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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Die Muttersprache in Elsaß-Lothringen

deutsch verfaßt, die Standesregister in deutscher Sprache geführt und deutsch ver¬
faßte Anträge von Privaten in derselben Sprache beantwortet werden sollten.

Wenn wir die Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Dezember 1895 zu
Grunde legen und für die Zahl der Gemeinden wie für die Bodenfläche den
Stand von 1899, so erhalten wir für die Sprachverhältnisse in der Zivil¬
bevölkerung folgendes Zahlenbild, das die heute noch bestehenden Ausnahme¬
verhältnisse darstellt, während die am 1. Dezember 1900 ermittelten Sprach¬
verhältnisse diesen Ausnahmeverhältnissen nicht mehr ganz entsprechen.

Es gehören im ganzen Reichslande vom hundert:

der Gemeinden der Zivilbevölkerung der Fläche
zum deutschen Sprachgebiete 82 90 84
zum französischen " 18 10 16

im Bezirke Lothringen allein:

zum deutschen Sprachgebiete 62 70 67
zum französischen " 38 30 33

Aus den letzten Zahlen ist deutlich erkennbar, daß das französische Sprach¬
gebiet in Lothringen in der Hauptsache durch eine große Anzahl kleinerer
schwach bevölkerter Gemeinden zusammengesetzt wird, und würden wir die
Städte Metz, Dieuze und Chateau-Salms, für die die ersten Ausnahme¬
bestimmungen bedeutend eingeschränkt worden sind, außer Rechnung lassen
oder dem deutschen Sprachgebiete zuzählen, so würden sich zwar die Prozent-
zcihlen der Gemeinden und der Fläche nur wenig ändern, dagegen sich die
Prozentzahlen der Zivilbevölkerung des Ausncchmegcbiets fast um ein Drittel
vermindern; die Zivilbevölkerung dieser drei Städte zusammen betrug am
1. Dezember 1900: 51112 Personen beider Geschlechter. Schon daraus er¬
giebt sich, daß die von der Regierung 1872 angenommene Voraussetzung, daß
in Lothringen ein rein französisches Sprachgebiet bestehe, durch jede spätere
Jndividualzählung eine Berichtigung Hütte erfahren müssen, weil besonders im
letzten Jahrzehnt eine starke deutsche Einwanderung nach Lothringen beobachtet
werden konnte, wobei wir von den Wirkungen des Schulunterrichts, der Er¬
füllung der Wehrpflicht in altdeutschen Garnisonen und von den Einflüssen
des Verkehrs überhaupt ganz absehen.

Nun ist bei der Volkszählung vom 1. Dezember 1900 auch eine Er¬
hebung über die Muttersprache der Ortsanwesenden im ganzen Deutschen Reiche
vorgenommen und auf diese Weise die Möglichkeit gewonnen worden, einen
Vergleich zwischen den Erhebungen von 1872 und von 1900, zwischen den
Ausnahmcverhültnissen und den Zählungsergebuissen zu ziehn. Bei solcher
Vergleichung sind wir aber wegen der Verschiedenartigkeit der bei diesen zwei
Erhebungen angewandten Methoden zu begreiflicher Vorsicht genötigt. Die
Erhebung von 1872 war eine Schätzung, die von 1900 eine Zühlung. Im
Jahre 1872 wurde die bei der allgemeinen Zühluug ermittelte ortscmweseude
Bevölkerung dem auf andre Weise ermittelten Sprachgebiete zugezählt, die
welschen Minderheiten des rein deutschen Sprachgebiets mußten dabei ebenso
außer Berechnung bleiben, wie die deutschen Minderheiten des rein französischen
Sprachgebiets, da für solche Unterscheidung Zahlen überhaupt fehlten. Am


Die Muttersprache in Elsaß-Lothringen

deutsch verfaßt, die Standesregister in deutscher Sprache geführt und deutsch ver¬
faßte Anträge von Privaten in derselben Sprache beantwortet werden sollten.

Wenn wir die Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Dezember 1895 zu
Grunde legen und für die Zahl der Gemeinden wie für die Bodenfläche den
Stand von 1899, so erhalten wir für die Sprachverhältnisse in der Zivil¬
bevölkerung folgendes Zahlenbild, das die heute noch bestehenden Ausnahme¬
verhältnisse darstellt, während die am 1. Dezember 1900 ermittelten Sprach¬
verhältnisse diesen Ausnahmeverhältnissen nicht mehr ganz entsprechen.

Es gehören im ganzen Reichslande vom hundert:

der Gemeinden der Zivilbevölkerung der Fläche
zum deutschen Sprachgebiete 82 90 84
zum französischen „ 18 10 16

im Bezirke Lothringen allein:

zum deutschen Sprachgebiete 62 70 67
zum französischen „ 38 30 33

Aus den letzten Zahlen ist deutlich erkennbar, daß das französische Sprach¬
gebiet in Lothringen in der Hauptsache durch eine große Anzahl kleinerer
schwach bevölkerter Gemeinden zusammengesetzt wird, und würden wir die
Städte Metz, Dieuze und Chateau-Salms, für die die ersten Ausnahme¬
bestimmungen bedeutend eingeschränkt worden sind, außer Rechnung lassen
oder dem deutschen Sprachgebiete zuzählen, so würden sich zwar die Prozent-
zcihlen der Gemeinden und der Fläche nur wenig ändern, dagegen sich die
Prozentzahlen der Zivilbevölkerung des Ausncchmegcbiets fast um ein Drittel
vermindern; die Zivilbevölkerung dieser drei Städte zusammen betrug am
1. Dezember 1900: 51112 Personen beider Geschlechter. Schon daraus er¬
giebt sich, daß die von der Regierung 1872 angenommene Voraussetzung, daß
in Lothringen ein rein französisches Sprachgebiet bestehe, durch jede spätere
Jndividualzählung eine Berichtigung Hütte erfahren müssen, weil besonders im
letzten Jahrzehnt eine starke deutsche Einwanderung nach Lothringen beobachtet
werden konnte, wobei wir von den Wirkungen des Schulunterrichts, der Er¬
füllung der Wehrpflicht in altdeutschen Garnisonen und von den Einflüssen
des Verkehrs überhaupt ganz absehen.

Nun ist bei der Volkszählung vom 1. Dezember 1900 auch eine Er¬
hebung über die Muttersprache der Ortsanwesenden im ganzen Deutschen Reiche
vorgenommen und auf diese Weise die Möglichkeit gewonnen worden, einen
Vergleich zwischen den Erhebungen von 1872 und von 1900, zwischen den
Ausnahmcverhültnissen und den Zählungsergebuissen zu ziehn. Bei solcher
Vergleichung sind wir aber wegen der Verschiedenartigkeit der bei diesen zwei
Erhebungen angewandten Methoden zu begreiflicher Vorsicht genötigt. Die
Erhebung von 1872 war eine Schätzung, die von 1900 eine Zühlung. Im
Jahre 1872 wurde die bei der allgemeinen Zühluug ermittelte ortscmweseude
Bevölkerung dem auf andre Weise ermittelten Sprachgebiete zugezählt, die
welschen Minderheiten des rein deutschen Sprachgebiets mußten dabei ebenso
außer Berechnung bleiben, wie die deutschen Minderheiten des rein französischen
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[0650] Die Muttersprache in Elsaß-Lothringen deutsch verfaßt, die Standesregister in deutscher Sprache geführt und deutsch ver¬ faßte Anträge von Privaten in derselben Sprache beantwortet werden sollten. Wenn wir die Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Dezember 1895 zu Grunde legen und für die Zahl der Gemeinden wie für die Bodenfläche den Stand von 1899, so erhalten wir für die Sprachverhältnisse in der Zivil¬ bevölkerung folgendes Zahlenbild, das die heute noch bestehenden Ausnahme¬ verhältnisse darstellt, während die am 1. Dezember 1900 ermittelten Sprach¬ verhältnisse diesen Ausnahmeverhältnissen nicht mehr ganz entsprechen. Es gehören im ganzen Reichslande vom hundert: der Gemeinden der Zivilbevölkerung der Fläche zum deutschen Sprachgebiete 82 90 84 zum französischen „ 18 10 16 im Bezirke Lothringen allein: zum deutschen Sprachgebiete 62 70 67 zum französischen „ 38 30 33 Aus den letzten Zahlen ist deutlich erkennbar, daß das französische Sprach¬ gebiet in Lothringen in der Hauptsache durch eine große Anzahl kleinerer schwach bevölkerter Gemeinden zusammengesetzt wird, und würden wir die Städte Metz, Dieuze und Chateau-Salms, für die die ersten Ausnahme¬ bestimmungen bedeutend eingeschränkt worden sind, außer Rechnung lassen oder dem deutschen Sprachgebiete zuzählen, so würden sich zwar die Prozent- zcihlen der Gemeinden und der Fläche nur wenig ändern, dagegen sich die Prozentzahlen der Zivilbevölkerung des Ausncchmegcbiets fast um ein Drittel vermindern; die Zivilbevölkerung dieser drei Städte zusammen betrug am 1. Dezember 1900: 51112 Personen beider Geschlechter. Schon daraus er¬ giebt sich, daß die von der Regierung 1872 angenommene Voraussetzung, daß in Lothringen ein rein französisches Sprachgebiet bestehe, durch jede spätere Jndividualzählung eine Berichtigung Hütte erfahren müssen, weil besonders im letzten Jahrzehnt eine starke deutsche Einwanderung nach Lothringen beobachtet werden konnte, wobei wir von den Wirkungen des Schulunterrichts, der Er¬ füllung der Wehrpflicht in altdeutschen Garnisonen und von den Einflüssen des Verkehrs überhaupt ganz absehen. Nun ist bei der Volkszählung vom 1. Dezember 1900 auch eine Er¬ hebung über die Muttersprache der Ortsanwesenden im ganzen Deutschen Reiche vorgenommen und auf diese Weise die Möglichkeit gewonnen worden, einen Vergleich zwischen den Erhebungen von 1872 und von 1900, zwischen den Ausnahmcverhültnissen und den Zählungsergebuissen zu ziehn. Bei solcher Vergleichung sind wir aber wegen der Verschiedenartigkeit der bei diesen zwei Erhebungen angewandten Methoden zu begreiflicher Vorsicht genötigt. Die Erhebung von 1872 war eine Schätzung, die von 1900 eine Zühlung. Im Jahre 1872 wurde die bei der allgemeinen Zühluug ermittelte ortscmweseude Bevölkerung dem auf andre Weise ermittelten Sprachgebiete zugezählt, die welschen Minderheiten des rein deutschen Sprachgebiets mußten dabei ebenso außer Berechnung bleiben, wie die deutschen Minderheiten des rein französischen Sprachgebiets, da für solche Unterscheidung Zahlen überhaupt fehlten. Am

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/650>, abgerufen am 01.09.2024.