkündigt, daß er blutige Opfer nicht mag, sondern nur der Gehorsam bis in den Tod ver¬ leiht ihm Wert. Deshalb ist die Idee des katholischen Meßopfers wie auch die des protestantischen Abendmahls falsch, und auch schon Paulus hat in diesem Stück geirrt? Gott verzeiht die Sünden ans Erbarmen; wenn er sich die Sündenschuld bezahlen ließe, so bliebe für das Erbarmen kein Raum. Ein großartiges Welttablean, das Menschen von einer bestimmten Eigen¬ tümlichkeit als Theorie und als Oricntiernugsplan für ihr Handeln genügen mag. Den Lehrern des Volkes und der Jugend mochten wir seine Anerkennung nicht empfehlen. Wir glauben, daß der „klügelnde Verstand" durch die Bekämpfung des Dualismus der Menschheit eine große Wohlthat erwiesen hat. Werfen wir einen Blick in die Schule, deren kleine Welt so ausschließlich auf dem Gehorsam beruht, wie uach Pestalozzi die große! Die Büblein haben zuerst ihre Muttersprache lesen und schreiben, dann fremde Sprachen, niedres und höheres Rechnen zu lernen. Das ist kein Vergnüge» (Naturgeschichte, Geographie, Geschichte, Naturkunde, die bereiten, wenn sie nicht gar zu ungeschickt angefaßt werdeu, an sich selbst Vergnügen), sondern eine mühselige, auch mit körperlichen Beschwerden verbundne Arbeit. Dennoch gelingt es ausgezeichneten Lehrern, daß alle ihre Schüler diese Arbeit willig ver¬ richten, und daß keiner sich der Sünde des Ungehorsams, der Auflehnung gegen einen unbequemen Zwang schuldig macht. Sehr ungeschickte Lehrer dagegen haben beständig über Rebellion zu klagen. Sie kämpfen mit Schlägen gegen den Wider¬ stand an und verstärken ihn dadurch. Und aus dem Haß, den der Krieg zwischen Lehrern und Schülern auf beiden Seiten erzeugt, kriecht das giftige Gewürm von einem Dutzend andern Sünden ans: Bosheit, Nachsucht, Grausamkeit, Schadenfreude, Lüge, Verstellung, Betrug, Hinterlist. Wie in der Schule, so gehts in der Familie, auf dem Gutshöfe, in der Werkstatt, im Kriegsheere, in der Gemeinde, in dem Staat zu. Da haben wir also die ganz natürliche Entstehungsweise des Bösen und brauchen keinen Teufel dazu! Daß kein vernünftiger und erfolgreicher Unterricht möglich war, solange man die Ursache der Halsstarrigkeit und Faulheit der Schüler im Teufel und in dem dnrch die Sünde verdorbnen Willen suchte, statt in der Grenzboten IV 1S02 94

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/755
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/755>, abgerufen am 01.09.2024.