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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Erinnerungen aus dein polnischen Insurrektionskriege

Führer und liefen davon, oder sie warfen sich in die Wälder und trieben dort
noch als Räuberbanden eine Zeit lang ihr Unwesen.

Schon auf dem Marsche unsers Bataillons nach dem Rendezvonsplatz, wo
der geschlossenen Kapitulation gemäß die gesamte polnische Jnsnrgentenarmee angesichts
der preußischen Truppen die Waffen strecken sollte, fiel eine solche Bande von etwa
zehn bis zwölf Strolchen in unsre Hände, die in ihrer tierischen Verwilderung
einen entsetzlichen Eindruck machte. Unser Major v. G. drohte, an ihnen ein furcht¬
bares Beispiel aufzustellen. Er ließ die Strolche auf einem Ackerstück an der
Landstraße niederkauern und kündigte ihnen an, daß sie durch ihren wiederholten
Treubruch die Todesstrafe verwirkt hätten, die auch sogleich an ihnen vollstreckt
werden sollte. Vorher ließ er ihre Personalien aufnehmen. Dabei ergab sich, daß
einer der Gefangnen Schuhmacher von Gewerbe war. Als der Major dies erfuhr,
beschloß er, mit diesem eine Ausnahme zu machen, da "das ehrbare Schuhmacher¬
gewerbe ohnehin selten" werde. Die Vollstreckung des Todesurteils an ihm sollte
vorläufig sistiert werden; dafür sollte er sogleich ein Probestück seiner Geschicklichkeit
ablegen und ein Paar wasserdichte Stiefel für ihn anfertigen. Er ließ sich auf
der Stelle Maß dazu nehmen, ließ Material und Handwerkszeug durch einen Capi-
taine d'armes herbeibringen und hieß den Gefangnen sich in den Straßengraben
niedersetzen und unter Bewachung eines Postens mit gespanntem Gewehr sofort
seine Arbeit beginnen. Wenn er binnen zwei Stunden fertig wäre und die Stiefel
sich in der That als wasserdicht bewährten, sollte er begnadigt, im andern Falle
aber "erst recht" totgeschossen werden, weil "ein Mensch, der nicht einmal sein Ge¬
werbe verstehe, auf der Welt zu nichts nütze" sei. Während der geängstigte Schuh¬
macher ans Werk ging, begab sich der Major zu seinen übrigen Gefangnen zurück
und ließ uuter Umkehrung ihrer Taschen ihren Vermögensbestand feststellen. Es
ergab sich, daß die meisten nur im Besitz einiger Kupfermünzen waren, während
andre gar nichts hatten. Nur einer, der Schreiber auf dem Gute eines polnischen
Edelmanns gewesen war, hatte eine gefüllte Börse, in der sich über fünfzig Thaler
vorfanden. "Ihr wollt Gütergleichheit haben -- sagte v. G- --, vor euerm Tode
soll sie euch werden," und ließ sogleich das Teilnngsexempel machen. Damit konnte
die Mehrzahl freilich einverstanden sein, und die vor Todesangst fast erstarrten
Gesichtszüge der gefangnen Strolche belebten sich noch einmal mit unheimlichem
Leuchten, als sie ihre Finger nach dem ihnen zugewiesenen Anteil an dem "Gemein¬
gut" ausstreckten, sie wußten nnn ja, daß sie nicht ganz ohne bare Habe zum Himmel
oder zur Hölle zu fahren brauchten.

Der Schuhmacher im Straßengraben hatte sich unterdessen sehr beeilt, durch
Herstellung der wasserdichten Stiefel sein Leben in Sicherheit zu bringen. Noch
ehe die gesetzte Zeit abgelaufen war, waren die Stiefel fertig, allerdings etwas
plump aussehend, aber sie hielten die Probe ans, ließen keinen Tropfen Wasser durch-
Der Major v. G. zog die Stiefel sogleich an und nickte ihrem Verfertiger seine
Zufriedenheit zu, worauf dieser, eingedenk des erhnltnen Versprechens, sich anschickte,
eiligst die Flucht zu ergreifen. "Halt! so war das nicht gemeint," rief der Major,
aber in den plumpen, hochschaftigen Stiefeln mußte er jede" Versuch, ihm nachzu¬
setzen, als vergeblich einstellen, und der Schuster wäre entwischt, hätten nicht auf
den Wink des Majors einige von den umstehenden Mannschaften ihn wieder er¬
griffen und zurückgebracht. "So war das nicht gemeint, rief der Major ihm zu,
als er zitternd wieder vor seinen Augen stand. Glaubt Er, daß ich, der Major
v. G., mir ein Paar Stiefel bei Ihm bestellen werde, ohne die Rechnung zu be¬
zahlen? Hier, nehm Er meine Schuldigkeit mit, und werde Er lieber ein ehrlicher
Schuster als ein Strauchdieb!" -- Verwundert strich der Schuster den aufgezählten
Arbeitslohn mit höflichem Dank ein und zog daun ungehindert vergnügt seines
Weges.

Diese Freilassung ihres frühern Spießgenossen weckte neue Lebenshoffnung auch
in den übrigen, die noch immer von einer Sektion mit gespannten Gewehren be¬
wacht wurden. Als der Major wieder zu ihnen zurückkehrte, umfaßten sie gunde-
flcheud seine Kniee. Der Major, der im Ernst wohl nie daran gedacht hatte,


Erinnerungen aus dein polnischen Insurrektionskriege

Führer und liefen davon, oder sie warfen sich in die Wälder und trieben dort
noch als Räuberbanden eine Zeit lang ihr Unwesen.

Schon auf dem Marsche unsers Bataillons nach dem Rendezvonsplatz, wo
der geschlossenen Kapitulation gemäß die gesamte polnische Jnsnrgentenarmee angesichts
der preußischen Truppen die Waffen strecken sollte, fiel eine solche Bande von etwa
zehn bis zwölf Strolchen in unsre Hände, die in ihrer tierischen Verwilderung
einen entsetzlichen Eindruck machte. Unser Major v. G. drohte, an ihnen ein furcht¬
bares Beispiel aufzustellen. Er ließ die Strolche auf einem Ackerstück an der
Landstraße niederkauern und kündigte ihnen an, daß sie durch ihren wiederholten
Treubruch die Todesstrafe verwirkt hätten, die auch sogleich an ihnen vollstreckt
werden sollte. Vorher ließ er ihre Personalien aufnehmen. Dabei ergab sich, daß
einer der Gefangnen Schuhmacher von Gewerbe war. Als der Major dies erfuhr,
beschloß er, mit diesem eine Ausnahme zu machen, da „das ehrbare Schuhmacher¬
gewerbe ohnehin selten" werde. Die Vollstreckung des Todesurteils an ihm sollte
vorläufig sistiert werden; dafür sollte er sogleich ein Probestück seiner Geschicklichkeit
ablegen und ein Paar wasserdichte Stiefel für ihn anfertigen. Er ließ sich auf
der Stelle Maß dazu nehmen, ließ Material und Handwerkszeug durch einen Capi-
taine d'armes herbeibringen und hieß den Gefangnen sich in den Straßengraben
niedersetzen und unter Bewachung eines Postens mit gespanntem Gewehr sofort
seine Arbeit beginnen. Wenn er binnen zwei Stunden fertig wäre und die Stiefel
sich in der That als wasserdicht bewährten, sollte er begnadigt, im andern Falle
aber „erst recht" totgeschossen werden, weil „ein Mensch, der nicht einmal sein Ge¬
werbe verstehe, auf der Welt zu nichts nütze" sei. Während der geängstigte Schuh¬
macher ans Werk ging, begab sich der Major zu seinen übrigen Gefangnen zurück
und ließ uuter Umkehrung ihrer Taschen ihren Vermögensbestand feststellen. Es
ergab sich, daß die meisten nur im Besitz einiger Kupfermünzen waren, während
andre gar nichts hatten. Nur einer, der Schreiber auf dem Gute eines polnischen
Edelmanns gewesen war, hatte eine gefüllte Börse, in der sich über fünfzig Thaler
vorfanden. „Ihr wollt Gütergleichheit haben — sagte v. G- —, vor euerm Tode
soll sie euch werden," und ließ sogleich das Teilnngsexempel machen. Damit konnte
die Mehrzahl freilich einverstanden sein, und die vor Todesangst fast erstarrten
Gesichtszüge der gefangnen Strolche belebten sich noch einmal mit unheimlichem
Leuchten, als sie ihre Finger nach dem ihnen zugewiesenen Anteil an dem „Gemein¬
gut" ausstreckten, sie wußten nnn ja, daß sie nicht ganz ohne bare Habe zum Himmel
oder zur Hölle zu fahren brauchten.

Der Schuhmacher im Straßengraben hatte sich unterdessen sehr beeilt, durch
Herstellung der wasserdichten Stiefel sein Leben in Sicherheit zu bringen. Noch
ehe die gesetzte Zeit abgelaufen war, waren die Stiefel fertig, allerdings etwas
plump aussehend, aber sie hielten die Probe ans, ließen keinen Tropfen Wasser durch-
Der Major v. G. zog die Stiefel sogleich an und nickte ihrem Verfertiger seine
Zufriedenheit zu, worauf dieser, eingedenk des erhnltnen Versprechens, sich anschickte,
eiligst die Flucht zu ergreifen. „Halt! so war das nicht gemeint," rief der Major,
aber in den plumpen, hochschaftigen Stiefeln mußte er jede» Versuch, ihm nachzu¬
setzen, als vergeblich einstellen, und der Schuster wäre entwischt, hätten nicht auf
den Wink des Majors einige von den umstehenden Mannschaften ihn wieder er¬
griffen und zurückgebracht. „So war das nicht gemeint, rief der Major ihm zu,
als er zitternd wieder vor seinen Augen stand. Glaubt Er, daß ich, der Major
v. G., mir ein Paar Stiefel bei Ihm bestellen werde, ohne die Rechnung zu be¬
zahlen? Hier, nehm Er meine Schuldigkeit mit, und werde Er lieber ein ehrlicher
Schuster als ein Strauchdieb!" — Verwundert strich der Schuster den aufgezählten
Arbeitslohn mit höflichem Dank ein und zog daun ungehindert vergnügt seines
Weges.

Diese Freilassung ihres frühern Spießgenossen weckte neue Lebenshoffnung auch
in den übrigen, die noch immer von einer Sektion mit gespannten Gewehren be¬
wacht wurden. Als der Major wieder zu ihnen zurückkehrte, umfaßten sie gunde-
flcheud seine Kniee. Der Major, der im Ernst wohl nie daran gedacht hatte,


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[0682] Erinnerungen aus dein polnischen Insurrektionskriege Führer und liefen davon, oder sie warfen sich in die Wälder und trieben dort noch als Räuberbanden eine Zeit lang ihr Unwesen. Schon auf dem Marsche unsers Bataillons nach dem Rendezvonsplatz, wo der geschlossenen Kapitulation gemäß die gesamte polnische Jnsnrgentenarmee angesichts der preußischen Truppen die Waffen strecken sollte, fiel eine solche Bande von etwa zehn bis zwölf Strolchen in unsre Hände, die in ihrer tierischen Verwilderung einen entsetzlichen Eindruck machte. Unser Major v. G. drohte, an ihnen ein furcht¬ bares Beispiel aufzustellen. Er ließ die Strolche auf einem Ackerstück an der Landstraße niederkauern und kündigte ihnen an, daß sie durch ihren wiederholten Treubruch die Todesstrafe verwirkt hätten, die auch sogleich an ihnen vollstreckt werden sollte. Vorher ließ er ihre Personalien aufnehmen. Dabei ergab sich, daß einer der Gefangnen Schuhmacher von Gewerbe war. Als der Major dies erfuhr, beschloß er, mit diesem eine Ausnahme zu machen, da „das ehrbare Schuhmacher¬ gewerbe ohnehin selten" werde. Die Vollstreckung des Todesurteils an ihm sollte vorläufig sistiert werden; dafür sollte er sogleich ein Probestück seiner Geschicklichkeit ablegen und ein Paar wasserdichte Stiefel für ihn anfertigen. Er ließ sich auf der Stelle Maß dazu nehmen, ließ Material und Handwerkszeug durch einen Capi- taine d'armes herbeibringen und hieß den Gefangnen sich in den Straßengraben niedersetzen und unter Bewachung eines Postens mit gespanntem Gewehr sofort seine Arbeit beginnen. Wenn er binnen zwei Stunden fertig wäre und die Stiefel sich in der That als wasserdicht bewährten, sollte er begnadigt, im andern Falle aber „erst recht" totgeschossen werden, weil „ein Mensch, der nicht einmal sein Ge¬ werbe verstehe, auf der Welt zu nichts nütze" sei. Während der geängstigte Schuh¬ macher ans Werk ging, begab sich der Major zu seinen übrigen Gefangnen zurück und ließ uuter Umkehrung ihrer Taschen ihren Vermögensbestand feststellen. Es ergab sich, daß die meisten nur im Besitz einiger Kupfermünzen waren, während andre gar nichts hatten. Nur einer, der Schreiber auf dem Gute eines polnischen Edelmanns gewesen war, hatte eine gefüllte Börse, in der sich über fünfzig Thaler vorfanden. „Ihr wollt Gütergleichheit haben — sagte v. G- —, vor euerm Tode soll sie euch werden," und ließ sogleich das Teilnngsexempel machen. Damit konnte die Mehrzahl freilich einverstanden sein, und die vor Todesangst fast erstarrten Gesichtszüge der gefangnen Strolche belebten sich noch einmal mit unheimlichem Leuchten, als sie ihre Finger nach dem ihnen zugewiesenen Anteil an dem „Gemein¬ gut" ausstreckten, sie wußten nnn ja, daß sie nicht ganz ohne bare Habe zum Himmel oder zur Hölle zu fahren brauchten. Der Schuhmacher im Straßengraben hatte sich unterdessen sehr beeilt, durch Herstellung der wasserdichten Stiefel sein Leben in Sicherheit zu bringen. Noch ehe die gesetzte Zeit abgelaufen war, waren die Stiefel fertig, allerdings etwas plump aussehend, aber sie hielten die Probe ans, ließen keinen Tropfen Wasser durch- Der Major v. G. zog die Stiefel sogleich an und nickte ihrem Verfertiger seine Zufriedenheit zu, worauf dieser, eingedenk des erhnltnen Versprechens, sich anschickte, eiligst die Flucht zu ergreifen. „Halt! so war das nicht gemeint," rief der Major, aber in den plumpen, hochschaftigen Stiefeln mußte er jede» Versuch, ihm nachzu¬ setzen, als vergeblich einstellen, und der Schuster wäre entwischt, hätten nicht auf den Wink des Majors einige von den umstehenden Mannschaften ihn wieder er¬ griffen und zurückgebracht. „So war das nicht gemeint, rief der Major ihm zu, als er zitternd wieder vor seinen Augen stand. Glaubt Er, daß ich, der Major v. G., mir ein Paar Stiefel bei Ihm bestellen werde, ohne die Rechnung zu be¬ zahlen? Hier, nehm Er meine Schuldigkeit mit, und werde Er lieber ein ehrlicher Schuster als ein Strauchdieb!" — Verwundert strich der Schuster den aufgezählten Arbeitslohn mit höflichem Dank ein und zog daun ungehindert vergnügt seines Weges. Diese Freilassung ihres frühern Spießgenossen weckte neue Lebenshoffnung auch in den übrigen, die noch immer von einer Sektion mit gespannten Gewehren be¬ wacht wurden. Als der Major wieder zu ihnen zurückkehrte, umfaßten sie gunde- flcheud seine Kniee. Der Major, der im Ernst wohl nie daran gedacht hatte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/682>, abgerufen am 01.09.2024.