Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

zu Familien Gleichberechtigter, nicht zu Zwangsanstalten, in denen der Hausherr
kommandiert. Es war unbegreiflich, wie man diese Zwangsanstalt als den° Kinunel
auf Erden preisen konnte, und wie sich so viele Mädchen nichts bessres wünschten
als dies. Nein, Trndchen Leverkühn lobte sich ihre goldne Freiheit. Und so sah
sie mit überlegnem Wohlwollen auf ihre Kolleginnen herab, wenn sie unten aus der
Straße vorübergingen, ohne eine Ahnung zu haben, wie gut sie es haben könnten,
wenn sie Nationalökonomie auf rechnerischer Grundlage verstünden, und mit be¬
dauerndem Mitleid ans Frau Rektor Heinrich, wenn sie mit ihrer Kinderschar aus¬
zog. Man sah es allerdings der Frau Rektor an, das; sie eine schwere Last zu
schleppen hatte. Wenn aber Herr Gustav Vulpins mit einer Blume im Knopfloche
vorüberkam und schüchtern heraufgrüßte, so nahm sie eine wahrhaft erhabne Miene
um und dankte mit großer Zurückhaltung. Was fällt dem Menschen ein? sagte sie
zu sich. Fällt mir gar nicht ein, meine goldne Freiheit aufzugeben. Und überhaupt,
ein Seifensieder, wenn er anch ein ganz anständiger Mensch ist. Habe ich darum soviel
studiert, daß ich zuletzt Frau Seifensieder Vulpius werden sollte?

Auch die beiden andern Teilhaberinnen der Genossenschaft waren zufrieden.
Fräulein Eleonore Grvssi bekam Schülerinnen, und Fräulein Scherbitz rühmte sich
bor ihren Kolleginnen der nobeln Lage ihrer Wohnung, rauchte zu Hanse Zigaretten
und rückte ihre Stühle in eine tadellose Reihe.

Nur war der Himmel dieses Glückes doch nicht ganz wolkenlos. Jungfer
Antonie war nicht dazu zu bringen, die Küchenthür zu schließen, und so gab es
auf dem Korridor allerlei ordinäre Gerüche, was Trndchen durchaus nicht leiden konnte,
und was sie uur zu sehr an den Schuster im vierten Stock erinnerte. Jungfer
Antonie war zwar ihren eignen Reden nach ein Juwel, aber in Praxi ließ sie es doch
sehr an der Erfüllung ihrer Obliegenheiten fehlen. Zum Beispiel ans die Leiter steigen
und Fenster Putzen, das gab es nicht, das verbot ihr die Schamhaftigkeit durchaus.

Wer Putzte denn aber bei Oberpredigers die Fenster? fragte Trndchen.

Das that die Minna. Diese war aber ein Weltkind, entgegnete Antonie.

Auch hielt sie es für unziemlich, wenn Fräulein Grossi Hoiahoh und Hojottohoh
sang -- sie übte die Walkürenszene --, das seien unchristliche Töne, und bei Schloß-
Predigers sei so etwas nie gehört worden. Oder wenn Fräulein Scherbitz eine
Zigarette rauchte, oder wenn sich Trudcheu vor alleu Menschen draußen ans der
Straße in den Trinmphstnhl legte. Ja, diese Antonie fing an, eine wahre Thraunei
nusznüben, überall zu schulmeistern, in alles ihre Nase zu stecken und so zu thun,
mis wenn sie die Hauptperson im Hanse sei. Und wenn man ihr etwas sagte, so waren
ihre Ohren und ihr Verständnis gänzlich verschlossen. Was aber dabei das übelste
war, jedes der drei jungen Mädchen versteckte sich hinter dein andern. Eleonore Grossi
wütete, wenn sie mit den andern allein war, wenn sie aber der Antonie entgegen¬
treten sollte, verlor sie alles Walkürenhafte, Fräulein Scherbitz lehnte die Zumutung,
für die andern einzutreten, kühl ab, sie halte sich nicht für berechtigt, sich in die
Angelegenheiten andrer einzumischen, und Trndchen Leverkühn dachte seufzend um
ihren seligen Papa, der kurzen Prozeß gemacht haben würde. Und so kam man
nicht über einige bescheidne Vorstellungen hinaus, die auf die berühmte Antonie,
wie gesagt, gar keinen Eindruck machten. Und es zeigte sich die merkwürdige Ano¬
malie, daß der strenge Parallelismus von drei Kräften keinen Kraftzuwachs brachte,
oder mit andern Worten, daß drei junge Mädchen zusammen immer nur drei Hasen
blieben.

So verging ein Vierteljahr. Die Miete mußte bezahlt werden, was Trudcheu
Leverkühn, die den Mietkontrakt unterzeichnet hatte, zu vermitteln hatte. Fräulein
Scherbitz war die Pünktlichkeit selber gewesen. Aber die Grossi ließ nichts von
sich sehen. Schon war Mittag vorüber. Man blamierte sich tödlich, wenn die
Miete nicht auf die Minute bezahlt wurde. Trudcheu zitterte scho" vor Ungeduld.
Es blieb nichts andres übrig, als die säumige Freundin zu erinnern. Eleonore
Grossi that sehr unbefangen. Sie habe ebeu den kleinen Betrag nicht flüssig. Auch


zu Familien Gleichberechtigter, nicht zu Zwangsanstalten, in denen der Hausherr
kommandiert. Es war unbegreiflich, wie man diese Zwangsanstalt als den° Kinunel
auf Erden preisen konnte, und wie sich so viele Mädchen nichts bessres wünschten
als dies. Nein, Trndchen Leverkühn lobte sich ihre goldne Freiheit. Und so sah
sie mit überlegnem Wohlwollen auf ihre Kolleginnen herab, wenn sie unten aus der
Straße vorübergingen, ohne eine Ahnung zu haben, wie gut sie es haben könnten,
wenn sie Nationalökonomie auf rechnerischer Grundlage verstünden, und mit be¬
dauerndem Mitleid ans Frau Rektor Heinrich, wenn sie mit ihrer Kinderschar aus¬
zog. Man sah es allerdings der Frau Rektor an, das; sie eine schwere Last zu
schleppen hatte. Wenn aber Herr Gustav Vulpins mit einer Blume im Knopfloche
vorüberkam und schüchtern heraufgrüßte, so nahm sie eine wahrhaft erhabne Miene
um und dankte mit großer Zurückhaltung. Was fällt dem Menschen ein? sagte sie
zu sich. Fällt mir gar nicht ein, meine goldne Freiheit aufzugeben. Und überhaupt,
ein Seifensieder, wenn er anch ein ganz anständiger Mensch ist. Habe ich darum soviel
studiert, daß ich zuletzt Frau Seifensieder Vulpius werden sollte?

Auch die beiden andern Teilhaberinnen der Genossenschaft waren zufrieden.
Fräulein Eleonore Grvssi bekam Schülerinnen, und Fräulein Scherbitz rühmte sich
bor ihren Kolleginnen der nobeln Lage ihrer Wohnung, rauchte zu Hanse Zigaretten
und rückte ihre Stühle in eine tadellose Reihe.

Nur war der Himmel dieses Glückes doch nicht ganz wolkenlos. Jungfer
Antonie war nicht dazu zu bringen, die Küchenthür zu schließen, und so gab es
auf dem Korridor allerlei ordinäre Gerüche, was Trndchen durchaus nicht leiden konnte,
und was sie uur zu sehr an den Schuster im vierten Stock erinnerte. Jungfer
Antonie war zwar ihren eignen Reden nach ein Juwel, aber in Praxi ließ sie es doch
sehr an der Erfüllung ihrer Obliegenheiten fehlen. Zum Beispiel ans die Leiter steigen
und Fenster Putzen, das gab es nicht, das verbot ihr die Schamhaftigkeit durchaus.

Wer Putzte denn aber bei Oberpredigers die Fenster? fragte Trndchen.

Das that die Minna. Diese war aber ein Weltkind, entgegnete Antonie.

Auch hielt sie es für unziemlich, wenn Fräulein Grossi Hoiahoh und Hojottohoh
sang — sie übte die Walkürenszene —, das seien unchristliche Töne, und bei Schloß-
Predigers sei so etwas nie gehört worden. Oder wenn Fräulein Scherbitz eine
Zigarette rauchte, oder wenn sich Trudcheu vor alleu Menschen draußen ans der
Straße in den Trinmphstnhl legte. Ja, diese Antonie fing an, eine wahre Thraunei
nusznüben, überall zu schulmeistern, in alles ihre Nase zu stecken und so zu thun,
mis wenn sie die Hauptperson im Hanse sei. Und wenn man ihr etwas sagte, so waren
ihre Ohren und ihr Verständnis gänzlich verschlossen. Was aber dabei das übelste
war, jedes der drei jungen Mädchen versteckte sich hinter dein andern. Eleonore Grossi
wütete, wenn sie mit den andern allein war, wenn sie aber der Antonie entgegen¬
treten sollte, verlor sie alles Walkürenhafte, Fräulein Scherbitz lehnte die Zumutung,
für die andern einzutreten, kühl ab, sie halte sich nicht für berechtigt, sich in die
Angelegenheiten andrer einzumischen, und Trndchen Leverkühn dachte seufzend um
ihren seligen Papa, der kurzen Prozeß gemacht haben würde. Und so kam man
nicht über einige bescheidne Vorstellungen hinaus, die auf die berühmte Antonie,
wie gesagt, gar keinen Eindruck machten. Und es zeigte sich die merkwürdige Ano¬
malie, daß der strenge Parallelismus von drei Kräften keinen Kraftzuwachs brachte,
oder mit andern Worten, daß drei junge Mädchen zusammen immer nur drei Hasen
blieben.

So verging ein Vierteljahr. Die Miete mußte bezahlt werden, was Trudcheu
Leverkühn, die den Mietkontrakt unterzeichnet hatte, zu vermitteln hatte. Fräulein
Scherbitz war die Pünktlichkeit selber gewesen. Aber die Grossi ließ nichts von
sich sehen. Schon war Mittag vorüber. Man blamierte sich tödlich, wenn die
Miete nicht auf die Minute bezahlt wurde. Trudcheu zitterte scho« vor Ungeduld.
Es blieb nichts andres übrig, als die säumige Freundin zu erinnern. Eleonore
Grossi that sehr unbefangen. Sie habe ebeu den kleinen Betrag nicht flüssig. Auch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0743" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239531"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_3488" prev="#ID_3487"> zu Familien Gleichberechtigter, nicht zu Zwangsanstalten, in denen der Hausherr<lb/>
kommandiert. Es war unbegreiflich, wie man diese Zwangsanstalt als den° Kinunel<lb/>
auf Erden preisen konnte, und wie sich so viele Mädchen nichts bessres wünschten<lb/>
als dies. Nein, Trndchen Leverkühn lobte sich ihre goldne Freiheit. Und so sah<lb/>
sie mit überlegnem Wohlwollen auf ihre Kolleginnen herab, wenn sie unten aus der<lb/>
Straße vorübergingen, ohne eine Ahnung zu haben, wie gut sie es haben könnten,<lb/>
wenn sie Nationalökonomie auf rechnerischer Grundlage verstünden, und mit be¬<lb/>
dauerndem Mitleid ans Frau Rektor Heinrich, wenn sie mit ihrer Kinderschar aus¬<lb/>
zog. Man sah es allerdings der Frau Rektor an, das; sie eine schwere Last zu<lb/>
schleppen hatte. Wenn aber Herr Gustav Vulpins mit einer Blume im Knopfloche<lb/>
vorüberkam und schüchtern heraufgrüßte, so nahm sie eine wahrhaft erhabne Miene<lb/>
um und dankte mit großer Zurückhaltung. Was fällt dem Menschen ein? sagte sie<lb/>
zu sich. Fällt mir gar nicht ein, meine goldne Freiheit aufzugeben. Und überhaupt,<lb/>
ein Seifensieder, wenn er anch ein ganz anständiger Mensch ist. Habe ich darum soviel<lb/>
studiert, daß ich zuletzt Frau Seifensieder Vulpius werden sollte?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3489"> Auch die beiden andern Teilhaberinnen der Genossenschaft waren zufrieden.<lb/>
Fräulein Eleonore Grvssi bekam Schülerinnen, und Fräulein Scherbitz rühmte sich<lb/>
bor ihren Kolleginnen der nobeln Lage ihrer Wohnung, rauchte zu Hanse Zigaretten<lb/>
und rückte ihre Stühle in eine tadellose Reihe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3490"> Nur war der Himmel dieses Glückes doch nicht ganz wolkenlos. Jungfer<lb/>
Antonie war nicht dazu zu bringen, die Küchenthür zu schließen, und so gab es<lb/>
auf dem Korridor allerlei ordinäre Gerüche, was Trndchen durchaus nicht leiden konnte,<lb/>
und was sie uur zu sehr an den Schuster im vierten Stock erinnerte. Jungfer<lb/>
Antonie war zwar ihren eignen Reden nach ein Juwel, aber in Praxi ließ sie es doch<lb/>
sehr an der Erfüllung ihrer Obliegenheiten fehlen. Zum Beispiel ans die Leiter steigen<lb/>
und Fenster Putzen, das gab es nicht, das verbot ihr die Schamhaftigkeit durchaus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3491"> Wer Putzte denn aber bei Oberpredigers die Fenster? fragte Trndchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3492"> Das that die Minna.  Diese war aber ein Weltkind, entgegnete Antonie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3493"> Auch hielt sie es für unziemlich, wenn Fräulein Grossi Hoiahoh und Hojottohoh<lb/>
sang &#x2014; sie übte die Walkürenszene &#x2014;, das seien unchristliche Töne, und bei Schloß-<lb/>
Predigers sei so etwas nie gehört worden.  Oder wenn Fräulein Scherbitz eine<lb/>
Zigarette rauchte, oder wenn sich Trudcheu vor alleu Menschen draußen ans der<lb/>
Straße in den Trinmphstnhl legte. Ja, diese Antonie fing an, eine wahre Thraunei<lb/>
nusznüben, überall zu schulmeistern, in alles ihre Nase zu stecken und so zu thun,<lb/>
mis wenn sie die Hauptperson im Hanse sei. Und wenn man ihr etwas sagte, so waren<lb/>
ihre Ohren und ihr Verständnis gänzlich verschlossen. Was aber dabei das übelste<lb/>
war, jedes der drei jungen Mädchen versteckte sich hinter dein andern. Eleonore Grossi<lb/>
wütete, wenn sie mit den andern allein war, wenn sie aber der Antonie entgegen¬<lb/>
treten sollte, verlor sie alles Walkürenhafte, Fräulein Scherbitz lehnte die Zumutung,<lb/>
für die andern einzutreten, kühl ab, sie halte sich nicht für berechtigt, sich in die<lb/>
Angelegenheiten andrer einzumischen, und Trndchen Leverkühn dachte seufzend um<lb/>
ihren seligen Papa, der kurzen Prozeß gemacht haben würde.  Und so kam man<lb/>
nicht über einige bescheidne Vorstellungen hinaus, die auf die berühmte Antonie,<lb/>
wie gesagt, gar keinen Eindruck machten. Und es zeigte sich die merkwürdige Ano¬<lb/>
malie, daß der strenge Parallelismus von drei Kräften keinen Kraftzuwachs brachte,<lb/>
oder mit andern Worten, daß drei junge Mädchen zusammen immer nur drei Hasen<lb/>
blieben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3494" next="#ID_3495"> So verging ein Vierteljahr. Die Miete mußte bezahlt werden, was Trudcheu<lb/>
Leverkühn, die den Mietkontrakt unterzeichnet hatte, zu vermitteln hatte. Fräulein<lb/>
Scherbitz war die Pünktlichkeit selber gewesen. Aber die Grossi ließ nichts von<lb/>
sich sehen. Schon war Mittag vorüber. Man blamierte sich tödlich, wenn die<lb/>
Miete nicht auf die Minute bezahlt wurde. Trudcheu zitterte scho« vor Ungeduld.<lb/>
Es blieb nichts andres übrig, als die säumige Freundin zu erinnern. Eleonore<lb/>
Grossi that sehr unbefangen. Sie habe ebeu den kleinen Betrag nicht flüssig. Auch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0743] zu Familien Gleichberechtigter, nicht zu Zwangsanstalten, in denen der Hausherr kommandiert. Es war unbegreiflich, wie man diese Zwangsanstalt als den° Kinunel auf Erden preisen konnte, und wie sich so viele Mädchen nichts bessres wünschten als dies. Nein, Trndchen Leverkühn lobte sich ihre goldne Freiheit. Und so sah sie mit überlegnem Wohlwollen auf ihre Kolleginnen herab, wenn sie unten aus der Straße vorübergingen, ohne eine Ahnung zu haben, wie gut sie es haben könnten, wenn sie Nationalökonomie auf rechnerischer Grundlage verstünden, und mit be¬ dauerndem Mitleid ans Frau Rektor Heinrich, wenn sie mit ihrer Kinderschar aus¬ zog. Man sah es allerdings der Frau Rektor an, das; sie eine schwere Last zu schleppen hatte. Wenn aber Herr Gustav Vulpins mit einer Blume im Knopfloche vorüberkam und schüchtern heraufgrüßte, so nahm sie eine wahrhaft erhabne Miene um und dankte mit großer Zurückhaltung. Was fällt dem Menschen ein? sagte sie zu sich. Fällt mir gar nicht ein, meine goldne Freiheit aufzugeben. Und überhaupt, ein Seifensieder, wenn er anch ein ganz anständiger Mensch ist. Habe ich darum soviel studiert, daß ich zuletzt Frau Seifensieder Vulpius werden sollte? Auch die beiden andern Teilhaberinnen der Genossenschaft waren zufrieden. Fräulein Eleonore Grvssi bekam Schülerinnen, und Fräulein Scherbitz rühmte sich bor ihren Kolleginnen der nobeln Lage ihrer Wohnung, rauchte zu Hanse Zigaretten und rückte ihre Stühle in eine tadellose Reihe. Nur war der Himmel dieses Glückes doch nicht ganz wolkenlos. Jungfer Antonie war nicht dazu zu bringen, die Küchenthür zu schließen, und so gab es auf dem Korridor allerlei ordinäre Gerüche, was Trndchen durchaus nicht leiden konnte, und was sie uur zu sehr an den Schuster im vierten Stock erinnerte. Jungfer Antonie war zwar ihren eignen Reden nach ein Juwel, aber in Praxi ließ sie es doch sehr an der Erfüllung ihrer Obliegenheiten fehlen. Zum Beispiel ans die Leiter steigen und Fenster Putzen, das gab es nicht, das verbot ihr die Schamhaftigkeit durchaus. Wer Putzte denn aber bei Oberpredigers die Fenster? fragte Trndchen. Das that die Minna. Diese war aber ein Weltkind, entgegnete Antonie. Auch hielt sie es für unziemlich, wenn Fräulein Grossi Hoiahoh und Hojottohoh sang — sie übte die Walkürenszene —, das seien unchristliche Töne, und bei Schloß- Predigers sei so etwas nie gehört worden. Oder wenn Fräulein Scherbitz eine Zigarette rauchte, oder wenn sich Trudcheu vor alleu Menschen draußen ans der Straße in den Trinmphstnhl legte. Ja, diese Antonie fing an, eine wahre Thraunei nusznüben, überall zu schulmeistern, in alles ihre Nase zu stecken und so zu thun, mis wenn sie die Hauptperson im Hanse sei. Und wenn man ihr etwas sagte, so waren ihre Ohren und ihr Verständnis gänzlich verschlossen. Was aber dabei das übelste war, jedes der drei jungen Mädchen versteckte sich hinter dein andern. Eleonore Grossi wütete, wenn sie mit den andern allein war, wenn sie aber der Antonie entgegen¬ treten sollte, verlor sie alles Walkürenhafte, Fräulein Scherbitz lehnte die Zumutung, für die andern einzutreten, kühl ab, sie halte sich nicht für berechtigt, sich in die Angelegenheiten andrer einzumischen, und Trndchen Leverkühn dachte seufzend um ihren seligen Papa, der kurzen Prozeß gemacht haben würde. Und so kam man nicht über einige bescheidne Vorstellungen hinaus, die auf die berühmte Antonie, wie gesagt, gar keinen Eindruck machten. Und es zeigte sich die merkwürdige Ano¬ malie, daß der strenge Parallelismus von drei Kräften keinen Kraftzuwachs brachte, oder mit andern Worten, daß drei junge Mädchen zusammen immer nur drei Hasen blieben. So verging ein Vierteljahr. Die Miete mußte bezahlt werden, was Trudcheu Leverkühn, die den Mietkontrakt unterzeichnet hatte, zu vermitteln hatte. Fräulein Scherbitz war die Pünktlichkeit selber gewesen. Aber die Grossi ließ nichts von sich sehen. Schon war Mittag vorüber. Man blamierte sich tödlich, wenn die Miete nicht auf die Minute bezahlt wurde. Trudcheu zitterte scho« vor Ungeduld. Es blieb nichts andres übrig, als die säumige Freundin zu erinnern. Eleonore Grossi that sehr unbefangen. Sie habe ebeu den kleinen Betrag nicht flüssig. Auch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/743
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/743>, abgerufen am 01.09.2024.